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Über den Wendekreis des Krebses hinaus

Gratwanderung am Hindukusch und anderswo: Soll die Bundeswehr das Grundgesetz überall auf der Welt "verteidigen"?

Von Norman Paech*

Der noch amtierende Bundestag hat in dieser Woche das Afghanistan-Mandat der Bundeswehr um ein Jahr verlängert und zugleich einer Aufstockung des Kontingents auf 3.000 Mann zugestimmt. Der Einsatz dient bekanntlich nicht nur eigener Landesverteidigung, sondern gilt auch als Muster für die erstrebte weltweite Interventionsfähigkeit deutscher Streitkräfte.

Jüngst fasste Verteidigungsminister Struck in einem Interview die künftige sicherheitspolitische Praxis in wenigen prägnanten Sätzen zusammen: "Unsere Spur wird die Transformation der Truppe sein. Dafür stehen zwei Sätze. Erstens: Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt. Er ist akzeptiert, auch wenn mir zu wenig darüber diskutiert wird. Der zweite Satz lautet: Einsatzgebiet der Bundeswehr ist die ganze Welt. Wer einer NATO-Response-Force zustimmt, wer dem Konzept der Battle-Groups zustimmt, muss wissen: Grundsätzlich müssen deutsche Soldaten bereit sein, an Orten Verantwortung zu übernehmen, an die wir heute noch nicht denken."[1]

Nehmen wir die Aufforderung ernst und diskutieren diese beiden Sätze, wie sich das der (Noch-)Verteidigungsminister wünscht.

Bereits das Grundgesetz widerspricht einem weltweiten Einsatz der Bundeswehr, schließlich definiert Art. 115 a den "Verteidigungsfall" eindeutig als Folge eines Angriffs auf das Bundesgebiet. Darüber hinaus nimmt Art. 26 GG das absolute Verbot von Angriffskriegen aus der UN-Charta auf. Auch mit dem NATO-Vertrag von 1949 ist ein klassisches Verteidigungsbündnis begründet worden, das die Bündnispflichten nach Art. 5 ausdrücklich in den Rechtsrahmen von Art. 51 der UN-Charta (Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung) stellt und territorial begrenzt: Der Angriff, mit dem der Verteidigungsfall ausgelöst wird, muss auf das Gebiet eines Mitgliedsstaates in Europa oder Nordamerika erfolgen; Inseln, Schiffe und Flugzeuge im nordatlantischen Raum "nördlich des Wendekreises des Krebses" eingeschlossen (Art. 6).

Moralische Imperative - rechtliche Korrektive

Minister Struck kann sich zweifellos auf die Neue NATO-Strategie berufen, die im April 1999 in Washington beschlossen wurde. Sie erweitert die militärische Funktion der Allianz um den "Auftrag zur Krisenbewältigung", doch wird der Krisen-Begriff dabei außerordentlich weit und variabel definiert, wenn formuliert wird: "Ungewissheit und Instabilität in und um den euroatlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses (...) Ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten können zu lokaler und selbst regionaler Instabilität führen. Die daraus resultierenden Spannungen können zu Krisen führen, die die euro-atlantische Stabilität berühren, sowie zu menschlichem Leid und bewaffneten Konflikten." Zudem könnten die Sicherheitsinteressen auch von nichtmilitärischen "Risiken umfassenderer Natur berührt werden, eingeschlossen Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie zur Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen." Damit mögen drohende Risiken treffend beschrieben sein, nur ergibt sich daraus in keinem Fall eine rechtswirksame Ermächtigung zur Intervention; denn das absolute Gewaltverbot der UN-Charta wird damit nicht aufgehoben.

Erinnern wir uns des Zeitpunktes für den Strategie-Beschluss. Während die NATO in Washington tagte, war die Bombardierung Jugoslawiens in vollem Gange. Die fehlende völkerrechtliche Legitimation für diesen ersten der drei großen Kriege unserer Zeit (es folgten die Invasionen in Afghanistan und im Irak) ist hinlänglich bekannt und wird unter Juristen allgemein eingeräumt. Liegt weder ein Fall von Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Charta vor, noch eine Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat nach Art. 42 UN-Charta, gilt das absolute Gewaltverbot gemäß Art. 2. Ziffer 4 der Charta. Deswegen waren die Bombardierung Jugoslawiens und des Iraks rechtswidrig, blieb die Berufung auf ein Selbstverteidigungsrecht der USA im Fall Afghanistans zumindest umstritten.

Dies war den NATO-Regierungen durchaus bewusst. Um nicht dem Vorwurf des Völkerrechtsbruchs ausgeliefert zu sein, bemühten sie sich daher, neben moralischen neue juristische Begründungen zu entwickeln beziehungsweise alte zu reanimieren. So griff man auf eine Figur des Völkerrechts aus der Ära vor den Vereinten Nationen zurück: die "humanitäre Intervention". Nicht zuletzt die USA haben während der achtziger Jahre bei ihren Operationen in Lateinamerika (der Grenada-Invasion 1983, der Verminung nicaraguanischer Häfen 1984, dem gewaltsamen Sturz Präsident Noriegas in Panama 1989) gern dieses Muster bemüht, ohne damit wirklich Gefolgschaft rekrutieren zu können.

