Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Hindukusch ist die Metapher für die Großmachtrolle, die Deutschland wieder zu spielen bereit ist"

Brief und Informationen von Winni Nachtwei (MdB-Grüne) - eine Stellungnahme von Peter Strutynski und eine Presseerklärung von Norman Paech (MdB-Linkspartei.PDS)

Der Bundestag beschloss am 28. September 2005 die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes (siehe Auszüge aus der Debatte). Hierzu hatten der Bundesausschuss Friedensrataschlag und die "Kooperation für den Frieden" einen Appell bzw. "Offenen Brief" an die Abgeordneten geschickt, die wir hier dokumentiert hatten: "Friedensbewegung: Afghanistan-Einsatz beenden".
Von Winfried Nachtwei (Grüne) erhielten wir nun einen Brief mit einer längeren Stellungnahme, die wir im Folgenden dokumentieren.
Im Anschluss daran folgt die Stellungnahme von Peter Strutynski als einem der Sprecher des "Friedensratschlags", die er anlässlich des Protestes der Fraktion der Linkspartei.PDS und der Friedensbewegung (es war ein schwacher und verregneter Protest) abgab.
Die Linksfraktion selbst kommt zu Wort in Form einer Presseerklärung des Abgeordneten Prof. Dr. Norman Paech (Hamburg): "Keine Mandatsverlängerung sondern Beendigung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan".



Lieber Peter Strutynski,
vielen Dank für Eure Stellungnahme, die - auch wenn ich sie inhaltlich nicht teile - hoffentlich zu mehr öffentlicher Diskussion um ein Thema führt, das üblicherweise viel zu wenig Aufmerksamkeit erfährt.

In Anlage übersende ich Euch meine Stellungnahme an meine FraktionskollegInnen, in der schon einige der von Euch angesprochenen Punkte angesprochen sind.

Ihr behauptet, Deutschland sei als Krieg führende Partei in Afghanistan nicht geeignet, wirksame zivile Aufbauhilfe zu leisten.

Diese Behauptung ist eine ideologische Ableitung, die mit der Wirklichkeit vor Ort nichts zu tun hat. Fakt ist, dass die Bundesrepublik im Rahmen der von der UN koordinierten und vom Sicherheitsrat mandatierten internationalen Stabilisierungsunterstützung einen erheblichen Beitrag leistet - diplomatisch, zivil, militärisch und polizeilich. Diese Maßnahmen dienen eindeutig der Gewalteindämmung und Kriegsverhütung und werden von der großen Mehrheit der Einheimischen hoch geschätzt. Mit Eurer Abzugsforderung verkennt Ihr, dass in Afghanistan Entwicklung ohne ein Mindestmaß an Sicherheit und aufzubauender Rechtsstaatlichkeit nicht zu haben ist. Und in einem so fragmentierten und gewaltaufgeladenen Umfeld ist Sicherheit ohne eine UN-mandatierte Friedenstruppe nicht zu haben. Eure Forderung läuft darauf hinaus, den enormen Gewaltpotenzialen der afghanischen Gesellschaft, den Warlords, Taliban- und Al-Qaida-Resten sowie anderen Terrorgruppen das Feld zu überlassen - und die zarten Ansätze Ansätze von Wiederaufbau, Zivilgesellschaft, demokratischen Ansätzen sowie die UN im Stich zu lassen. Was das mit Friedensförderung zu tun hat, bleibt Euer Geheimnis.

Über die KSK-Einsätze werden die Obleute des Verteidigungsausschusses (also auch ich) regelmäßig unterrichtet. In der Tat wäre es notwendig, wenn die Bundesregierung hier die Geheimhaltung auf das zum Schutz von Operationen und Personen notwendige Maß beschränken würde und insgesamt offener mit diesen Einsätzen umgehen würde. Entgegen den z.B. vom stern gebrachten Gerüchten bleiben KSK-Soldaten eindeutig an Recht, Gesetz und Völkerrecht gebunden. Zu Ihrem Auftrag gehört ausdrücklich nicht die Drogenbekämpfung.

Für mich bleibt nicht nachvollziehbar, wie Ihr mit dem hohen Anspruch von Friedensbewegung vereinbaren könnt, so ignorant mit den Vereinten Nationen und ihrer Afghanistanpolitik umzugehen. Offenbar gibt es den Multilateralismus a la carte nicht nur auf Seiten der Bush-Administration.

