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Streitfrage: Wohin steuert die Europäische Union?

Kontrovers: Leo Mayer, München (DKP) und Gerold Schwarz, attac

Die im Folgenden dokumentierte Kontroverse über die Zukunft der Europäischen Union haben wir der Tageszeitung "Neues Deutschland" entnommen. Die in den beiden Texten diskutierten Themen bleiben auch noch interessant, wenn die Wahl zum EU-Parlament vorbei sind. Der Aspekt der Militarisierung der EU ist in diesen Debattenbeiträgen weitgehend ausgespart; daher verweisen wir auf eine jüngste Stellungnahme aus der Friedensbewegung, die sich genau mit diesem Thema befasst: "EU-Parlament ohne Entscheidungskompetenz, wenn es um Krieg oder Frieden geht".



Zuchtmeister einer neoliberalen Ausrichtung

Von Leo Mayer *

Europa hat die Wahl, heißt es. Die Bürger der Europäischen Union sind davon nicht überzeugt. Nach Umfragen wird die Wahlbeteiligung am kommenden Sonntag (7. Juni) bestenfalls wieder den Negativrekord von 2004 erreichen. Damals waren EU-weit nur 45,5 Prozent der Wähler zur Wahl gegangen. Dies verweist auf ein weit verbreitetes Desinteresse. Zu diesem Desinteresse trägt die auch in linken Kreisen verbreitete Meinung bei, dass das Europäische Parlament völlig einflusslos sei. Zieht man jedoch in Betracht, dass viele der »EU-Gesetze«, die das Leben der Menschen direkt beeinflussen – »Bolkestein«-Richtlinie, Hafen-Richtlinie, Arbeitszeit-Richtlinie etc. – der Zustimmung des Europäischen Parlaments bedürfen, dann liegt auf der Hand: Das Problem liegt nicht im mangelnden Einfluss, sondern in der Zusammensetzung des Parlaments. Allerdings wird sich an dieser Zusammensetzung wohl nichts Wesentliches verändern. Die in der GUE/NGL zusammengeschlossenen kommunistischen und linken Parteien, die als Einzige für einen Bruch mit der neoliberalen Logik der EU stehen, werden aufatmen, wenn sie ihre Positionen halten können.

Die niedrige Wahlbeteiligung ist aber nicht nur auf »Desinteresse« zurückzuführen, sondern auf den tiefgehenden Frust, den viele WählerInnen gegenüber der EU-Politik empfinden. Sie glauben nicht, dass sie die Wahl über die Entwicklungsrichtung der Europäischen Union haben. Die Kluft zwischen der Politik der EU und dem Wollen und den Hoffnungen der Menschen ist zu groß, um sie noch für dieses Projekt begeistern zu können. Diese Akzeptanzkrise ist ein prägendes Moment der Europäische Union und wird in dem Maße noch weiter zunehmen, wie die Wirtschaftskrise zu wachsender Arbeitslosigkeit und Armut in Europa führt. Die Logik der Pläne der Regierungen und der Europäischen Union bedeuten, dass die arbeitenden Menschen mit ihren Arbeitsplätzen, ihrem Ersparten und ihrer Zukunft für die Krise bezahlen sollen. Dieser Frust ist der Boden, auf dem die extreme Rechte mit ihrer reaktionären EU-Kritik an Einfluss gewinnt.

Die Europäische Union steht wieder einmal an einem kritischen Punkt ihrer Entwicklung. Sozialer Zusammenhalt und »freier« Markt erweisen sich als unvereinbar. Die innere Logik der EU-Strategie führt dazu, dass die ökonomisch starken Staaten, vor allem Deutschland und Frankreich, eine dominierende Position einnehmen und den gemeinsamen »freien« Markt konterkarieren. Gerade in Krisenzeiten bürden sie die Lasten den Schwächsten auf. Und so driftet die EU immer weiter auseinander – West von Ost und Nord von Süd. Leistungsbilanzdefizite, Staatsbankrotte, Staaten im Niedergang – ihrer Souveränität beraubt und ohne Legitimation in der Bevölkerung – prägen die heutige EU.

Dreizehn von sechszehn Euro-Ländern werden die Neuverschuldungsgrenze reißen. Da erscheint es lächerlich, wenn die EU-Kommission die Einhaltung des Stabilitätspaktes anmahnt. Aber so werden bereits heute »Agenda 2015« oder »Agenda 2020« vorbereitet. Lettland, Ungarn, Rumänien haben bereits Kredite vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und vom EU-Fonds benötigt, um einen Staatsbankrott zu vermeiden. Die Bedingungen: Herunterfahren der öffentlichen Verschuldung, Erhöhung der Mehrwertsteuer, Kürzung der Gehälter der Staatsbediensteten, Abstriche bei öffentlichen Dienstleistungen, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. So werden Stabilitätspakt und Krise als Zuchtmeister für die künftige, noch straffere neoliberale Ausrichtung der EU genutzt.

