Unter dem Titel "Desinformation kritisiert" berichtete die junge welt am 1. März 2001 von einer Diskussion im Auswärtigen Ausschuss des Europäischen Parlaments Ende Februar. Wir dokumentieren den Bericht und weisen auf den Aufruf von Völkerrechtlern und Friedensbewegung zur Beendigung des Embargos hin.
Während in New York nach zweijähriger Pause UNO- Generalsekretär Kofi Annan und der irakische Außenminister Mohammed Said el Sahhaf zusammentrafen, um über die Bedingungen für die Aufhebung der UNO-Sanktionen zu verhandeln, fand im Europaparlament in Brüssel zu Wochenbeginn eine öffentliche Anhörung des Auswärtigen Ausschusses zum Irak statt. Gleich zu Beginn kritisierten mehrere Abgeordnete die Unausgewogenheit des Panels hinsichtlich der Redner aus dem Irak. Zwar hatte man Vertreter der irakischen Opposition eingeladen, vor dem Ausschuß zu sprechen, man habe es aber versäumt, so ein Kritiker, auch einen Vertreter des irakischen Parlaments einzuladen. Der Vorschlag, man solle dem im Publikum sitzenden irakischen Botschafter das Wort erteilen, wurde vom Ausschußvorsitzenden Elmar Brock (CDU) jedoch zurückgewiesen.
»Dramatisch« nannte eingangs Dr. Wilfried Kreisel, Direktor des EU-Büros der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Auswirkungen der Sanktionen im Irak. Bis 1990 lag das Pro-Kopf-Einkommen im Irak bei 2 800 US-Dollar, der Irak gehörte demnach zu den Staaten mit einem mittleren Durchschnittseinkommen. Dank großzügiger Investitionen der irakischen Regierung in den sechziger und siebziger Jahren wurde ein effizientes Gesundheitssystem aufgebaut, das, so Kreisel, zu den besten im Mittleren Osten zählte. Außerdem hatte fast die gesamte Bevölkerung Zugang zu sauberem Trinkwasser und Elektrizität.
Der Golfkrieg vor zehn Jahren habe die Lage jedoch dramatisch verschlechtert, so Dr. Kreisel. Darauf habe der Repräsentant des UNO-Generalsekretärs bereits im Juli 1991 hingewiesen. Fünf Jahre später hatten sich die Bedingungen so sehr verschlechtert, daß der UNO-Sicherheitsrat im Mai 1996 mit der Resolution 986 das »Öl-für-Lebensmittel«-Programm begann. Es ermöglicht Irak, eine begrenzte Menge Öl zu verkaufen, um Lebensmittel und Medikamente zu importieren. Die Lebensbedingungen für die Bevölkerung blieben aber weiter unterhalb des erreichten Standes von 1990 zurück. Vor allem im Zentrum und im Süden des Iraks blieb die Versorgung unzureichend. Mitte letzen Jahres stellte die WHO fest, daß 800 000 Kinder unter fünf Jahren chronisch unterernährt seien. Die Kindersterblichkeitsrate habe sich einer UNICEF-Studie aus dem Jahr 1999 zufolge mehr als verdoppelt, Krankheiten wie Malaria, Typhus und Tuberkulose würden sich immer weiter verbreiten. Haupttodesursache im Irak sei mittlerweile die Verschmutzung des Trinkwassers, so Dr. Kreisel. Chlor, das zur Aufbereitung des Trinkwassers gebraucht wird, darf vom Irak wegen der möglichen Verwendung als chemischer Kampfstoff nicht eingeführt werden.
Mohammed Mohammed Ali, Vertreter des Irakischen Nationalkongresses, der Opposition im Exil, räumte in Brüssel zwar ein, daß die Bevölkerung des Irak unter den Sanktionen leide, eine bedingungslose Aufhebung des Embargos, wie von Bagdad dieser Tage gefordert, hielt er aber für kontraproduktiv. Irak, so glaubt er, würde fünf Jahre nach Aufhebung der Sanktionen im Besitz einer Atombombe sein. Amin Bakhtiar, Direktor der eher unbekannten »Allianz für Menschenrechte«, gab sich völkerrechtsnihilistisch. Da Saddam Hussein die »Quelle des Bösen« sei, werde das irakische Volk solange leiden, wie er an der Macht sei. Man solle nicht nur die - völkerrechtswidrigen - Flugverbotszonen im Norden und Süden des Irak beibehalten, sondern außerdem »Fahrverbotszonen« einrichten. Für die kurdischen Gebiete forderte Bakhtiar den Einsatz von »Friedenstruppen«.
