Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Streitfrage: Ist die Wehrpflicht noch zeitgemäß?

Es debattieren: Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler, und Jürgen Rose, Oberstleutnant der Bundeswehr


Die Bundeswehr ist das eigentliche Problem

Von Peter Strutynski *

Vor wenigen Tagen berichteten die »Fürther Nachrichten« in ihrem Lokalteil über einen besonders grotesken Fall von »Wehrungerechtigkeit«. Danach soll ein Abiturient seinen Grundwehrdienst antreten, obwohl er einen Ausbildungsplatz angeboten bekommen hat. Einen Antrag des jungen Mannes auf Zurückstellung lehnte das zuständige Kreiswehrersatzamt ab – obwohl solche Anträge üblicherweise positiv beschieden werden. Der Abiturient klagte und bekam vom Amtsgericht Ansbach Recht. Dagegen legte die Bundeswehr Berufung ein, sodass der Fall demnächst vor dem Bundesverwaltungsgericht verhandelt wird.

Dieser Vorgang wirft ein bezeichnendes Licht auf einen Irrwitz – und auf ein Prinzip. Der Irrwitz besteht darin, dass die Bundeswehr ohnehin nicht einmal mehr die Hälfte der als »wehrtüchtig« gemusterten jungen Männer eines Jahrgangs zu den Waffen ruft. Und das, obwohl die Kriterien für den Wehrdienst stark angezogen wurden. Wurden noch vor wenigen Jahren lediglich 17 Prozent eines Jahrgangs »ausgemustert«, so sind es heute rund 50 Prozent. Im vergangenen Jahr wurden von den 440 000 18-Jährigen nur 243 000 als tauglich gemustert; 70 000 davon wurden zum Waffendienst eingezogen, 90 000 verweigerten und wurden zum Zivildienst verpflichtet, weitere gut 80 000 kamen ganz ohne davon. Diese Schieflage ist mittlerweile so dramatisch, dass das Kölner Verwaltungsgericht die gegenwärtige Einberufungspraxis für grundgesetzwidrig hält.

Angesichts der großen Zahl tauglich gemusterter Männer, die nicht eingezogen werden, weil kein Bedarf besteht, mutet der oben erwähnte Fall tatsächlich wie ein Irrwitz an. Warum klammert sich die Bundeswehr ausgerechnet an den einen Wehrpflichtigen, wo es doch so viele andere gibt, die nicht gezogen werden, obwohl sie vielleicht gern wollten? Das hat mit etwas Prinzipiellem zu tun: Die Bundeswehr möchte das Recht behalten, über die Zahl und die »Qualität« ihrer künftigen Soldaten je nach Bedarfslage selbst entscheiden zu können. Dass die »Wehrgerechtigkeit« dabei auf der Strecke bleibt – wie mittlerweile auch Politiker der radikalen Mitte erkannt haben – ist eine unangenehme Begleiterscheinung. Sie wird einen Westerwelle nach der Bundestagswahl aber nicht davon abhalten, mit Merkel ins Bett, nein – Gott behüte! – ins Kabinett zu steigen, um dem neoliberalen Projekt wieder neuen Schwung zu verleihen.

Und wenn schon über »Wehrgerechtigkeit« geredet wird: Die schreiendste Ungerechtigkeit liegt doch wohl darin, dass ein sehr großer Teil derjenigen, die »zum Bund« bereit sind, nicht gehen und auch keinen anderen Dienst versehen müssen, während die Kriegsdienstverweigerer ausnahmslos Zivildienst leisten müssen. Schon allein aus diesem Grund wäre die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und anderer Dienstpflichten ein Akt der Gerechtigkeit.

Irrwitz also aus Prinzip: Mit der Verkleinerung der Sollstärke von 520 000 auf 340 000 und ihrer gleichzeitigen »Transformation« von einer Verteidigungs- in eine Interventionsarmee kann sich die Bundeswehr den Luxus leisten, auf einen großen Teil wehrtauglicher Männer zu verzichten und nur noch die für das moderne Kriegshandwerk am besten geeigneten Kräfte einzuziehen. Die Mehrheit der EU-Staaten hat aus diesem allgemeinen Trend die Konsequenz gezogen und in den letzten Jahren ihre Streitkräfte zu Freiwilligen- bzw. Berufsarmeen umgebaut.

