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Bundeswehreinsätze, Völkerrecht, Verfassung und Politik

Beiträge zu einer Debatte der Linken: Wolfgang Gehrcke, Torsten Wöhlert und Sylvia-Yvonne Kaufmann

In der Wochenzeitung "Freitag" erscheinen seit einigen Monaten Beiträge, die sich mit den Positionen der Linken zum Krieg und zu militärischen Interventionen befassen. Auslöser der Diskussion war ein Beitrag des Völkerrechtlers Norman Paech (Freitag 39/05, siehe: "Über den Wendekreis des Krebses hinaus"), der sich dagegen aussprach, Auslandseinsätze der Bundeswehr von Rechtsnormen des Grundgesetzes wie der UN-Charta zu trennen. In einer Replik dazu verwies Torsten Wöhlert (Freitag 43/05, siehe: "Germans to the front?") auf das UN-Mandat für die Bundeswehr-Präsenz in Afghanistan und warf Paech vor, mit seiner Position quasi das UN-Gewaltmonopol in Frage zu stellen. Wolfgang Gehrcke (Linkspartei) hielt im Freitag 46/95 dagegen, eine Linke könne heute nur eine Anti-Kriegslinke sein, sie dürfte nicht dazu beitragen, "dass Gewalt und Krieg wieder zum Mittel der Politik werden". Daraufhin reagierte noch einmal Torsten Wöhlert (Freitag 48/05), der Gehrcke bescheinigte, sich mit seinem "politischen Pazifismus" nicht nur jenseits vorhandener Realität zu bewegen, sondern auch wahltaktisch zu argumentieren. Zu Gehrcke meldete sich später auch die Europa-Abgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann zu Wort. Alle drei Beiträge werden im Folgenden dokumentiert.
Nicht zuletzt mit Blick auf jüngste Voten des Bundestages zu Afghanistan, Bosnien und dem Sudan setzte der "Freitag" 02/2006 die Debatte mit einem weiteren Beitrag von Norman Paech fort (siehe: "Festhalten am klassischen Verteidigungsbegriff".



Über diesen Graben führt kein Steg

Von Wolfgang Gehrcke

In einem Text für den Freitag (Ausgabe 39/05) hatte der Völkerrechtler Norman Paech jüngst gegen die These des scheidenden Verteidigungsministers Struck (SPD) polemisiert, wonach Deutschland "auch am Hindukusch verteidigt" werde und die Bundeswehr weltweit einsatzfähig sein müsse. Diese Selbstermächtigung zu globaler Intervention wertete Paech nicht nur als Verstoß gegen das Grundgesetz, sondern auch gegen das Gewaltverbot der UN-Charta. - In einer Replik verwies Torsten Wöhlert im Freitag 43/05 ausdrücklich auf das UN-Mandat für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Paech und der Linkspartei warf er vor, mit ihrem Nein - auch zu solchen Auslandseinsätzen - letztlich das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen abzulehnen. Er fragte: "Kann eine deutsche Linke, wenn alle von ihr geforderten friedlichen Mittel zur Konfliktbeilegung ausgeschöpft sind ... und wenn ein Völkermord wie der in Ruanda nur noch durch UN-Truppen zu verhindern ist, kann sie dann sagen: Aber keine deutschen Soldaten?" Wir setzen die Debatte mit einem Text von Wolfgang Gehrcke fort, der für die Linkspartei im Bundestag sitzt.

Norman Paech und Torsten Wöhlert kommen in ihren Artikeln zu der Auffassung, dass die deutsche Beteiligung an der US-geführten Operation Enduring freedom und besonders der KSK-Einsatz* in Afghanistan völkerrechts- und verfassungswidrig seien. Soweit, so gut. Hingegen bemängelt Wöhlert, dass sich Paech zur völkerrechtlichen Beurteilung des ISAF-Einsatzes ausschweigt und wirft die Frage auf, wie es die Linkspartei mit dem Gewaltmonopol der Vereinten Nationen und mit UN-mandatierten Militäreinsätzen hält.