Mit besten Grüßen
Winni Nachtwei


Winni Nachtwei: Information zur 4. ISAF-Verlängerung (26.09.2005):

Friede in Sicht?

Oder immer mehr Soldaten in ein Fass ohne Boden?


Am 28. September soll der „alte“ Bundestag über den Antrag der Bundesregierung abstimmen, die Bundeswehrbeteiligung an der International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan um weitere 12 Monate zu verlängern und die Obergrenze von 2.250 Soldaten auf 3.000 anzuheben. Außerdem sollen Bundeswehrsoldaten unter bestimmten Bedingungen auch in anderen Teilen Afghanistans eingesetzt werden können.

Auch wenn der Bundestag schon viermal zu ISAF beraten und beschlossen hat und im Wahlkampf Außenpolitik keine Rolle gespielt hat, so ist die Bundestagsitzung am 28. September keineswegs eine Routineangelegenheit: Mehr Soldaten werden in einen erweiterten Einsatz mit erheblichen Risiken für Leib und Leben und hohen Kosten entsandt. In der Öffentlichkeit, aber auch bei Soldaten gibt es Zweifel an Sinn und Wirksamkeit des Einsatzes. Die PDS/Linkspartei brandmarkt diesen Einsatz als „Kriegseinsatz“ und fordert vehement den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan.
  • Ist die Verlängerung und Ausweitung des Bundeswehreinsatzes dringend notwendig und verantwortbar – oder überflüssig, zu gefährlich für die eingesetzten Soldaten, schädlich für den Friedensprozess in Afghanistan und deshalb nicht zu verantworten?
  • Ist das nicht alles ein Kampf gegen Windmühlenflügel und ein Fass ohne Boden, wo einzig die Drogenökonomie und die Herrschaft der Warlords wachsen und gedeihen?
Zusammenfassung:
  • Die Bundesrepublik leistet sowohl im zivilen, aber auch im polizeilichen und militärischen Bereich einen herausragenden Beitrag zum afghanischen Wiederaufbau. Der Aufbau funktionierender staatlicher und zivilgesellschaftlicher Strukturen in Afghanistan ist in den vergangenen Jahren gut vorangekommen. Er wird aber auch in den kommenden Jahren noch der umfassenden zivilmilitärischen Unterstützung von außen bedürfen. Hierzu gehört auch die Unterstützung im Sicherheitssektor. Ohne Sicherheit gibt es keine Aussicht auf eine friedliche Nachkriegsentwicklung.
  • keine friedenspolitisch verantwortbare Alternative. Die Alternative wäre der Abzug der Bundeswehr. Das hätte absolut destruktive Auswirkungen und wäre sicherheits- und friedenspolitisch unverantwortlich. Der Rückzug des größten und in der afghanischen Bevölkerung besonders angesehenen Kontingents würde die Handlungsfähigkeit der ISAF - und damit auch der Vereinten Nationen - enorm beeinträchtigen und schädigen.
  • Die Erhöhung der Obergrenzen und die räumliche Flexibilisierung sind angesichts der dringlichen ISAF-Ausweitung notwendig und angemessen. Da auch andere Partnernationen aufstocken, bleibt die Lastenverteilung einigermaßen ausgewogen. Die Operationen ISAF und OEF müssen weiterhin auseinander gehalten werden.
(1) ISAF-Auftrag

Zur Klarstellung: Hier geht es um die deutsche Beteiligung an der UN-mandatierten ISAF-Stabilisierungstruppe und nicht um einen Kampfeinsatz im Rahmen der US-geführten Antiterror-Operation „Enduring Freedom“ (OEF).

Der Auftrag von ISAF ist unverändert, Afghanistan bei der Herstellung von Sicherheit so zu unterstützen, „dass die afghanischen Staatsorgane als auch das Personal der UN und anderes internationales Zivilpersonal, insbesondere solches, das dem Wiederaufbau und humanitären Aufgaben nachgeht, in einem sicheren Umfeld arbeiten können.“ (Antrag Bundesregierung)

Die Bundesrepublik folgt damit der Resolution 1623 des UN-Sicherheitsrates vom 13. September. Die Lage in Afghanistan wird weiterhin als Bedrohung der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens bewertet. Bekräftigt wird die Notwendigkeit, die Autorität der Zentralregierung auf alle Teile Afghanistans auszuweiten, die demokratischen Werte zu respektieren, den Entwaffnungs-, Demobilisierungs- und Reintegrationsprozess zu vollenden, die Sicherheitssektorreform und die Bekämpfung von Drogenhandel und –produktion voranzubringen. Ausdrücklich begrüßt wird die Zusage der NATO, weitere Regionale Wiederaufbauteams (PRT) einzurichten.

