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"Wir Ärzte und Psychotherapeuten lehnen die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Afghanistan ab"

Im Wortlaut: Offener Brief an den Verteidigungsminister mit über 200 Unterzeichner/innen

Mehr als 200 Ärzte, Psychologen und Psychotherapeuten aus dem gesamten Bundesgebiet sprechen sich anlässlich des Antikriegstages (1. Septrember) gegen eine Vereinnahmung ihrer Berufsstände für den Afghanistan-Krieg aus. "Wir Ärzte und Psychotherapeuten lehnen die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Afghanistan ab", heißt es in einem Schreiben an Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU). "Den Aufruf des Verteidigungsministeriums, uns an der Behandlung von traumatisierten Soldaten zu beteiligen und uns damit für die Kriegsführung der Bundesregierung instrumentalisieren zu lassen, weisen wir zurück", betonen die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner. Hintergrund der Initiative der Ärzteorganisation IPPNW ist ein Appell im letzten Bundesmitgliederbrief der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung, in dem die Bundeswehr qualifizierte externe Psychotherapeuten zur Behandlung traumatisierter Soldaten sucht. Beigelegt ist ein Formblatt, in dem sich die Therapeuten bereit erklären sollen, kurzfristig Therapieplätze zur Verfügung zu stellen, nebst der Aufforderung, "den Aufgaben der Bundeswehr in ihren Auslandseinsätzen nicht ablehnend" gegenüberzustehen.

Wir dokumentieren im Folgenden den Brief der IPPNW im Wortlaut.



Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
Bundesministerium der Verteidigung
Stauffenbergstr. 18
10785 Berlin

Offener Brief an Bundesverteidigungsminister Jung Psychotherapeuten und Ärzte für den Frieden Berlin, 31. August 2009

Sehr geehrter Herr Bundesminister Dr. Jung,

obwohl von Ihrem Haus bestritten, ist die Wahrheit offenkundig: Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich in einem völkerrechtswidrigen Krieg in Afghanistan. Der vormals von der UN sanktionierte Kampf gegen Ausbildungslager für nicht-afghanische Extremisten am Hindukusch ist lange schon Vergangenheit. Der zivile Aufbau im Land wird von den Truppen inzwischen eher behindert denn befördert, Tausende ziviler Opfer bringen die einheimische Bevölkerung gegen die Besatzer auf.

Opfer gibt es mittlerweile auch auf Seiten der deutschen Soldaten. Die Kämpfe werden in internationalen Medien als außerordentlich hart beschrieben. Weitere gefallene, verstümmelte und traumatisierte Soldaten sind zu befürchten. Es ist offensichtlich: Die Mission in Afghanistan ist gescheitert. Die deutsche Öffentlichkeit hat das längst begriffen. Die Ablehnungsrate beläuft sich laut ARD Deutschlandtrend derzeit auf 69%! Nun soll die Psychotherapie die Heimatfront beruhigen, indem sie der deutschen Zivilbevölkerung die Beherrschbarkeit wenigstens eines Kriegsübels suggeriert. Damit der Krieg letztlich führbar bleibt, werden zudem zusätzliche PsychotherapeutInnen angeworben.

Die Politik erweckt den Eindruck, ein posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS) lasse sich per Psychotherapie dauerhaft beheben. Für traumatisierte Rückkehrer wurde eine Homepage geschaltet, die Hilfe verspricht; Oberfeldarzt Dr. Peter Zimmermann vom Bundeswehrkrankenhaus Berlin gibt Antworten zum Thema PTBS. Der Kriegsunterstützung im Inland dient ein Aufruf im Bundesmitgliederbrief der Deutschen Psychotherapeuten- Vereinigung: "In einem Gespräch im Verteidigungsministerium wurde uns die wachsende Anzahl traumatisierter Soldaten in Auslandseinsätzen deutlich gemacht. Trotz der internen Behandlungsmöglichkeiten bei der Bundeswehr, werden zusätzlich qualifizierte externe Psychotherapeuten gesucht." Beigelegt ist ein Formblatt, in dem sich der Therapeut bereit erklärt, kurzfristig einen Therapieplatz zur Verfügung zu stellen, nebst der Aufforderung, "den Aufgaben der Bundeswehr in ihren Auslandseinsätzen nicht ablehnend" gegenüberzustehen.

Dazu erklären wir:

Wir, Ärzte und Psychotherapeuten, lehnen die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Afghanistan ab. Wir sind in höchstem Maße besorgt über die gegenwärtige Tendenz der deutschen Bundesregierung, gesellschaftlichen und internationalen Konflikten mehr und mehr militärisch zu begegnen. Aus klinischer Erfahrung mit kriegstraumatisierten Menschen, darunter auch Soldaten, setzen wir uns für eine Gesellschaft und einen Staat in Frieden ein, die alle Anstrengungen konsequent auf gewaltfreie Konfliktbearbeitung konzentrieren. Denn der Krieg selbst ist bereits Ursache schwerer Traumatisierungen in der afghanischen Bevölkerung, und nun auch zunehmend unter den darin verwickelten deutschen Soldaten. Kriegstraumatisierung kann aus unserer Sicht nur in der Art sinnvoll behandelt werden, dass im therapeutischen Prozess klar zwischen Aggressor und Opfer unterschieden wird, zwischen denen, die der Gewalterfahrung ohne ihr Zutun hilflos ausgeliefert waren und denen, die eben diese Gewalt mit hervorbringen. Anderenfalls würden wir eine rein symptomatische Behandlung ohne kausalen Ansatz betreiben. Die Forderung, Therapie ohne kritische Hinterfragung des politisch-militärischen Kontextes zu betreiben, ist mit unserem Verständnis psychotherapeutischer Arbeit nicht vereinbar. Ist doch das angestrebte Ergebnis einer Therapie in jedem Fall die konsequente Gewalt- Prävention, um Amokläufen oder Suiziden, der Selbst- wie der Fremdgefährdung, vorzubeugen. Mit Horst-Eberhard Richter in der Frankfurter Erklärung (1982) halten wir "alle Maßnahmen und Vorkehrungen für gefährlich, die auf das Verhalten im Kriegsfall vorbereiten sollen".

Den Aufruf des Verteidigungsministeriums, uns an der Behandlung von traumatisierten Soldaten zu beteiligen und uns damit für die Kriegsführung der Bundeswehr instrumentalisieren zu lassen, weisen wir daher zurück. Das ändert nichts an unserer Verpflichtung und Bereitschaft, in allen Notfällen unsere medizinische und psychotherapeutische Hilfe zur Verfügung zu stellen.


ErstunterzeichnerInnen: Dr. Angelika Claußen, IPPNW-Vorsitzende
Matthias Jochheim, stellvertretender IPPNW-Vorsitzender
Dipl.-Psych. Michaela M. Müller, Psychologische Psychotherapeutin
(Es folgen rund 200 weitere UnterzeichnerInnen)

Der Originalbrief mit allen Unterzeichner/innen kann hier heruntergeladen werden:
(pdf-Datei).


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