Die EU scheint gelähmt durch eine Politik der Regierungen, der das Denken in nationalen Wettbewerbspakten zugrunde liegt. Die Hüterin des europäischen Binnenmarkts, Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes, hat alle Hände voll zu tun, um nationale Alleingänge einzudämmen. Jedoch entwickeln Kapital-, Waren- und Niederlassungsfreiheit sowie die gemeinsame Währung auch ihre eigene Dynamik. Die Verträge, auf denen die neoliberale Integration beruht, sind wirksam; Europäische Kommission, Europäischer Rat und Ministerrat sind handlungsfähig. Von einer Krise der EU im engeren Sinne kann also noch nicht die Rede sein. Und wenn jetzt selbst Marktradikale für »Verstaatlichung« und nationale Konjunkturprogramme eintreten, dann bedeutet das noch lange nicht eine dauerhafte Abkehr vom Neoliberalismus.

Noch mehr gilt dies für die wirtschaftlich dominierenden Kräfte. Der Einfluss der transnationalen Konzerne und Finanzgruppen ist ungebrochen. Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die den Neoliberalismus hervorgebracht haben und die Europäische Union formen, erweisen sich bisher als ausgesprochen stabil. So ist es nicht verwunderlich, dass die Kommission die alten, marktradikalen Strategien fortsetzt. Konjunkturprogramme und staatliche Beteiligungen werden nur für einen befristeten Zeitraum akzeptiert.

Zwar ist die Außenpolitik noch eine nationale Angelegenheit der Mitgliedsländer; virtuell aller EU-Länder, in Realität der Hauptmächte Frankreich, Deutschland, Großbritannien. Aber der fortschreitende ökonomische Integrationsprozess drängt zu einer gemeinsamen Außenpolitik. Die Gipfeldiplomatie zur Eindämmung der Krise des globalen Kapitalismus – G7, G20, usw. – zwingt die Regierungen der EU-Mitgliedsländer zusätzlich zu verstärkter Koordination. Die Krise beschleunigt die Verschiebung und Neuausrichtung der globalen Machtverhältnisse. Man vergleiche nur den G7/8-Gipfel im Jahr 2007 in Heiligendamm mit dem Gipfel, der im April 2009 in London stattfand. Zwar war in Heiligendamm schon klar, dass man an den Schwellenländern, allen voran China und Indien, nicht mehr vorbeikommt. Allerdings wurden diese noch am Katzentisch platziert. Welch anderes Bild knapp zwei Jahre später in London. Nun heißt die Gruppe G20 und zu den acht alten Schwergewichten und der EU haben sich wie selbstverständlich elf Schwellenländer hinzugesellt. So werden künftig selbst die Hauptmächte der EU gezwungen sein, das Gewicht der EU in die Waagschale zu werfen, wenn sie globalen Einfluss geltend machen wollen.

* Leo Mayer, Jahrgang 1949, ist stellvertretender Parteivorsitzender der DKP und deren Spitzenkandidat bei den Europawahlen diesen Sonntag. Der Informatiker war stellvertretender Betriebsratsvorsitzender bei Siemens in München und ist heute als Mitarbeiter des Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung (isw) tätig.


Aktuelle Konturen einer "Zuschauer-Demokratie"

Von Gerold Schwarz **

In Europa sind nicht erst seit der Wirtschafts- und Finanzkrise immer deutlicher die Umrisse zunehmender gesellschaftlicher Konflikte auszumachen. In Westeuropa nehmen regionale Spannungen massiv zu. Dies ist nicht nur an regional immer deutlicher auseinanderdriftenden Wahlergebnissen ablesbar, sondern insbesondere auch am zunehmenden Widerstand der begünstigten Regionen, die durch die Folgen der neoliberalen Globalisierung abgehängten Regionen zu unterstützen. Gleichzeitig sorgt die vorherrschende Konkurrenzideologie dafür, dass entgegenwirkende Kompensationsmechanismen immer weiter abgebaut werden. So verstärken sich etwa in Belgien die Spannungen zwischen dem reichen Flandern und der armen Wallonie mittlerweile bis zur realistischen Drohung der Landesteilung, in Großbritannien steht die Unabhängigkeit Schottlands auf der Agenda, in Frankreich werden einzelne Landesteile mittels »Regionalisierung« vom reichen Pariser Becken abgekoppelt, und auch hierzulande weicht das Verfassungsgebot der »Angleichung der Lebensverhältnisse« dem »Wettbewerbsföderalismus«.

Diese zunehmenden regionalen Spannungen würden sich in demokratisch gesunden Gesellschaften über Wahlprozesse und Lastenverteilung ausgleichen. Die umfassende Entdemokratisierung und Entsolidarisierung im Gefolge der Neoliberalisierung Europas erschweren jedoch solche Anpassungsprozesse erheblich. Die sozialen Spannungen nehmen dramatisch zu, ohne dass es zu Solidarisierungsschüben kommt. Die Empörung wird vielmehr aufgrund der Zunahme von Individualisierung und Konkurrenzdenken zunächst nach innen umgeleitet und als persönliches und individuelles Defizit dargestellt, um dann einerseits den idealen Nährboden für modernen Rechtspopulismus und Rassismus abzugeben oder als Rechtfertigung für zunehmende Repression und Überwachung herangezogen zu werden. Auf diesem Weg kann dann die aggressive Wucht von den bislang davon profitierenden inländischen Eliten auf den »äußeren Feind« umgeleitet werden. Dieses »Außen« befindet sich heute in Gestalt von Migranten und deren Nachfahren inmitten unserer Gesellschaften. Zunehmende Repression zur Unterdrückung sozialer Proteste und zunehmende Spannungen zwischen »ansässigen« und »zugewanderten« Bevölkerungsgruppen bilden daher den zweiten Schauplatz zukünftiger gesellschaftlicher Konflikte.

