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Die bösen Folgen des Embargos

"Völkermord im Irak"

Nach Angaben des irakischen Gesundheitsministeriums in Bagdad wurden allein im Mai diesen Jahres etwa 8 000 Menschen durch die Folgen der internationalen Sanktionen getötet. Demnach starben allein mehr als 5 500 Kinder an Durchfallerkrankungen, Atemproblemen und Unterernährung. Eine Meldung, die, obwohl von niemandem bezweifelt, in den Randspalten der Zeitungen oder als Kurzbericht in den Nachrichtensendungen Eingang fand, wenn überhaupt.

Nach dem Einmarsch irakischer Truppen in das Ölscheichtum Kuwait in der Nacht zum 2. August 1990 ist das Zweistromland von der »internationalen Gemeinschaft« mit den schärfsten Sanktionen konfrontiert, die je gegen einen Staat verhängt wurden. Was am 6. August vor zehn Jahren vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Resolution 661 beschlossen wurde, war damals die Antwort auf einen historisch-politisch vielleicht nachvollziehbaren, völkerrechtlich aber klar zu verurteilenden Schritt Bagdads: Die Annexion des kleinen Emirats Kuwait, die mit dem kurzen, ebenfalls völkerrechtswidrigen Golfkrieg ein halbes Jahr später wieder rückgängig gemacht wurde. Heute ist es einzig die anglo-amerikanische Blockade im Sicherheitsrat, die dem Völkermord im Irak kein Ende weist.

Mehr als 1,4 Millionen Menschen ließen nach irakischen Angaben als Blockadeopfer in den letzten zehn Jahren ihr Leben, darunter mehr als 500 000 Kinder unter fünf Jahren. Eine Zahl, die auch vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) bestätigt wird. Noch wesentlich mehr Kinder bleiben auf Dauer körperlich in ihrer Entwicklung zurück oder behalten chronische Schäden. Das Embargo gegen den Irak ist »keine Außenpolitik - es ist sanktionierter Massenmord«, schrieben die US-Wissenschaftler Noam Chomsky und Edward Said im vergangenen Jahr - und die ganze Welt schaut bei diesem Massenmord zu.

250 Menschen sterben täglich im Irak laut UNICEF weiterhin an den Folgen der Blockade - Tag für Tag zehn Schulklassen, seit zehn Jahren. Die Kindersterblichkeitsrate hat sich seit 1990 versechsfacht. Ein Drittel der irakischen Kinder leidet an Unterernährung und Untergewicht. Laut UNICEF konnten im Schuljahr 1997/98 eine Million irakische Kinder aus wirtschaftlichen Gründen gar nicht zur Schule gehen, weitere 200 000 mußten ihre Ausbildung unterbrechen. Eine »verlorene Generation« nennt der ehemalige Leiter des UN-Hilfsprogramms für Irak, Hans von Sponeck, die Kinder im Zweistromland. Die Analphabetenrate ist in den letzten zehn Jahren von zehn auf 44 Prozent gestiegen. »Wir werden ihnen niemals zurückgeben können, was sie in diesen Jahren verloren haben.« Auch das vor vier Jahren ins Leben gerufene UN- Programm »Öl für Lebensmittel« ändert an den miserablen Bedingungen nichts, so von Sponeck.

Der deutsche Diplomat legte im Februar aus Protest gegen die unnachgiebige Blockadepolitik sein Amt nieder. Mit ihm verließ die Irak-Verantwortliche des Welternährungsprogramms (WFP), die deutsche Diplomatin Jutta Burghardt, ihren Arbeitsplatz in Bagdad. Was sollen humanitäre Helfer auch anderes tun, wenn ihnen die humanitäre Hilfe durch ein barbarisches Sanktionsregime verwehrt wird? Die beiden wollten nicht länger Feigenblatt einer längst weltweit umstrittenen Totalblockade sein. Von Sponeck, der von einer »echten humanitären Tragödie« im Irak spricht, war bereits der zweite Leiter des humanitären UN-Programms, der aus Protest gegen das Embargo zurücktrat. Auch sein Vorgänger, der irische Diplomat Denis Halliday, hatte die Sanktionspolitik einer vernichtenden Kritik unterzogen, weil sie unschuldige Menschen tötet. Und Doktor Hannush vom UN- Welternährungsprogramm erklärte letztes Jahr nach einem Besuch im Irak, die Zahl der Sanktionstoten dort sei das »stille Äquivalent zu zehn Hiroshima-Bomben«.

