Wenn eine Friedensinitiative an die Koalitionsparteien einen Brief schreibt ...
... dann darf man auf die Antwort gespannt sein - oder gar keine erwarten
Im Folgenden dokumentieren wir einen offenen Brief des "Frankfurter Bündnisses gegen den Krieg" an die beiden Regierungsparteien SPD und Grüne. Anlass ist der bevorstehende Europawahltermin. Die Wahlplakate der Parteien versprechen eine europäische "Friedensmacht", die Programme verschweigen verschämt die im Verfassungsentwurf und in der Europäischen Sicherheitsstrategie vorgesehene Aufrüstung der Europäischen Union. Die Frankfurter Friedensaktivisten werden auf ihren kritischen und teilweise sarkastischen Brief wohl keine Antwort erhalten - vielleicht erwarten sie auch keine. Aber auch ohne Antwort ist der Brief wegen seiner ausführlichen Argumentation und treffsicheren Ironie und Polemik lesenswert.
Frankfurter Bündnis gegen den Krieg
Offener Brief an SPD und GRÜNE zum laufenden Europawahlkampf
"Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei"
George Orwell, 1984
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Wahlen für das Europaparlament stehen vor der Tür.
Man/frau merkt es an einer mehr oder weniger aufdringlichen Veränderung
des Straßenbildes.
Optimistisch dreinblickende Männer und Frauen werben mit ihrem
übermenschgroßen Konterfei dafür, von den WählerInnen ins Europaparlament
entsandt zu werden - als künftige "Vorderfrau" zB.
Oder einfach mit einem Namen, als ob der ein Argument wäre.
Oder mit dem Satz "Europa macht man nicht mit links" - was, ernstgenommen,
ja wohl bedeuten soll, alle Linken sollten sich schon mal einen Exilort in
einem anderen Kontinent suchen.
Aber so ernst ist das alles nicht gemeint, wie wir mündigen BürgerInnen ja
inzwischen wissen.
Andererseits: wir dürfen voraussetzen, daß Sie, genausowenig wie wir, dem
alten Sponti-Spruch anhängen, der besagte: "Wahlen ändern nichts, sonst
wären sie verboten."
Wir setzen also voraus, Sie nehmen ihre eigene Wahlwerbung so ernst wie wir.
Und deshalb schreiben wir Ihnen.
"FRIEDENSMACHT EUROPA. SPD" schreit uns zB. Ihr Plakat an.
Oder es wird auf grünem Grunde und mit einem irgendwie an die
Benutzeroberfläche eines noch unbekannten PC-Betriebssystems erinnernden und
bestimmt sehr teueren Schriftdesign das Bild einer
Anti-Irak-Kriegsdemonstration-Foto-Kollage der vertrauliche Hinweis
verbunden: "Du entscheidest!" - kombiniert mit der Aufforderung, Ihren
KandidatInnen unsere Stimmen zu geben.
Das fällt uns schwer. Denn unser Gedächtnis ist nicht so kurz, wie es dafür notwendig wäre.
Bundesverteidigungsminister Rudolf "Ballermann" Scharping bemüht 1999 den
Begriff der "Selektion" ("...und ich sage bewußt: Selektion!") als
Begründung für den NATO-Angriff auf Jugoslawien. In einer legendären
Pressekonferenz wedelt er mit einem Blatt Papier und tut so, als befinde
sich auf diesem der sogenannte "Hufeisenplan", von dem er später behauptet,
den gebe es aber gar nicht in schriftlicher Form. Und wirklich: bis heute
hat ihn niemand gesehen.
Bundesaußenminister Josef Fischer bezeichnet schamlos die NATO-Agression
gegen Jugoslawien in derselben Zeit als Fortführung des bewaffneten
antifaschistischen Widerstands. Die NATO als historische Verlängerung der
Interbrigaden, der Roten Kapelle und der Résistance also.
