Friedensbewegung: Bundesregierung soll Weißbuch zurückziehen
Bundeswehr soll Interventionsarmee werden – Frieden und Demokratie in höchster Gefahr. Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag
- Weißbuch zurückziehen!
Umrüstung der Bundeswehr zur globalen Kriegführungsfähigkeit
- "Präventives Handeln" mit Waffengewalt
- Waffen für die Eingreiftruppen
- Bundeswehr gegen Bedrohungen aller Art
- Elementares Interesse: Rohstoffe sichern in aller Welt
- Lippenbekenntnis Abrüstung
- Öffentliche Debatte nicht erwünscht
- Bundeswehreinsatz auch im Inneren
Kassel/Hamburg, 25. Oktober 2006 - Anlässlich der Verabschiedung eines
neuen Bundeswehrweißbuches durch die Bundesregierung am 25. Oktober
2006 stellen die Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Lühr
Henken (Hamburg) Peter Strutynski (Kassel) und fest:
Mit dem
Weißbuch (externer Link, pdf-Datei) legt die große Koalition ein wegweisendes Dokument
ihrer militärischen Orientierung für die nächsten Jahre vor.
Wir bemängeln das Fehlen einer umfassenden öffentlichen Debatte. Die
Debatte innerhalb der Koalition und in einigen Medien hat sich fast
ausschließlich auf den Bundeswehreinsatz im Innern konzentriert und wird
der außenpolitischen Tragweite dieses Dokuments in keiner Weise gerecht.
Wir plädieren entschieden dafür, das Weißbuch zurückzuziehen, um eine
breite und ernsthafte gesellschaftliche Debatte über die geplante
intensive und extensive Ausweitung deutscher Militäreinsätze im
multilateralen Rahmen zu ermöglichen. Das Weißbuch legt zukünftige
Entwicklungen fest, ohne auch nur ansatzweise die durch den
Militärinterventionismus verursachten Verbrechen und kostspieligen
Misserfolge in Betracht zu ziehen.
Bundeswehr wird zur globalen Kriegführungsfähigkeit umgerüstet
Zentraler Inhalt des Weißbuchs ist die Umrüstung der Bundeswehr zur
weltweiten Kriegführungsfähigkeit. Die Bundeswehr soll technologisch
über die Schaffung einer "Vernetzten Operationsführung" mit den USA
verkoppelt werden (S. 92f). Grundlage hierfür bildet das NATO-System
"Alliance Ground Surveillance (AGS)" (S. 99). Mittels Unbemannter
Flugkörper und einer Computerisierung der Kriegsführung (à la Irakkrieg)
soll der Bundeswehr der Schulterschluss mit der US-Militärtechnologie
innerhalb der NATO ermöglicht werden. Ziel ist die Beschleunigung der
Entscheidungsfindung, um auf dem Gefechtsfeld den entscheidenden Vorteil
zu erlangen. Frei nach dem trügerischen Motto: Die technologische
Überlegenheit garantiert den Sieg. Das Desaster dieses Konzepts lässt
sich täglich im Irak und in Afghanistan studieren. Krieg ist selbst
Terror und erzeugt neuen Terror!
Die militarisierte EU soll über das Berlin-Plus-Abkommen auch auf diese
Technologie zugreifen können. Im Vordergrund steht für die große
Koalition jedoch eindeutig die NATO. Wegweisend für die Globalstrategie
der große Koalition ist das Bestreben, eine "strategische Partnerschaft
von NATO und EU" zu etablieren (S. 49). Der Völkerrechtsbruch des
NATO-Krieges gegen Jugoslawien 1999 wird ebenso wenig thematisiert wie
die flagrante Verletzung der UN-Charta durch den US-geführten Irakkrieg
2003. Stattdessen wird die Aussage der Europäischen Sicherheitsstrategie
hervorgehoben, dass "die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland
liegen" müsse und Sicherheitsvorsorge am wirksamsten durch
"präventives Handeln" gewährleistet werde, wobei "das gesamte
sicherheitspolitische Instrumentarium" einbezogen werden müsse. In
dieser Art von "Prävention" ist Waffengewalt ausdrücklich
eingeschlossen. Folglich setzt sich das Weißbuch dafür ein, das strikte
Gewaltverbot der UN-Charta auszuhebeln, indem es einer angeblichen
allgemeinen Schutzverantwortung ("responsibility to protect") das Wort
redet (S. 52). Wir warnen eindringlich davor, dem
Militärinterventionismus die Legitimation dadurch erteilen zu wollen,
dass man das in der UN-Charta festgeschriebene Gewaltverbot aushöhlen
will. Dies öffnet der Kriegführung – mit welchen echten oder
vorgeschobenen Gründen auch immer – Tür und Tor.