Parlamentarische Demokratie und Gewaltenteilung waren eine historische Konsequenz auf die zuvor meist gewaltsame Elitenab-lösung, welche zukünftig mittels demokratischer Wahlen gewaltfrei durchgeführt werden sollte. Nunmehr belegen sämtliche Umfragen einen dramatischen Legitimationszerfall der gegenwärtigen Eliten, die sich im öffentlichen Ansehen europaweit nur noch unwesentlich oberhalb von gewöhnlichen Verbrechern befinden. Das demokratische Drehbuch sieht an dieser Stelle eine Ablösung der abgewirtschafteten Eliten vor, allerdings sorgt das europaweite Demokratiedefizit dafür, dass Wahlen hier keine Abhilfe mehr schaffen können. Dieses Ventil wurde durch zahlreiche neoliberale Reformen geschlossen, um den Einfluss gesellschaftlicher Mehrheitsentscheidungen auf den Entscheidungsspielraum der Eliten weitestgehend auszuschließen. So können sich aufgrund verbauter Auswechselmechanismen weiterhin Eliten im Sattel halten, deren Zeit in funktionierenden Demokratien schon längst abgelaufen wäre.

Die politischen Parteien haben im Zuge des neoliberalen Gesellschaftsumbaus einen grundlegenden Wandel erfahren. Nahmen sie zuvor die Funktion eines »Transmissionsriemens« ein, der die politische Willensbildung aus der Bevölkerung in die politische Arena transportierte, so dienen sie heute vornehmlich der Rekrutierung von Verwaltungspersonal, dessen Aufgabe in der Umsetzung von Entscheidungen besteht, die außerhalb der eigentlichen politischen Sphäre getroffenen wurden. Andererseits qualifiziert eine im Interesse der wirtschaftlichen Eliten »erfolgreiche« Verwaltungstätigkeit möglicherweise zum Eintritt in den erlauchten Kreis der neuen Meister der Welt. Daneben erweckt die Funktionsänderung von Parteien den durchaus erwünschten Eindruck, es gäbe zur real praktizierten Politik »objektiv keine Alternativen«. So besitzen auch die Parteien immer stärker eingeschränkte Möglichkeiten, gesellschaftliche Konflikte »auf dem Verhandlungsweg« zu lösen oder doch wenigstens zu entschärfen.

Die Medien sind gegenwärtig weitgehend in den neoliberalen Gesellschaftsumbau integriert. Dabei spielt sicher eine Rolle, dass die Medienkonzentration mittlerweile in ganz Europa historisch beispiellos ist. Anstatt die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen anzuprangern und damit ihrer gesellschaftlichen Korrekturfunktion nachzukommen, beschleunigen die Medien die Desintegrationsprozesse weiter und wirken so nochmals konfliktverschärfend.

Durch den Siegeszug der elektronischen Medien, allen voran das Fernsehen, hat sich darüber hinaus die Funktionsweise des politischen Diskurses massiv verändert. Wurden früher in einem verschriftlichten Diskussionsraum politische Argumente ausgetauscht, so konnte darauf nach mehr oder minder reiflicher Abwägung argumentativ geantwortet und schlussendlich gesellschaftliche Kompromisse erzielt werden. Durch die Politik- und Realitätsvermittlung über elektronische Medien wurde diese Art der Konsens- oder doch zumindest Kompromissfindung durch eine »Zuschauer-Demokratie« ersetzt, die vorrangig auf Effekthascherei und Spontanbeifall abzielt. Ferner trägt diese Entwicklung zur verstärkten Monopolisierung des politischen Diskurses bei, da bei komplexer und arbeitsteiliger werdenden Gesellschaften tatsächlich ein zunehmender politischer Kommunikationsbedarf entsteht, der aufgrund des Rückzug breiter Bevölkerungsschichten in die elektromediale Dauerberieselung durch eine effektiv immer kleiner werdende Zahl von Menschen abgewickelt werden muss, deren elitärer Status im Gegenzug immer weiter ansteigt.

** Gerold Schwarz, Jahrgang 1966, war Sprecher der EU-Arbeitsgemeinschaft des globalisierungskritischen Netzwerkes Attac Deutschland. Er beschäftigt sich vor allem mit arbeitsrechtlichen Entwicklungen in Europa und ist Herausgeber der Online-Zeitschrift »Europa im Blick«.

Beide Beiträge aus: Neues Deutschland, 5. Juni 2009 ("Debatte")


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