Denn zentrale Mission der UNO bleibt die Friedenssicherung, der sich alles andere unterzuordnen hat. In Art. 103 der Charta steht: "Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang." Reibt sich also das Gewaltverbot an möglichen Verpflichtungen aus einem Menschenrechtspakt oder aus Bündnisentscheidungen wie den NATO-Angriffen auf Jugoslawien 1999, hat das Gewaltverbot Vorrang. Mit anderen Worten: Nach dem Rechtskodex der UN-Charta kann es keine Ausnahmen vom allgemeinen Gewaltverbot geben.

Dies hat 1986 der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag mit seinem Urteil wegen der feindseligen Akte der USA gegen Nicaragua bestätigt und so formuliert: "Die Vereinigten Staaten mögen ihre eigene Einschätzung hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte in Nicaragua haben, jedoch kann die Anwendung von Gewalt keine geeignete Methode sein, die Achtung der Menschenrechte zu überwachen oder zu sichern. Hinsichtlich der ergriffenen Maßnahmen (ist festzustellen), dass der Schutz der Menschenrechte - ein strikt humanitäres Ziel - unvereinbar ist mit der Verminung von Häfen, der Zerstörung von Ölraffinerien, oder ... der Ausbildung, Bewaffnung und Ausrüstung so genannter ›Contras‹. Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass das Argument, das von der Wahrung der Menschenrechte in Nicaragua hergeleitet wird, keine juristische Rechtfertigung für das Verhalten der Vereingten Staaten liefern kann."

Noch 1986 wies auch das britische Foreign Office auf zwingende politische Gründe für eine Ablehnung der "humanitären Intervention" als der dritten Ausnahme vom Gewaltverbot hin: "Die überwältigende Mehrheit der zeitgenössischen Rechtsmeinung spricht sich gegen die Existenz eines Rechts zur (einseitigen) humanitären Intervention aus, und zwar aus drei Gründen: erstens enthalten die UN-Charta und das Völkerrecht insgesamt offensichtlich kein spezifisches derartiges Recht; zweitens liefert die Staatenpraxis in den letzten 200 Jahren und besonders nach 1945 allenfalls eine Hand voll wirklicher Fälle einer humanitären Intervention, wenn überhaupt ... Schließlich spricht die Möglichkeit des Missbrauchs stark dagegen, ein solches Recht zu schaffen."[2]

Wenn sich die Regierung Blair auch nicht daran hielt, so haben die Argumente in den vergangenen Jahren doch nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Sie wurden nicht zuletzt bei einem Treffen der Außenminister aus der "Gruppe 77" am 24. September 1999 bestätigt. "Wir weisen das Recht auf humanitäre Interventionen zurück, welches keine Basis in der UN-Charta noch im internationalen Recht hat", heißt es in der Abschlusserklärung. Und ein Report des Foreign Affairs Committee des britischen Unterhauses vom 23. Mai 2000 qualifizierte das Vorgehen gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 als klar rechtswidrig: "Wir kommen zu dem Schluss, dass die Operation ›Allied Force‹ den spezifischen Vorschriften dessen widersprach, was als grundlegendes Recht der internationalen Gemeinschaft bezeichnet werden kann - die UN-Charta."

Präventive Militärschläge - präventive Gerichtsurteile

Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Alle Versuche, militärische Handlungen über die völkerrechtlichen Grenzen der Selbst- und Kollektiv- Verteidigung (Art. 51 UN-Charta) auf Krisenbewältigung und Risikovorsorge auszudehnen, scheitern - zur Zeit noch - an der klaren Dogmatik der UN-Charta. Sie aus Gründen moralischer Imperative oder einzelstaatlicher (vorzugsweise ökonomischer) Interessen zu relativieren, wird zwar immer wieder versucht, hat aber bisher keine namhafte Zustimmung bei einer Mehrheit der UN-Mitglieder finden können.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 bekam diese Debatte freilich einen immensen Schub. War in der Neuen NATO-Strategie bereits der globale Kriseneinsatz festgeschrieben - sprich: die Entterritorialisierung und Entgrenzung des Bündnisgebiets - so sollte mit dem Kampf gegen den Terrorismus nun auch die zeitliche Begrenzung des Art. 51 der UN-Charta aufgehoben werden. Der Einsatz militärischer Gewalt müsse räumlich wie zeitlich unbegrenzt möglich werden, hieß es. Schon die bloße Vermutung, dass einer der so genannten "Schurkenstaaten" über atomare, chemische oder biologische Massenvernichtungswaffen verfüge, rechtfertige Präventiv-Schläge.