Neue Waffen für die Eingreiftruppen
Die Bundeswehr soll bis 2010 mit sogenannten Eingreif-, Stabilisierungs-
und Unterstützungskräften, denen jeweils Einheiten aus Heer, Luftwaffe
und Marine angehören, eine komplett neue Struktur bekommen. Die 35.000
Soldaten der "Eingreifkräfte" unterliegen der "Vernetzten
Operationsführung" und werden den Schnellen Eingreiftruppen der NATO
(NRF) und denen der EU – inklusive ihrer Speerspitze, den Battlegroups -
zur Verfügung gestellt. Sie sind für den Kriegseinsatz vorgesehen. Mit
Marschflugkörpern auf neuartigen Korvetten, die Bestandteil der
"Eingreifkräfte" sind, erhält die Bundeswehr erstmalig in ihrer
Geschichte die Möglichkeit, auch von See aus das Landesinnere zu
beschießen. Die "Eingreifkräfte" erhalten die kampfstärksten
Hubschrauber und mit der Panzerhaubitze 2000 auch das kampfstärkste
Rohrwaffensystem der Welt. Mit neuen strategischen Transportflugzeugen
sollen Kampfhelikopter, Schützenpanzer und Infanterie schnell in weit
entfernte Kampfzonen geflogen werden können. Die Luftwaffe erhält
Marschflugkörper, um aus sicherer Distanz Feindesland zerstören zu
können. Neben drei verschiedenen Typen von unbemannten Flugkörpern zur
Aufklärung und Nachrichtengewinnung erhält die Bundeswehr ein
weltumspannendes radargestütztes Satellitenspionagesystem. Und ihre
weltweit kampfstärksten konventionellen U-Boote U-212 sind von
Nicht-Nato-Staaten nicht ausfindig zu machen. Auch diese werden
Bestandteil der "Eingreifkräfte". Die Bundesrepublik stellt das größte
nationale Kontingent sowohl der NRF als auch der schnellen
Eingreiftruppe der EU. Für die EU-Battlegroups bietet sie von allen
EU-Mitgliedern die häufigste Beteiligung und die häufigste
Führungsübernahme an. Wir müssen mit Erschrecken feststellen, dass
offensichtlich für deren Finanzierung gesorgt werden soll, wenn die
Kanzlerin vor dem Bundeswehrverband verkündet: "Ein Mittelansatz von nur
1,4 Prozent am Bruttosozialprodukt auf mittlere und lange Sicht wird
nicht ausreichen".
Wir fordern statt dessen: Spart endlich an der Rüstung und gebt den
zivilen Konfliktlösungsverfahren Vorrang.
Bundeswehr gegen "Risiken" aller Art
Das Weißbuch zählt "zunehmend komplexe Herausforderungen" und
Bedrohungen auf. Genannt werden der internationale Terrorismus, die
Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihren Trägermitteln sowie
die Gefahr "unkontrollierter Migration", organisierter Kriminalität,
Drogen- und illegalen Waffenhandels als Folge innerstaatlicher oder
regionaler Konflikte. Ausdrücklich soll auch – "wenn geboten" - durch
"bewaffnete Einsätze" gegen "Risiken und Bedrohungen" vorgegangen werden.
Dazu stellen wir fest,
-
dass der "Krieg gegen den Terror" selbst Terror ist, massenweise
Unschuldige tötet und sich als kontraproduktiv erweist,
- dass der US-geführte Krieg gegen die Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen zu Recht als Vorwand verstanden wird, um
energie- und rohstoffreiche Regionen unter Kontrolle zu bringen und sich
geostrategische Positionen zu sichern,
- dass Sinn und nachhaltiger Erfolg militärischen Eingreifens in
regionale und innerstaatliche Konflikte nicht erwiesen ist – eher ist
das Gegenteil der Fall.