Ein Blick zurück: im April 2000 hatte die PDS auf ihrem Parteitag in Münster einen Antrag verworfen, der den militärischen Einsatz der UNO in Osttimor begrüßte und generell vorschlug, jeweils an Hand konkreter Einzelentscheidungen politische Positionierungen zu treffen. Dieser von der Mehrheit der damaligen Bundestagsfraktion und des Vorstandes getragene Antrag blieb in der Minderheit. Stattdessen setzte sich eine Mehrheit durch, die Militäreinsätze mit oder ohne UN-Mandat ablehnte. Dass sich Minderheit und Mehrheit einig waren, deutscher Beteiligung an solchen Einsätzen nicht zuzustimmen und Einsätze nach Kapitel VI - so genannte Blauhelmeinsätze - davon auszunehmen, hinderte die Partei nicht daran, sich in eine Krise zu stürzen. Schlussendlich traten der Parteivorsitzende Lothar Bisky und der Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi zurück. Zum Ball Paradox mag auch gehören, dass Sylvia-Yvonne Kaufmann, die in Münster die Mehrheitsmeinung anführte, später trotz der auch von ihr kritisierten Militarisierungsbestimmungen im Entwurf der EU-Verfassung keine Bedenken hatte, dieser zuzustimmen, während für mich, der ich zur Minderheit in Münster gehörte, dieser Umstand so gewichtig war, auf dem Nein zur EU-Verfassung zu beharren.

Unabhängig von der PDS-Krise nach Münster hatte der dort angenommene Beschluss eine überwiegend positive Wirkung. Er legte die sozialistische Partei in einer Zeit, in der bei SPD und Grünen der Grundsatz, Gewalt als Mittel der Politik auszuschließen, brüchig wurde und schließlich ganz über Bord flog, auf einen eindeutigen Antikriegskurs fest. Die Linke ist heute eine Antikriegslinke - oder sie ist nicht links. In der politischen Praxis heißt dies auch: besser einen deutschen Militäreinsatz mit nicht ganz so guten Argumenten abzulehnen, als mit scheinbar differenzierten Argumenten dazu beizutragen, dass Gewalt und Krieg wieder zum Mittel der Politik werden.

Torsten Wöhlert verneint mit Hinweis auf die Geschichte der PDS, dass die Linkspartei das moralische Recht und die politische Möglichkeit hätte, sich als pazifistische Partei zu verorten. Argumente für diese Behauptung führt er nicht ins Feld. Umgekehrt ist dies allerdings genau der Anspruch und die politische Linie, die ich der Außen- und Sicherheitspolitik der Linkspartei und darüber hinaus der Europäischen Linken abfordere und vertrete: Der politische Pazifismus - heimatlos in den konkurrierenden Parteien - muss in der Linkspartei nicht nur eine Heimat finden, sondern ihre Innen- und Außenpolitik bestimmen. Denn hier wie dort ist weniger nach Absichten, sondern mehr nach Interessen zu fragen - dies gilt für den Sudan, ebenso wie den Kongo oder Afghanistan. Die völkerrechtliche Basis, das heißt, ein Beschluss des UN-Sicherheitsrates ist wichtig, aber letztlich nicht allein entscheidend für eine Positionsbestimmung der Linken.

Der angesprochene UN-Einsatz 1999 in Osttimor war auch getragen von den Forderungen der dortigen Befreiungsbewegung - der UN-mandatierte ISAF-Einsatz in Afghanistan dient hingegen mehr und mehr der Entlastung der USA und ermöglicht eine Konzentration von Mitteln und Kräften auf den Irak.

Auch Kriege finden heute global statt, und das Gewaltmonopol des Weltsicherheitsrates heißt nichts anderes, als dass kein Staat es stattdessen für sich in Anspruch nehmen kann. Es realisiert sich dadurch, dass es nicht angewandt wird - für Torsten Wöhlert allerdings in den Umständen, ob und unter welchen Bedingungen es zur Anwendung kommt. So kann aus einem Mandat, Gewalt aus dem Zusammenleben der Völker zu verbannen, ein Mandat werden, Gewalt anzuwenden. Eben so wenig überzeugt sein Argument, dass die Linkspartei in vielen Bereichen - benannt wird unter anderem Hartz IV - Kompromisse eingeht und nur die Außen- und Sicherheitspolitik zu einem Refugium der Kompromisslosigkeit geworden sei. Nun gibt es sicher keine Politik ohne Kompromisse, aber Kriterium für Kompromisse könnte noch immer sein, ob sie Bewegungen für gesellschaftliche Veränderungen bestärken oder schwächen.

Krieg als Mittel der Politik oder Krieg als Gegenteil von Politik - das ist der Graben auch zwischen Rot-Grün und der Linkspartei. Über diesen Graben führt keine Brücke - nicht einmal ein Steg. Denn sozialistische Außenpolitik sollte auf Recht begründet sein, auf Gerechtigkeit zielen, Abrüstung durchsetzen und das Zusammenleben der Völker demokratisieren wollen.