Die deutsche Diskussion um die allgemeine Wehrpflicht geht nach meinem Geschmack am eigentlichen Problem vorbei. Gewiss: Man kann sich mit vielerlei guten und schlechten Argumenten darüber streiten, ob sich eine Wehrpflichtarmee der Demokratie eher verpflichtet weiß oder wegen ihrer breiteren »Verankerung« in der Gesellschaft kriegsresistenter ist als eine Freiwilligenarmee. Dem nationalsozialistischen Aufrüstungsprogramm und den Kriegsvorbereitungen Hitlers ging die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht voran! Für die These, dass sich eine Berufsarmee eher zu einem »Staat im Staat« und zu einer expeditionslüsternen Angriffsarmee entwickeln könnte als eine Wehrpflichttruppe, gibt es ebenso viele Beispiele wie Gegenbeispiele. CDU/CSU- und SPD-Politiker räumen längst ein, dass sie nur noch deshalb an der Wehrpflicht festhalten, weil damit die Rekrutierung gut ausgebildeter Soldaten besser von der Hand geht. Wenn FDP-Politiker und Grüne heute ihr Herzblut für die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und die Einführung einer Freiwilligen- und Berufsarmee vergießen, gleichzeitig aber alle Auslandseinsätze der Bundeswehr rechtfertigen, dann liegt der Verdacht nahe, dass sie das nicht tun, um die Latte des Kriegseinsatzes höher zu hängen, sondern sich bei jenen Wählerschichten beliebt zu machen, denen der Militärdienst aus welchen Gründen auch immer völlig egal ist.

Aus friedenspolitischer Sicht beginnt das wirklich relevante Problem erst jenseits der Frage Wehrpflicht oder Berufsarmee. Es geht um die Frage, ob und in welchem Umfang deutsche Streitkräfte erforderlich oder wünschenswert sind. Zur Zeit der Ost-West-Blockkonfrontation war diese Frage – nachdem das Konzept eines entmilitarisierten deutschen Staates nicht zum Zuge gekommen war – leicht zu beantworten: Die Bundeswehr sollte das Territorium der Bundesrepublik Deutschland gegen einen militärischen Angriff von außen verteidigen. Nachdem diese Gefahr – so sie denn überhaupt je bestand – mit der epochalen Wende 1990 entfallen war, hätte sich auch die Verteidigungsarmee Bundeswehr von selbst erledigen können. Dass sie es nicht tat, lag am Erfindungsreichtum des Militärs, das flugs alle möglichen »neuen Risiken« am Horizont aufziehen sah, und es lag an der politischen Klasse, die nun ihre Chance auf eine militärisch gestützte neue Außenpolitik in der Welt gekommen sah. Der vermeintliche »Kampf gegen den Terror« ist genauso wie die Chiffre von den »humanitären Interventionen« zu einem Deckmantel für imperialistische Machenschaften im Wettrennen um Öl und andere Energieressourcen und um die weitere ungehinderte Ausbeutung der Dritten Welt geworden. Ob in Afghanistan Berufssoldaten oder Wehrpflichtige töten und sterben, macht nicht den Unterschied. Dass sie nicht mehr töten dürfen und nicht mehr sterben müssen, darauf käme es an.

* Dr. Peter Strutynski, Jahrgang 1945, ist Politikwissenschaftler an der Universität Kassel, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag und Mitherausgeber der Marxistischen Blätter. Er ist seit etwa 30 Jahren in der Friedensbewegung aktiv und leitet die Arbeitsgruppe Friedensforschung an der Universität Kassel, die jährlich den Friedenspolitischen Ratschlag veranstaltet (www.).


Kanonenfutter für den Hindukusch

Von Jürgen Rose **

»Kein Staat, keine nationale Telegrafenagentur hat das Recht, über das Leben derer zu verfügen, die sich nicht freiwillig darbieten«, so brandmarkte Deutschlands scharfzüngigster Militärkritiker Kurt Tucholsky dereinst den regierungsamtlich verordneten Waffendienst. Unerschütterlich und inbrünstig indes legt die Große Koalition wehrpolitischer Betonköpfe in diesem Lande ein ums andere Mal ihr quasi-religiöses Bekenntnis zur Allgemeinen Wehrpflicht ab – als ob die Ableistung des militärischen Zwangsdienstes einem Gottesdienst gleichkäme. Selbst der als nüchtern-rationaler Denker allseits hochgeschätzte Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt umhüllte den vorgeblichen Ehrendienst am Vaterland mit einer quasi-sakralen Aura, als er vergangenes Jahr in seiner Ansprache anläßlich des öffentlichen Gelöbnisses versprach, die Rekruten könnten sicher sein, dass dieser Staat sie nicht missbrauchen werde.

Da hatte dieser Staat sie indessen längst missbraucht, unter anderem für die auf Geheiß des damals amtierenden Bundesministers der Verteidigung, Peter Struck, angeordnete Bewachung der US-Kasernen hierzulande, während die Imperialmacht ihr völkerrechtliches Verbrechen gegen Irak und seine Menschen vorbereitete und durchführte. Tausende junger Wehrpflichtiger gelangten dabei, vertrauensselig und naiv wie sie waren, zum Einsatz. Wodurch sie unwissentlich zu Tatbeteiligten an dem von Bundesregierung und Bundeswehrgeneralität zu verantwortenden Völkerrechts- und Verfassungsbruch wurden, den die deutsche Beteiligung am angloamerikanischen Angriffskrieg im Zweistromland zweifelsohne konstituierte. Spätestens der neulich vorgelegte Bericht des BND-Untersuchungsausschusses nämlich hat mit der unsäglichen rot-grünen Legendenbildung von der deutschen Nichtbeteiligung aufgeräumt und all die dreisten Lügen von Schröder, Fischer, Steinmeier und Konsorten als ebensolche entlarvt.

