Der Bundestag vor der Ratifizierung des EU-Reformvertrags
Friedensbewegung meldet erhebliche Bedenken an - Brief an Abgeordnete
Die Friedensbewegung ist nicht so recht in die Gänge gekommen beim Widerstand gegen den im Dezember l.J. von den Staatschefs unterzeichneten und jetzt zur Ratifizierung vorliegenden EU-Reformvertrag (Vertrag von Lissabon). Ein Grund hierfür ist sicher, dass gegen die Ratifizierung durch den Bundestag kein Kraut gewachsen ist. Außer der LINKEN wird es wohl nur Zustimmung geben.
Trotzdem bemühen sich Friedensgruppen, ihre Abgeordneten vor Ort noch einmal mit der Kritik aus der Friedensbewegung zu konfrontieren. Der im Folgenden dokumentierte Musterbrief wurde von der Tübinger IMI e.V. und anderen Organisationen entworfen.
Eine ausführlichere Argumentation zu den Militarisierungsaspekten des Reformvertrags aus friedenspolitischer Sicht finden Sie hier:
"Für eine friedensfähige EU".
Dokumentiert: (Muster-)Brief an Bundestagsabgeordnete
Sehr geehrte(r) Herr/Frau,
am 25. April entscheidet der Bundestag über den so genannten
Lissabonner Vertrag, auch EU-Reformvertrag genannt. Der Vertrag ist
undemokratisch, aus sozialer Sicht hochproblematisch und er wird die
Militarisierung der Union entscheidend weiter vorantreiben. Deshalb
möchte ich Sie hiermit bitten, gegen diesen EU-Vertrag zu stimmen oder
sich wenigstens dafür einzusetzen, dass die Öffentlichkeit an diesem
Prozess beteiligt wird.
Undemokratisch
Obwohl der EU-Verfassungsvertrag im Jahr 2005 von der französischen
und niederländischen Bevölkerung abgelehnt wurde, soll nun versucht
werden, mit dem sog. Reformvertrag (auch: "Vertrag von Lissabon")
seine wesentlichen Inhalte in kaum abgewandelter Form durch die
Hintertür zu verabschieden. Der Reformvertrag ist nichts anderes als
alter Wein in neuen Schläuchen, er ignoriert das Votum in Frankreich
und den Niederlanden und wurde erneut im stillen Kämmerlein unter
Ausschluss der europäischen Öffentlichkeit ausgehandelt. Selbst die
Bundesregierung räumt in einer Presseerklärung (7.11.2007) unumwunden
ein: "Der Begriff 'Verfassung für Europa' war nach der Ablehnung bei
den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden nicht mehr
haltbar. Das erklärte Ziel der deutschen Ratspräsidentschaft war es
aber, die Substanz der Verfassung zu erhalten. Dies konnte erreicht
werden."
Sozialpolitisch kontraproduktiv
Mit dem Lissabonner Vertrag wird eine bestimmte - und zwar die
neoliberale - Wirtschaftsform festgeschrieben, obwohl damit seit
Jahrzehnten eine Verarmung weiter Teile der Bevölkerung innerhalb der
Europäischen Union, vor allem aber in der sog. Dritten Welt
einhergeht. In Artikel 98 etwa heißt es: "Die Mitgliedstaaten und die
Union handeln im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen
Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb." Besonders perfide ist es, wenn
der Reformvertrag in Artikel 10a angibt, die Europäische Union bekenne
sich zu dem "vorrangigen Ziel, die Armut zu beseitigen", nur um im
nächsten Satz als zentrale Maßnahme hierfür folgendes zu benennen:
"die Integration aller Länder in die Weltwirtschaft zu fördern, unter
anderem auch durch den schrittweisen Abbau internationaler
Handelshemmnisse." Es ist allgemein bekannt, dass diese Maßnahmen die
weltweite Armut vergrößern, sich aber als hochprofitabel für die
europäischen Großkonzerne erwiesen haben. Gleichzeitig ist diese
Armut, wie selbst die Weltbank mittlerweile einräumt, der wichtigste
Grund für das Ausbrechen gewaltsamer Konflikte in der Dritten Welt,
die dann wiederum militärisch "befriedet" werden müssen, um den
Dampfkessel der Globalisierungskonflikte unter Kontrolle zu halten.