Die Ausweitung der Militarisierung der deutschen Außenpolitik ist ein
Irrweg, der die Welt und unser Land nicht sicherer, sondern unsicherer
macht.
Deutsche Interessen: Rohstoffe, Energie, Tramsportwege
Im Weißbuch wird auffallend häufig von Interessen gesprochen: Da
Deutschlands Wohlstand, vom "Zugang zu Rohstoffen" abhänge, habe es ein
"elementares Interesse" an einem "offenen Welthandelssystem und freien
Transportwegen" (S. 21f). Man befürchtet die "Störung von Rohstoff- und
Warenströmen beispielsweise durch zunehmende Piraterie". Hier
bleibt das Weißbuch merkwürdig schwammig. Ob überhaupt und wenn ja, wie
weit ein Bundeswehreinsatz zur Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen gehen
soll, wird nicht benannt. Dass die Bundeswehr zur "Sicherung der
Rohstoffzugänge" eingesetzt werden soll, will die Kanzlerin, denn so
steht es im Leitantrag ihres CDU-Bundesvorstands für den Parteitag im
November. Zugangssicherung schließt den Zugang zu Lagerstätten von
Erdöl, Gas und Mineralien in fremden Ländern ein und beschränkt sich
nicht auf Seewegsicherung. Wir sagen, es ist nichts gegen ein Interesse
an Rohstoffen anderer Länder einzuwenden, sehr wohl jedoch dagegen, sich
diese gewaltsam aneignen zu wollen. Wir bewerten das Vorhaben, die
Piraterie auch militärisch bekämpfen zu wollen, als an den Haaren
herbeigezogen. Erstens haben wir es nicht mit einer "zunehmenden
Piraterie" zu tun, sondern mit einer Halbierung der Überfälle seit 2003
und zweitens lässt sich ein wirksamer Schutz durch passiven Schutz und
nicht-letale Abwehrmaßnahmen wirksamer erreichen. Den Kampf gegen die
Piraterie als Begründung dafür herzunehmen, eine NATO-Armada von 350
hochseegängigen Überwasserkampfschiffen aufrechtzuerhalten, ist absurd
und kostspielig dazu.
Ebenso fehlt eine Begründung dafür, dass die NATO noch über 3,9
Millionen Soldaten unter Waffen hat, 24.000 Kampfpanzer bereit hält und
über 7.000 Kampfflugzeuge und 160 U-Boote verfügt. Wir kritisieren, dass
die Bundesregierung nichts zur konventionellen Abrüstung beitragen will.
Lediglich die Umsetzung des AKSE-Vertrages wird gefordert, der
Obergrenzen für schwere konventionelle Waffen festlegt, die um ein
Viertel über den Ist-Ständen liegen. Die Marinerüstung unterliegt keinen
internationalen Beschränkungen. Wir fordern von der Bundesregierung,
dass sie sich auf UN-Ebene für einen Zeitplan für die weltweite
konventionelle Abrüstung einsetzt.
Konventionelle und atomare Abrüstung bleiben Lippenbekenntnis
Im Weißbuch wird lediglich die atomare weltweite Abrüstung gefordert (S.
54). Dieser an sich begrüßenswerte Vorsatz bleibt jedoch so lange
unglaubwürdig, wie die Bundesregierung an der völkerrechtswidrigen
"nuklearen Teilhabe" festhält (S. 32) und sich nicht für den Abzug von
US-Atomwaffen von deutschem Boden einsetzt.
Wir fordern: Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen.