Der Missbrauch vieler Generationen junger Männer reicht aber viel weiter, und zwar deshalb, weil allein schon der Fortbestand der Allgemeinen Wehrpflicht längst nicht mehr grundgesetzkonform ist. Immerhin handelt es sich bei der ausschließlich dem männlichen Bürger abverlangten Wehrpflicht, wie der kürzlich verstorbene Sir Ralf Dahrendorf formuliert hat, um »regelrechte Zwangsarbeit«, allerdings in einer, wie er einschränkte, »überaus milden Form«. Deshalb hatte kein geringerer als der ehemalige Bundespräsident und Bundesverfassungsrichter Roman Herzog schon 1995 während der Kommandeurtagung in München gemahnt: »Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Einschnitt in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein ewig gültiges Prinzip, sondern sie ist abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können.«

Genau dies ist heute der Fall: Die konkrete Sicherheitslage verlangt die Wehrpflicht nicht mehr. Das hatte bereits die Kommission »Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« unter Leitung des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker in ihrem Bericht vom Mai 2000 so gesehen, denn darin steht: »Eine Freiwilligen-Armee ohne Wehrpflichtkomponente ist in vollem Umfang operativ.« Die Fortdauer der allgemeinen Wehrpflicht entspricht daher nicht mehr dem Grundgesetz.

Doch vollkommen resistent gegen jegliche Kritik hält eine unheilige Allianz in Politik und Bundeswehr bis heute fanatisch an der Wehrpflicht fest. Einen der tieferen Gründe, warum dies so ist, lieferte der Leiter des Politikressorts in der Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit«. In diesem vor Bellizismus triefenden Kampfblatt eines überkommenen Transatlantizismus leitartikelte Autor Bernd Ulrich: »Wenn es aber stimmt, dass in Afghanistan das deutsche Vaterland verteidigt wird, warum schickt die Bundeswehr dort nur Freiwillige hin? Denn genau zu diesem Zweck wurde die Wehrpflicht ja mal eingeführt: damit das Vaterland verteidigt werden kann.« Und so Ulrich weiter: »Wenn die Sicherheit dieses Landes im Prinzip überall auf der Erde verteidigt werden muss, wenn heute nicht absehbar ist, welchen Umfang diese Verteidigungspolitik haben wird, wenn also niemand weiß, wann wie viele Soldaten gebraucht werden, warum soll dann die Wehrpflicht abgeschafft werden?«

Mit seiner Fragestellung hat der »mit letztem Einsatz« (so lautete besagter Titel in der Tat!), quasi »unter Stahlgewittern«, an der Heimatfront tapfer und furchtlos in seiner Redaktionsstube kämpfende Federheld den Nagel durchaus auf den Kopf getroffen. Denn im Klartext heißt das doch: Wenn nicht mehr genügend freiwillige junge Männer und Frauen »dummstolz, ahnungslos, mit flatternden Idealen und einem in Landesfarben angestrichenen Brett vor dem Kopf, bereit sind, ihr Leben und ihre Person für einen solchen Quark, wie die nationalistischen Interessen eines Staates aufs Spiel zu setzen«, wie Tucholsky einst trefflich formulierte, dann wollen die Kriegslenker auf zwangsverpflichtetes Menschenmaterial zurückgreifen können. Kanonenfutter für den Hindukusch, darum geht es in Wirklichkeit. Denn freiwillige Soldaten, und genau dies schreckt die Kriegslenker und Schlachtendirektoren, können mit ihren Füßen abstimmen – für eine Sache, von deren Legitimität die BürgerInnen nicht (mehr) überzeugt sind, zeigen sie sich nicht bereit, freiwillig zu kämpfen und zu sterben.

Vom Sinn des Krieges im fernen Afghanistan sind freilich mehr als zwei Drittel des deutschen Volkes überhaupt nicht überzeugt. Diese Stimmungslage unter den StaatsbürgerInnen ohne Uniform lässt sich cum grano salis auch auf die Fleckgetarnten übertragen. Für beide Gruppen gilt daher: Man kann jede Menge Menschen für ziemlich lange Zeit hinters Licht führen, aber nicht alle auf unbegrenzte Dauer. Irgendwann merkt auch der unterbelichtetste Aspirant fürs nationale Ehrenkleid, was gespielt wird und bleibt dem Kriegstheater fern – sofern er eben nicht qua Wehrpflicht in die Schlacht gezwungen wird.

** Jürgen Rose, 1958 geboren, ist Oberstleutnant der Bundeswehr und Diplom-Pädagoge. Seit Ende 2006 ist er Mitglied im Vorstand des Arbeitskreises Darmstädter Signal, in dem ehemalige und aktive Soldaten sich kritisch zur Bundeswehr äußern. Als Publizist meldet sich Jürgen Rose regelmäßig zu Fragen der internationalen Sicherheitspolitik, der Verteidigungspolitik und des Völkerrechts zu Wort. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

Beide Beiträge aus: Neues Deutschland, 31. Juli 2009 ("Debatte")


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