(*)Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr

Aus: Freitag 46, 18. November 2005


Placebo-Grundsätze

Von Torsten Wöhlert

Warum hat Wolfgang Gehrcke vor fünf Jahren auf dem PDS-Parteitag in Münster einen Antrag unterstützt, der das militärische Engagement der UNO in Osttimor begrüßte, das Gewaltmonopol der UNO damit anerkannt hat und darüber hinaus dafür plädierte, im Einzelfall - also politisch! - zu entscheiden, wie sich die PDS zu UN-Blauhelm-Missionen verhält? War er falscher Analyse aufgesessen? Oder hat sich die Welt seit damals so grundlegend verändert, dass er heute anderer Meinung ist - ja, sein muss - als damals?

Nichts von alledem, obwohl sich natürlich einiges verändert hat. Die politische Argumentation der Minderheit auf dem Parteitag von Münster im April 2000 war damals so logisch, stichhaltig und politisch korrekt wie heute. Sie entsprang einer ganz einfachen Frage: Wie kann sich eine Linke hinstellen und die Stärkung der UNO als Instrument kollektiver Sicherheit gegen die unilateralen Anmaßungen von NATO, USA und EU fordern, wenn sie zugleich wichtige Instrumente dieses kollektiven Sicherheitssystems grundsätzlich ablehnt? Wohl gemerkt: Es ging und geht um die Festlegung im Grundsatz, nicht um den Einzelfall.

In Osttimor war es eine von der indonesischen Armee bedrängte Befreiungsbewegung, die völlig zu Recht auf ein Peace Keeping der UNO drängte, um weiteres Morden zu verhindern. Dieser konkrete Fall lag damals so klar, dass die PDS-Fraktion im Bundestag - gefragt von anderen, ob sie einen entsprechenden Antrag unterstützen würde -, sich prinzipiell positionieren musste, um für diesen Einzelfall eine glaubwürdige Entscheidung treffen zu können.

Damals hatte auch Wolfgang Gehrcke eine Sicht auf das UN-Gewaltmonopol, die sich sehr von dem unterscheidet, was er heute verkündet. In dem von ihm beschriebenen Grundsatz sind wir uns nach wie vor einig: "Das Gewaltmonopol des Sicherheitsrates heißt nichts anderes, als dass kein Staat es für sich in Anspruch nehmen kann." Soweit die grundlegende Idee kollektiver Sicherheit. Was aber, wenn sich Staaten oder Regimes nicht daran halten? Dann - so Gehrcke heute - realisiert sich das Gewaltmonopol dadurch, "dass es nicht angewandt wird". Das heißt: Die UNO schaut grundsätzlich zu, zählt hinterher die Toten und debattiert bestenfalls über eigene Versäumnisse im Vorfeld der Katastrophe. Was, bitteschön, ist daran links?

Natürlich wird die Welt nicht von Prinzipien, sondern von Interessen und Kräfteverhältnissen geprägt. Wer diese Binsenweisheit vernachlässigt, muss sich zu Recht blauäugig nennen lassen. Selbst das beste UN-Regelwerk zur Konfliktbeilegung kann missbraucht werden - und wird missbraucht. Das gilt übrigens auch für viele nicht-militärische Instrumente zur Konfliktprävention. Daraus aber den vermeintlich linken (Kurz-)Schluss einer UNO à la carte zu ziehen, bleibt absurd.

Zu wissen, dass UN-Blauhelme einen akuten Konflikt entschärfen können (hier reicht ein Blick auf den Nahen Osten), dass Blauhelme Leben retten und Zukunft ermöglichen können - und sich dessen ungeachtet dennoch den Luxus zu leisten, in jedem dieser Fälle Nein zu sagen, ist nicht links, sondern bestenfalls Ausdruck parteipolitischen Kalküls.

Gehrcke schreibt selbst: "Die völkerrechtliche Basis, das heißt, ein Beschluss des UN-Sicherheitsrates ist wichtig, aber letztlich nicht allein entscheidend für eine Positionsbestimmung der Linken." Genau darum geht es! Und um die Mühe, die sich Linke im Einzelfall machen müssen, wenn sie zwischen völkerrechtlich legitim und politisch geboten unterscheiden wollen.