Zu den international renommiertesten Kritikern der UNO- Sanktionen gehört Hans von Sponeck. Er war von September 1998 bis März 2000 Leiter des UN-Programms »Öl für Lebensmittel«. Von Sponeck, einer der ersten Kriegsdienstverweigerer der BRD, zog sich schon bald nach seinem Amtsantritt in Bagdad den Zorn der Regierungen in Washington und London zu, da seine Mitarbeiter immer wieder das Leiden der Menschen und die Folgen der anhaltenden alliierten Bombenangriffe fotografisch dokumentierten und an den Sicherheitsrat sandten. Vor einem Jahr trat er aus Protest gegen die Sanktionen von seinem Amt zurück.
Die Berichterstattung zum Irak, so von Sponeck in Brüssel, sei eine »organisierte Desinformationskampagne«. Vor allem Briten und Amerikaner würden die Berichte der Vereinten Nationen über die Auswirkungen des Embargos regelmäßig ignorieren und gleichzeitig Anschuldigungen verbreiten, die nicht den Tatsachen entsprechen. So sei das UN-Programm »Öl für Lebensmittel« vollkommen unzureichend. Von Sponeck widersprach auch der Behauptung, Lebensmittel und Medikamente würden von der irakischen Regierung gehortet. Die monatlichen Berichte der Vereinten Nationen würden belegen, daß die Hilfen zu über 90 Prozent tatsächlich bei der Bevölkerung ankommen.
Marc Bossuyt, Professor für Internationales Recht an der Universität Antwerpen, verwies in der Anhörung in Brüssel auf seinen Bericht über die negativen Auswirkungen von Wirtschaftssanktionen auf Menschenrechte, den er für den UNO-Menschenrechtsausschuß verfaßt hatte. Danach sei die Zivilbevölkerung regelmäßig am stärksten von Sanktionen betroffen. Bossuyt zog die völkerrechtliche Legitimation des Embargos in Zweifel. Heute würden die Sanktionen im UNO- Sicherheitsrat keine Mehrheit mehr finden. Sowohl die Mehrheit der einfachen Mitglieder als auch drei von fünf ständigen Mitgliedern des Rates, China, Rußland und Frankreich, seien mittlerweile für ein Ende des Embargos.
Für eine sofortige Aufhebung der Sanktionen sprach sich auch der Präsident von Caritas-Europa, Denis Vienot, aus. Er forderte eine realistische Sicht der Dinge. Die amerikanische Regierung werde einer schnellen Aufhebung der Sanktionen nicht zustimmen, da sie diese als eine politische Waffe zur Isolierung des irakischen Regimes einsetze. Öl sei der »Schlüssel zum Verständnis der Verhältnisse im Irak«, so Vienot weiter. Daß der Irak die zweitgrößte Ölreserve der Welt besitzt, käme in den Erklärungen der verantwortlichen Politiker und in den Analysen immer zu kurz. Da Caritas- Europa mit einer Partnerorganisation in allen Teilen des Zweistromlandes aktiv ist, konnte Vienot anhand vieler Einzelbeispiele veranschaulichen, daß »die irakische Bevölkerung am Ende« ist. Der Irak, ein ehemals reiches Land, werde durch das Embargo »rück-entwickelt«, was mit der Charta der Vereinten Nationen nicht zu vereinbaren wäre.
Nur durch einen »Sturz Saddam Husseins«, so hingegen Rend Rahim-Francke, Direktorin einer »Irak-Gesellschaft«, könne es im Irak zu Veränderungen kommen. Zwar sollte das »Öl-für-Lebensmittel«-Programm der UNO zu einem »Öl-für- Wiederaufbau«-Programm ausgeweitet werden, die irakische Regierung sollte aber verstärkt isoliert werden. Jacques Beltran vom renommierten Französischen Institut für Internationale Beziehungen (IFRI) erwiderte, daß der Sturz der irakischen Regierung in keiner UNO-Resolution gefordert wird. Auch die Bombardierungen hielt er - ganz im Sinne seiner Regierung - für kontraproduktiv. Angesichts des Auseinanderbrechens der Golfkriegsallianz sprach er sich für die Einführung von »intelligenten Sanktionen« aus. Solche »smart sanctions« hatte auch US-Außenminister Colin Powell am Dienstag im Hauptquartier der NATO in Brüssel gefordert. Hans von Sponeck hingegen lehnte auf Nachfrage jegliche Form von Sanktionen gegen den Irak ab, da sie zum jetzigen Zeitpunkt kontraproduktiv wären.
Bei der Expertenbefragung merkte ein Europaparlamentarier an, daß die Befürworter der Sanktionen im Gegensatz zu den Kritikern kaum Belege zur Untermauerung ihrer Ausführungen vorgebracht hätten. Außerdem seien ihm Organisationen wie die »Allianz für Menschenrechte« unbekannt. Seine Frage, wie sich die Irak- Stiftung und der Irakische Nationalkongreß finanzieren, wurde leider trotz Nachfrage nicht beantwortet.
Oliver Wagner, Brüssel