Für die US-Administration gilt das Prinzip "Präventivverteidigung" inzwischen als zentrale strategische Option, verankert in der National Security Strategy vom 17. September 2002, zur Anwendung gebracht erstmals im März 2003 gegen den Irak. Die entscheidende Passage lautet: "Die Vereinigten Staaten haben sich seit langem die Option auf präemptive Handlungen offengehalten, um einer hinreichenden Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit begegnen zu können. Je größer die Bedrohung, desto größer das durch Untätigkeit entstehende Risiko - und desto zwingender das Argument für antizipatorische Selbstverteidigung (...). Die Vereinigten Staaten werden gegebenenfalls präemptiv handeln, um solche feindlichen Akte unserer Gegner zu vereiteln oder ihnen vorzubeugen."

Ein Jahr später übernahm auch die EU für ihre im Aufbau befindlichen Krisenreaktionskräfte - die "Battle-Groups" - die Option von den zeitlich und räumlich unbegrenzten militärischen Interventionen. Im "Solana-Papier", das vom Europäischen Rat im Dezember 2003 als "Europäische Sicherheitsstrategie" verabschiedet wurde, ist zu lesen: "Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das während des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art. Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden." Und an anderer Stelle: "Wir müssen eine Strategie-Kultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches, wenn nötig robustes Eingreifen fördert... Als eine Union von 25 Mitgliedsstaaten, die mehr als 160 Milliarden Euro für Verteidigung aufwenden, sollten wir mehrere Operationen gleichzeitig durchführen können."

Die Kriterien einer vorbeugenden Selbstverteidigung wurden nach dem Zweiten Weltkrieg und bei der Erarbeitung der UN-Charta zwar stets zitiert, aber immer außerordentlich eng gefasst. Sie sollten nur für Fälle gelten, bei denen es "einen überzeugenden Beweis nicht nur bloßer Drohungen und möglicher Gefahren gibt, sondern eines bereits vorbereiteten Angriffes, wenn davon gesprochen werden kann, dass ein Angriff schon begonnen hat, obwohl er noch nicht die Grenze überschritten hat." Ein solcher Fall lag weder bei Jugoslawien 1999 noch bei Afghanistan 2001 noch bei der Irak-Invasion 2003 vor - eine reklamierte allgemeine Terrorismus-Gefahr kann diesen Kriterien schon gar nicht entsprechen.

Die Doktrin der Präventivverteidigung bedeutet aber nicht nur, dass die UN-Charta verletzt wird, sie verfolgt vor allem das Ziel, neues Völkerrecht zu schaffen - durch die staatliche Praxis zur Veränderung von Art. 51 UN-Charta, um neues Recht einzuführen und neue Standards zu setzen. Bisher ist die gewohnheitsrechtliche Revision des völkerrechtlichen Verteidigungsbegriffs, wie sie die USA und die NATO durch ihre Interventionspraxis durchsetzen wollen, noch daran gescheitert, dass eine Mehrheit der Staaten klar dagegen ist, auch wenn daraus zu wenig substanzielle politische Macht zur Verteidigung der UN-Charta erwächst.

Wirksamer scheint überraschenderweise derzeit eine Kritik zu sein, die aus unerwarteter Richtung kommt: aus den nationalen Armeen und von den Gerichten. Die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen im Fall des Majors Pfaff während des Irak-Krieges wurde deshalb anerkannt, weil seine Motive - der Völkerrechtswidrigkeit dieses Krieges geschuldet - ernsthaft und nachvollziehbar waren und vom Bundesverwaltungsgericht geteilt wurden. Man kann aus diesem Urteil schließen, dass künftig jeder Fall präventiver Verteidigung gegenüber einer Dienstverweigerung aus Gewissensgründen unterlegen sein wird. Eine Perspektive, die nicht nur Juristen mit Genugtuung erfüllen müsste, da Recht gerade in diesem sensiblen Bereich der Politik wieder die Bedeutung erhält, die ihm in einer Demokratie zukommt.

[1] Frankfurter Rundschau. 2. 6. 2005

[2] Siehe UK Foreign Office Policy Document, Nr. 148, British Yearbook of International Law 57/1986


Norman Paech ist einer der bekanntesten deutschen Völkerrechtler. Nach Jura-Studium und Promotion in Tübingen, München, Paris und Hamburg war er am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik eingeschrieben. Von 1968 bis 1972 arbeitete er im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit. Seit 1974 wirkte er als Professor in Hamburg, zuletzt auf dem Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der dortigen Universität (bis zu seiner Emeritierung 2003). 1999 beriet er das Anwaltsteam von PKK-Chef Abdullah Öcalan. Paechs jüngste Veröffentlichung ist das 1000seitige Handbuch Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen (mit Gerhard Stuby).



* Aus: Freitag 39, 30. September 2005


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