Wolfgang Gehrcke rettet sich aus diesem Konflikt mit seinem Postulat eines "politischen Pazifismus", der derzeit nirgendwo außer in der Linkspartei eine Heimat findet. Er nennt es "konsequente Ablehnung von Gewalt als Mittel der Politik" - und weiß doch, dass jede Politik nichts anderes ist als die Anwendung zumindest struktureller Gewalt. Einen Mörder zu verurteilen und einzusperren heißt, ihm Gewalt anzutun - zum Schutz des Gemeinwesens.

Gehrcke schreibt: "Die Linke ist heute eine Antikriegslinke - oder sie ist nicht links." Und er begründet dies mit dem Verlust solcher Positionen bei SPD und Grünen. Damit stellt er der Linkspartei - indirekt und ungewollt - ein politisches Armutszeugnis aus. Und er gibt nebenbei seinen Kritikern von Münster postum Recht, die nach dem Motto argumentierten: Ihr seid auch nicht besser. Wenn wir heute A sagen, werdet ihr morgen B fordern und uns übermorgen in den Krieg führen. Das war schon damals ein Totschlagargument, dem Gehrcke jetzt nachträglich ein argumentatives Korsett einzieht, das nicht stützt, sondern einschnürt.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es gibt Zeiten, da wird eine Linke als Kraft gebraucht, die einfach nur Nein sagt. An Karl Liebknechts Ablehnung der Kriegskredite sei hier als historisches Beispiel erinnert. Und vielleicht sind wir ja jetzt in einer solchen Situation. Aber sich und anderen aus wahltaktischen Gründen grundsätzlich und wider besseren Wissens strategisch und politisch in die Tasche zu lügen, ist nicht nur unredlich, sondern überdies verdammt gefährlich. Denkt man Wolfgang Gehrcke zu Ende, dürften UN-Blauhelme nicht einmal Kindernahrung in Kriegsgebieten verteilen.

Hätte sich die PDS in den vergangenen 15 Jahren innenpolitisch so dogmatisch verhalten, wie es Gehrcke heute außenpolitisch für geboten hält und begründet - sie wäre längst marginalisiert.

Es geht auch anders. Oskar Lafontaine hat sich Anfang der neunziger Jahren in der SPD prononciert für Peace Keeping stark gemacht. Das hindert ihn heute nicht daran, den völkerrechtlich legitimen ISAF-Einsatz in Afghanistan politisch abzulehnen. Mit dem Argument, dass solche UN-Missionen nicht dazu missbraucht werden dürfen, die Trümmer verfehlter US-Politik wegzuräumen. Ob das - im Sinne der Betroffenen vor Ort - richtig oder falsch ist, darüber kann man streiten. Aber es ist eine Haltung, die keine politischen Placebo-Grundsätze braucht, um im Einzelfall klar, bestimmt und glaubhaft zu sein. Allein darum geht es.

* Aus: Freitag 48, 2. Dezember 2005


Vorwärts in die Vergangenheit?

Von Sylvia-Yvonne Kaufmann*

Längerfristig betrachtet hatte der Beschluss des Münsteraner PDS-Parteitages im Jahr 2000, wie Wolfgang Gehrcke mit Recht einräumt, eine "überwiegend positive Wirkung". Er war nötig, um die friedenspolitischen Leitlinien der Partei in außergewöhnlicher Zeit zu schärfen. SPD und Grüne hatten den Aggressionskrieg gegen Jugoslawien mitgetragen. Der Zeitgeist jonglierte mit dem Unwort der "humanitären Intervention". Hierzu war ein deutliches "Nicht mit uns" geboten. Bekräftigt wurde, dass die PDS Krieg als Mittel von Politik unmissverständlich ablehnt - und die Gesellschaft sich darauf verlassen kann. Zu dieser Maxime gibt es keinen Dissens.

Nicht hinnehmbar ist jedoch, wenn ein Antikriegskurs gleichsam als ideologische Keule dient, um komplizierte Fragen abzublocken, wie die von Torsten Wöhlert nach den völker- und verfassungsrechtlichen Grundlagen des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan im Rahmen der ISAF-Mission und seiner politischen Bewertung. Auch frage ich mich, wer eigentlich vorbeugend diszipliniert werden soll. Bricht sich die Linkspartei denn einen Zacken aus der Krone, wenn sie sagt, wie es ist? Der ISAF-Einsatz der Bundeswehr mit UN-Mandat ist völkerrechtsgemäß, aber als Nachsorge einer Aggression höchst umstritten und aufgrund der Struck-Vorgabe, wonach Deutschlands Interessen am Hindukusch verteidigt werden sollen, politisch inakzeptabel.