Militarisierung durch die Hintertür
Sämtliche bereits an der EU-Verfassung kritisierten
Militarisierungsaspekte wurden auch in den Lissabonner Vertrag
übernommen. Kernpunkte der Kritik waren und sind:
-
Weltweite EU-Kampfeinsätze mit nahezu unbegrenztem Aufgabenspektrum:
Artikel 28b, Absatz 1 benennt u.a. "gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen",
"Kampfeinsätze" und "Operationen zur Stabilisierung der Lage" sowie
"die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus
in ihrem Hoheitsgebiet" als Aufgabenspektrum künftiger EU-Kriege.
- Militäreinsätze im Inneren: In Artikel 188 wird festgeschrieben,
dass die EU "alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich
der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel"
mobilisiert, um "terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von
Mitgliedstaaten abzuwenden". Dies bedeutet nichts anderes als den
möglichen Einsatz von Militär im Inneren der EU zur Abwendung von so
genannten Terrorgefahren. Damit soll EU-vertraglich eine weitere
Militarisierung der EU-Innenpolitik ermöglicht werden.
- Vertragliche Aufrüstungsverpflichtung: Artikel 28a, Absatz 3 enthält
erneut die bis dato einmalige Verpflichtung, mehr Gelder in den
Rüstungssektor zu investieren: "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich,
ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern." Die
bereits 2004 eingerichtete EU-Rüstungsagentur soll die Einhaltung
dieser Vorschrift überwachen und im Lissabonner Vertrag
primärrechtlich verankert werden.
- Endgültige Einrichtung eines EU-eigenen Militärhaushalts: Der
bislang noch gültige Nizza-Vertrag verbietet die Aufstellung eines
EU-Militärhaushalts, was sich bislang als erheblicher Hemmschuh für
die Militarisierung der EU erwiesen hat. Deshalb wird im Lissabonner
Vertrag (Artikel 28, Absatz 3) der Europäischen Union erstmalig die
Möglichkeit eröffnet, einen als "Anschubfonds" bezeichneten EU-eigenen
Militäretat aufzustellen.
- Keine parlamentarische Kontrollmöglichkeit von EU-Militäreinsätzen:
Über EU-Militäreinsätze entscheiden allein die Staats- und
Regierungschefs der EU. Das Europäische Parlament hat im Lissabonner
Vertrag (Artikel 21) lediglich das Recht formal "angehört" und
"unterrichtet" zu werden, (mit)entscheiden darf es nicht. Da auch
vertraglich die Nichtzuständigkeit des Europäischen Gerichtshof (EUGH)
festgeschrieben wurde (Art. 240a), wird somit die Gewaltenteilung in
der entscheidenden Frage von Krieg und Frieden de facto aufgehoben.
- Kerneuropa - nur wer Krieg führt, darf mitbestimmen: EU-Mitglieder,
die sich militärisch hierfür qualifiziert haben, indem sie an den
wichtigsten Aufrüstungsprogrammen teilnehmen und Interventionstruppen
(Battle Groups) zur Verfügung stellen, können eine "Ständige
Strukturierte Zusammenarbeit" eingehen, mit der das eigentlich für den
außen- und sicherheitspolitischen Bereich geltende Konsensprinzip
ausgehebelt wird (Artikel 28e, Absatz 6). Das Einstimmigkeitsprinzip
bezieht sich "allein auf die Stimmen der Vertreter der an der
Zusammenarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten."
- Machtverschiebung zugunsten der Großmächte: Schon die EU-Verfassung
sah mit der sog. doppelten Mehrheit eine dramatische Verschiebung der
Machtverhältnisse im wichtigsten EU-Gremium, dem Rat der Staats- und
Regierungschefs, vor. Dies bedeutet für Deutschland etwa eine
Verdopplung der Stimmanteile im Rat (die anderen Gewinner sind
Frankreich, Großbritannien und Italien), während die kleinen und
mittleren EU-Länder deutlich an Einfluss verlieren. Mit dem
Reformvertrag (Artikel 9c) wird diese dramatische Machtverschiebung im
Jahr 2014 als gängige Praxis eingeführt.
Ich hoffe, Sie teilen meine Auffassung, dass die hier genannten
Aspekte des Lissabonner Vertrages einer Europäischen Union, die sich
für sozialen Ausgleich und eine friedliche Welt einsetzt, abträglich
sind und werden sich bei der anstehenden Abstimmung dementsprechend
verhalten. Also stimmen Sie bitte gegen die Ratifizierung des
Lissabonner Vertrages.
Mit freundlichen Grüßen
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