Im Jahre 2002 und 2003 waren Sie geschickter. Es gelang mit kräftigen verbalen und diplomatischen Attacken auf den Kriegskurs der USA und der "Koalition der Willigen" deutlich zu machen, daß die "uneingeschränkte Solidarität mit den USA" denn doch nicht einfach alles
abdeckt. Das führte zu einer wenn auch knapp gewonnen Bundestagswahl.
Herzlichen Glückwunsch!
Es führte aber leider, als der Krieg dann begann, nicht dazu:
-
die Fuchspanzer aus der Kriegsregion abzuziehen
-
zu verhindern, daß während des Krieges B-52 Bomber über deutsches
Territorium ihre Bomben und Marschfugkörper ins Zielgebiet im Irak fliegen
durften
-
zu verweigern, daß Einheiten der Bundeswehr Funktionen von in den
Irak abgezogenen US-Truppen übernahmen
-
die Rhein-Main-Airbase für Kriegseinsätze zu schließen.
Die Bundesrepublik Deutschland war und ist seit über einem Jahr logistisch
und finanziell Kriegsteilnehmer. Das ist eine einfache Tatsache, die für die Kriegsopfer viel mehr besagt, als alles kriegskritische Wortgeklingel der Bundesregierung.
Eine aktuelle Konsequenz genau daraus ist übrigens, daß eine der
US-Folterbrigaden, die sich gerade in irakischen Gefängnissen auf höchsten
Geheiß hin austobt, direkt von unserer Region aus in ihren Terror-Auftrag
begeben hat: die 205. Military Intelligence Brigade aus Wiesbaden-Erbenheim.
Uns ist nicht bekannt, daß Sie öffentlich gefordert hätten, diese Einheit
unverzüglich aus der Bundesrepublik abzuziehen.
Das ist konsequent.
Vielmehr hat unser Bundesaußenjoschka bei seinem jüngsten Besuch in
Washington zwar viel kritische Worte und ein sehr besorgtes Gesicht zu
Protokoll gegeben, zugleich aber die fällige Ergebenheitsadresse
abgeliefert, derzufolge es keine Alternative zur Führungsrolle der USA gebe,
und zwar gleich im ganzen 21. Jahrhundert, welches ja auch immerhin schon
vier Jahre alt ist. TINA!
Wir erinnern uns auch an jenen sprichwörtlich gewordenen Satz von Scharpings
Amtsnachfolger, der ihm überall den Namen Bundeshindukuschminister eingetragen
hat.
Wir erinnern uns an die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien vom
Beginn diesen Jahres, aus denen sich klar ergibt: Endlich wieder Normalität:
Einsatzgebiet der Bundeswehr ist künftig die ganze Welt!
Und wir haben nicht vergessen, was das politische Lebenswerk von Daniel
Cohn-Bendit und Josef Fischer krönt: der "Vertrag über eine Verfassung für Europa".
Dort lesen wir unter Artikel I - 40 die folgenden Sätze:
(1) "Die gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik ist integraler
Bestandteil der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik".
Immerhin! Man atmet erleichtert auf. Welch tiefsinniger Satz von
durchschlagender Logik! Und welch gelungener Stil - diese kreuzförmige
sprachliche Aufspreizung "Sicherheits- und Außenpolitik - Außen- und
Sicherheitspolitik"! Ein sublimer sprachlicher Genuß noch im trockensten
Verfassungsentwurf! Das wird der Sache voll gerecht. Cool!
Dann aber wird es ernst:
(3) "... Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre
militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Es wird ein
Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und Militärische Fähigkeiten
eingerichtet, dessen Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und
Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern (sic!), zur Ermittlung von Maßnahmen
zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des
Verteidigunssektors beizutragen ..."
und so weiter und so fort.
Es wäre ehrlicher gewesen, diese neue Euro-Behörde gleich als "Amt für den
Europäischen Militärisch-Industriellen Komplex" oder auch kurz als
Europäische Aufrüstungsbehörde zu bezeichnen. Das nämlich ist gemeint.