Ganz schlimm wird es, wenn Wolfgang Gehrcke überdies noch formuliert, "besser einen deutschen Militäreinsatz mit nicht ganz so guten Argumenten abzulehnen, als mit scheinbar differenzierten Argumenten dazu beizutragen, dass Gewalt und Krieg wieder zum Mittel der Politik werden". Das ist wahrlich starker Tobak. Der Autor hat offenbar sein flugs zum non-paper erklärtes Diskussionspapier "Außenpolitische Positionsbestimmung nach dem Kosovo-Krieg" vom September 1999 vergessen, das eine deutsche Beteiligung an UN-Einsätzen "grundsätzlich" befürwortet, weil hierzulande "das nötige know how und die Kapazitäten vorhanden sind". Vor allem diese Position war es doch, die in der PDS eine Debatte auslöste und zum bekannten Ergebnis von Münster beitrug.

Es stimmt, Politik ist auf Kompromisse angewiesen. Aber Wolfgang Gehrcke meint, Kriterium ihrer Bewertung sollte sein, "ob sie Bewegungen für gesellschaftliche Veränderungen bestärken oder schwächen". Wahrlich ein hehres Ziel, aber doch wohl bei weitem nicht der alleinige Maßstab! Sind etwa Beförderung des gesellschaftlichen Fortschritts oder konkrete Verbesserungen im Alltagsleben oder Schritte in Richtung mehr Demokratie und Bürgerrechte für die Linke keine Kriterien?

Und außerdem: Kompromisse setzen immer voraus, mit anderen, die unsere Überzeugungen nicht teilen, im Gespräch zu sein und - ohne sich selbst zu verleugnen - die Meinung des anderen zumindest zu respektieren. Nur so kann man Politik entwickeln, die für die Linkspartei neue Optionen und Wirkungsmöglichkeiten eröffnet. Das ist in den Kommunen oder in den Ländern selbstverständlich. Nur für Europa gelten offenbar andere "Gesetze". Davon zeugt die Ablehnung der EU-Verfassung durch die PDS. Sicher gibt es neben den wirtschaftsliberalen Leitsätzen auch sicherheitspolitisch gute Gründe, sich hier zu verweigern. Stichworte dafür sind der Verzicht auf EU-Abrüstungsinitiativen oder die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur "Verbesserung ihrer militärischen Fähigkeiten", die auch ich entschieden ablehne, weil sie militärische Machtentfaltung befördern und zivile Konfliktlösungen behindern. Dass aber ein Nein der PDS zur EU-Verfassung derart diffus und dogmatisch - nämlich ohne schlüssige Alternative - daher kommt, erklärt sich offenbar daraus, dass die Außen- und Sicherheitspolitik der EU in der Tat bereits zu einem "Refugium der Kompromisslosigkeit" geworden ist. So wurde weder das in der Verfassung verankerte Friedensgebot zur Kenntnis genommen noch die ausdrückliche Bindung der EU an das Völkerrecht und die UN-Charta, die Angriffs- wie Präventivkriege verbieten. Alles - gewiss nicht zu überschätzende - Berufungsgrundlagen für künftige friedenspolitische Initiativen. Geleugnet wurde, dass sich die EU einen erweiterten Sicherheitsbegriff zu Eigen macht. Auch die Orientierung der Verfassung auf zivile Konfliktregelung, auf die Verpflichtung der EU zur Kooperation mit der OSZE und den Aufbau eines diplomatischen Dienstes wurden ignoriert oder klein geredet.

Sollte sich in der Linkspartei.PDS ein Denken durchsetzen, das schwierige Fragen verbietet und der Realitätsverweigerung Vorschub leistet, käme das einem Rückzug in die Vergangenheit gleich. Man liefe Gefahr, in der komplizierten Welt von heute politikunfähig zu werden - und das ausgerechnet auf außen- und friedenspolitischem Gebiet, wo angesichts all der Lügen und platten Propagandaschlachten der Herrschenden gerade das differenzierende Argument notwendiger denn je erscheint und für Bürgerinnen und Bürger letztendlich auch am überzeugendsten ist. Wir müssen begreifen, dass ein geeintes friedliches Europa nie zustande kommt, wenn wir unsere eigenen Vorstellungen zum alleinigen Maß aller Dinge erheben.

*Die Autorin ist Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und Abgeordnete der linkssozialistischen Fraktion.

Aus: Freitag 02, 13. Januar 2006


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