Der Irak in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts ist Objekt eines einmaligen internationalen Experiments mit offenem Ausgang, wie Gudrun Harrer im Wiener »Standard« nüchtern schrieb. »Was passiert, wenn man ein Land mittels internationaler Sanktionen jahrelang international völlig isoliert, politisch, wirtschaftlich, kulturell, einfach in allem, um es zu einem braven Mitglied der Staatengemeinschaft zu machen. Umso interessanter bei einem bereits relativ entwickelten Land (also nicht vergleichbar etwa mit Nordkorea) mit einer teilweise modernen säkularen städtischen Gesellschaft, einer vergleichsweise sensationellen medizinischen Versorgung, einem für die Region vorbildhaften Bildungssystem und hohen technichen Standards.«

Tatsächlich ist ein zuvor recht hoch entwickeltes Land, das die Grundversorgung der Bevölkerung in allen wesentlichen Bereichen sichern konnte, an der Schwelle zum neuen Jahrtausend in hohem Maße von Hilfslieferungen abhängig, zumal auch die Landwirtschaft durch Krieg und Embargo stark beeinträchtigt ist. Die Bewässerungssysteme im Irak sind zusammengebrochen, die Anlagen wurden durch gezielte Bombenangriffe zerstört oder sind wegen fehlender Ersatzteile und Energie außer Betrieb. Die Tierzucht ist durch eine unkontrollierbare Ausbreitung von Krankheiten wie der Maul- und Klauenseuche schwer geschädigt. Die Anlagen des Labors, das zuvor die notwendigen Impfstoffe herstellte, wurden von der UN-Abrüstungskommission UNSCOM zerstört. Die Produktion in der übrigen Landwirtschaft leidet unter dem Mangel an Dünger, Herbiziden und Pestiziden, da auch in diesem Bereich die chemischen Anlagen zur eigenen Herstellung zerstört wurden und der Import unter das Embargo fällt. Mit jedem Monat verfällt die Infrastruktur wegen fehlender Ersatzteile immer weiter. Selbst bei einem sofortigen Ende der Blockade dürfte das Land Jahrzehnte benötigen, um sich von den zugefügten Schäden zu erholen.

Praktisch unbemerkt von den hiesigen Medien hat das italienische Parlament bereits im Juni mit 302 zu 95 Stimmen für die Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak gestimmt. Bis zum Jahresende soll zudem die Regierung in Rom dafür sorgen, die italienische Botschaft in Bagdad wieder zu eröffnen. Ähnliche Initiativen seitens der rot-grünen Regierung etwa, die sich anderenorts einer energischen Menschenrechtspolitik verschrieben hat, gibt es bis dato nicht.

Die Bundesregierung wäre gut beraten, wenn sie sich in den Vereinten Nationen für die Aufhebung der Sanktionen, die die irakische Bevölkerung als Geisel nähmen, einsetzen würde, erklärte in dieser Woche der CDU-Außenpolitiker Karl Lamers. Auch sein FDP-Kollege Werner Hoyer fordert eine ernsthafte Debatte über ein Ende des Embargos. Im Auswärtigen Amt, dem Hause des Grünen-Politikers Joseph Fischer, beruft man sich demgegenüber darauf, keine »Pole-Position« im Sicherheitsrat zu haben und mithin nichts an der gegenwärtigen Situation ändern zu können - so schwierig sie auch sei. Gottlob sind die neuen deutschen Menschenrechtskämpfer nicht in dem Dilemma, auch noch direkt an dem täglichen britisch-amerikanischen Luftterror über Irak teilnehmen zu müssen. Dessen tödliche Folgen finden immerhin gelegentlich Eingang in die internationale Presse. Doch auch wenn Deutschland im Unterschied etwa zu London und Washington nicht ständig im UN- Sicherheitsrat vertreten ist und auch nicht über das Machtmittel eines Vetos dort verfügt, zumindest in der stillschweigenden Tolerierung und Unterstützung des massenhaften Sanktionsmordes macht sich die Regierung in Berlin schuldig. Es wäre ein Leichtes, die Blockade, die selbst Bleistifte für Schulkinder mit einschließt, zu durchbrechen. Vorausgesetzt, man hat den politischen Willen, dem stillen Genozid im Irak ein Ende zu setzen.

Rüdiger Göbel
Aus: junge welt, 5. August 2000

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