Wie es angesichts einer solchen Festschreibung von Aufrüstung als
Verfassungsziel künftig politisch möglich sein soll, Abrüstung durchzusetzen
- okay, das ist zu komplex, als daß man es auf Wahlplakate schreiben könnte.
Sehen wir ein. Da haben Sie ein kleines Kommunikationsproblem.
Tipp: Falls die Europawahlen nicht so ganz nach Wunsch für Sie verlaufen
sollten: immer auf diese enorme Komplexität der Frage verweisen, die den
Leuten irgendwie nicht so schnell klar zu machen war. Sie kennen das ja:
unsere Positionen sind richtig, aber es ist uns nicht gelungen, sie richtig
rüberzubringen. Kommt ja nach jeder Wahl von allen Seiten.
Wir verstehen Sie trotzdem. Wenn Sie für Aufrüstung als Verfassungsziel eintreten, meinen Sie das sicher im Sinn des berühmten lateinischen Sprichworts: Willst Du den Frieden, dann
rüste für den Krieg. Kommt uns irgendwie bekannt vor.
Aber wir erinnern uns daran, daß auch Sie das mal für falsch hielten.
Jedenfalls teilweise. Damals, als DIE GRÜNEN enstanden, zum Beispiel. Oder
als Willy Brandt vor einer riesigen Demontration gegen die
NATO-"Nachrüstung" sprach, die, das fällt uns sofort aber auch wieder ein,
gleichzeitig von Helmut Schmidt durchgesetzt wurde. Die SPD hat in dieser
Art Politik schon länger Übung. Bei ihr ist die oben bewunderte sprachliche
Wortspreizung im Euro-Verfassungsentwurf zugleich praktisch-politische
Kompetenz geworden. Bei ihrer Wahlwerbung sieht man dies ja auch in anderen
Politikfeldern aktuell sehr schön: Gegen Lohndumping! Für ein soziales
Europa! - und darum Ich-AGs, Minijobs, Rentenbesteuerung, Zahnersatz- und
Brillenkosten- Kürzung oder gar -streichung, und als Sahnehäubchen die
Hartz-Gesetze von I - IV. (Ist klar, Ihnen von den GRÜNEN geht das nicht
weit genug. Da sind Sie unterm Strich einer Meinung mit FDP und CDU.)
Nebenbei: machen wir ein Gedankenexperiment.
Was wäre geschehen, wenn haargenau dieselbe Aufrüstungs-, Kriegs- und
Sozialdemontagepolitik nicht von SPD und GRÜNEN, sondern von einer FDP/CDU -
Regierung durchgesetzt worden wäre? Was wären Ihre Kommentare dazu gewesen?
Aber so ist es ja nicht. Sondern:
Sie beide dokumentieren durch ihre Politik und ihre Werbung:
Aufrüstung dient der Verteidigung. Und sie führt zum Frieden. Bis zum
Hindukusch. Und unter Führung der USA, die für dieses ganze Jahrhundert nicht
hinterfragt werden darf. Folter muß dafür nicht unbedingt sein. Aber das sind ja auch die anderen. Auch, wenn Sie aus der Bundesrepublik kommend dafür eingesetzt werden.
Krieg ist Frieden - Freiheit ist Sklaverei. Basta.
Das Frankfurter Bündnis gegen den Krieg hat weder Geld noch Zeit für den
Wahlkampf. Aber Ihren beiden Parteien sollte niemand die Stimme geben, der heute und
künftig Krieg als Krieg bezeichnet und Frieden als Frieden. Und der Meinung
ist, daß Frieden durch Ab- und nicht durch Aufrüstung zu erreichen ist.
Und sich daran erinnert, wie Rüstung schon im Frieden mordet - mordet im
Sinne von Jean Zieglers Satz über den Hungertod von täglich Zehntausenden
Menschen heute. Denen hat das oben genannte "Europäische Amt für Rüstung
Forschung und militärische Fähigkeiten" gerade noch gefehlt.
Mit entschieden friedlichen Grüßen,
Frankfurter Bündnis gegen den Krieg
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