Dieses Weißbuch stellt die Weichen für eine weltweit einsetzbare
Angriffsarmee, die der Politik dauerhaft die Möglichkeit schafft, sie
interessengeleitet universell einzusetzen. Ob, wann und wo und zu
welchem Zweck dies geschieht, bleibt vage und spekulativ. Da nichts
ausgeschlossen wird, ist buchstäblich alles möglich – im "multilateralen
Rahmen", versteht sich: Der Rohstoffkrieg in Afrika, der Krieg um Öl und
Gas am Golf und in Zentralasien, die Beteiligung am Großkrieg gegen
China oder Nordkorea, die Überwachung von Wasserstraßen, der Kampf gegen
Piraten, die Besetzungen fremder Länder usw. Der militärischen Phantasie
sind keine Grenzen gesetzt. Die technischen Grundlagen zur Umsetzung
dieser Phantasien werden jedoch schrittweise gelegt. Die Politik braucht
sie dann nur abzurufen.
Gesellschaftliche Debatte nicht gewünscht
Eine öffentliche Debatte über die Kriterien erstickt die Regierung,
indem sie nach einem Blackbox-Verfahren Fertiglösungen verkündet. Eine
lebendige Demokratie, die den mündigen Bürger erwünscht, setzt
Transparenz voraus, die durch dieses Weißbuch vermieden wird. Der
Verdacht liegt nahe, dass sich die Regierung einer ausführlich geführten
öffentlichen Debatte deshalb entzieht, weil sie sie in der
Öffentlichkeit nicht bestehen würde, wenn ihre Vorhaben offen auf den
Tisch kämen. Sie befürchtet wohl zu Recht, dass die in der Bevölkerung
fehlende Unterstützung für Bundeswehrauslandseinsätze nach einer
öffentlichen Debatte noch mehr schwinden würde. Mit anderen Worten: Die
Bundesregierung hat Angst vor der Demokratie.
Koalition will Verfassung ändern
So mag es auch kein Zufall sein, dass das Weißbuch eine Erweiterung der
Einsatzfelder der Bundeswehr im Inneren ausdrücklich vorsieht. Unter dem
Vorwand einer nur begrenzten Abwehrfähigkeit terroristischer Gefahren
durch die dafür "zuständigen Stellen" sieht die Bundesregierung "die
Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens für
den Einsatz der Streitkräfte" (S. 67). Allen gegenteiligen Beteuerungen
des Koalitionspartners SPD zum Trotz will die Große Koalition also doch
Hand an das Grundgesetz anlegen. Wer nach dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz vom 15. Februar 2006
gedacht hätte, damit seien die Grenzen des Einsatzes der Bundeswehr im
Inneren höchstrichterlich festgelegt und das rechtsstaatliche Prinzip
der Aufgabenteilung zwischen Polizei und Militär ein für allemal
bekräftigt, sieht sich nun eines Schlechteren belehrt: Anstatt das
Verfassungsgerichtsurteil zu akzeptieren, macht sich die Bundesregierung
daran die Verfassung zu ändern! Auch ein negatives Lehrstück in Demokratie.
Fazit
Das "Weißbuch" der Bundesregierung stellt den legitimatorischen Rahmen
für die prinzipiell nicht mehr begrenzte räumliche und sachliche
Ausweitung des Einsatzgebietes der Bundeswehr dar. Ob im Inneren gegen
"drohende Terroranschläge" oder weltweit zur Bekämpfung von Terror,
Verbreitung von Massenvernichtungswaffen oder Drogenhandel: Überall soll
die Bundeswehr im "Interesse" Deutschlands aktiv werden können. Der
außenpolitische "Schulterschluss" mit Frankreich, der noch den Ton des
"Weißbuchs 1994" beherrscht hatte, ist einer noch engeren Anbindung an
die globale Führungsmacht USA gewichen. Deutsche Außenpolitik wird auf
Sicherheitspolitik und Sicherheitspolitik ausschließlich auf
Militärpolitik reduziert. Das, was nach dem Ende der Blockkonfrontation
als "Normalisierung" der deutschen Außenpolitik propagiert wurde, mündet
heute in eine stinknormale imperiale, militärisch gestützte
Außenpolitik, die mehr Ähnlichkeit mit der Großmachtpolitik des
deutschen Kaiserreichs als mit einer friedensorientierten und zivilen
Präventionspolitik eines demokratischen Rechtsstaats des 21.
Jahrhunderts hat.
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Lühr Henken, Hamburg
Peter Strutynski, Kassel
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