Laut Antrag der Bundesregierung sollen die bisherigen regionalen Obergrenzen (von den 2.250 maximal 450 im Raum Kunduz/NO-Afghanistan) aufgehoben werden. Stattdessen heißt es jetzt. „Deutsche Streitkräfte werden in den ISAF-Regionen Kabul und Nord eingesetzt. Darüber hinaus können sie in der ISAF-Region West sowie im Zuge der weiteren ISAF-Ausdehnung in anderen Regionen für zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstützungsmaßnahmen eingesetzt werden, sofern diese Unterstützungsmaßnahmen zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrages unabweisbar sind.“

(2) Zur Erinnerung: Worum es in Afghanistan geht

In früheren Jahrzehnten war Afghanistan immer wieder Spielball von (Groß-)Machtinteressen, die erheblich zur „Gewaltkultur“ des Landes beitrugen. Die internationale Gemeinschaft engagiert sich seit Ende 2001 so massiv für den Aufbau Afghanistans, weil das Afghanistan der Taliban der bedeutsamste Ausbildungs- und Rückzugsraum für internationale Terroristen war. Zehntausende Kämpfer durchliefen die afghanischen Trainingscamps.

Mit der Petersberg-Konferenz im Dezember 2001 begann der schrittweise Aufbau eines Landes, das von 23 Kriegsjahren zerstört und zerrissen war und das noch nie eine wirkliche Zentralregierung erlebt hatte. Am Hindukusch wird nicht „Deutschland verteidigt“, wie es Minister Struck immer wieder verkündet. Dort geht es weder um die Existenz der Bundesrepublik, noch um das Recht auf nationale Selbstverteidigung. Es geht dort aber um zentrale internationale, europäische und deutsche Sicherheitsinteressen, die im Rahmen der UN und ihres Fundamentalauftrages der Friedenssicherung verfolgt werden. Zum Interesse an der Eindämmung des internationalen Terrorismus ist inzwischen das Interesse an der Bekämpfung der Opiumproduktion gekommen.

In der öffentlichen Wahrnehmung der internationalen Afghanistan-Politik stehen meist die internationalen Militäreinsätze im Mittelpunkt. Demgegenüber ist ausdrücklich zu betonen: Das internationale Engagement ist vorrangig ein politisches mit militärischen, humanitären, entwicklungspolitischen Komponenten. Die Grundlinie ist Unterstützung der afghanischen Zentralstaatlichkeit in ihrem Aufbauprozess und nicht ihr Ersatz (wie z.B. das UN-Protektorat im Kosovo).

Ziel des von der UN koordinierten internationalen Afghanistan-Engagements ist, im ärmsten Land Asiens die Herausbildung einigermaßen stabiler und menschenrechtskonformer Strukturen und Verhältnisse zu fördern. Das ist ein gigantisches und hochkomplexes Unterfangen, das es in dieser Dimension noch nicht gegeben hat. Erwartungen, Afghanistan könne sich binnen weniger Jahre „freischwimmen“, sind illusionär. Im Nachkriegsdeutschland waren die Ausgangsbedingungen vergleichsweise günstiger – und es dauerte viele Jahre.

Erfahrungen mit extern gestützten Nation- und State-Building-Prozessen zeigen: Schnelle Erfolge sind gerade nach Bürgerkriegen und der damit einhergehenden internen Verfeindung nicht zu haben, es braucht langen Atem auf allen Seiten.

Erste Voraussetzung ist die Herstellung eines Minimums an Sicherheit. Es gibt keine Entwicklung ohne Sicherheit, aber auch keine Sicherheit ohne Entwicklung.

Diese Sicherheit soll in drei Bereichen hergestellt werden:
  • Mit der US-geführten Operation „Enduring Freedom“/OEF (ca. 18.000 Soldaten) werden Taliban- und Al-Qaida-Reste und andere „oppositionelle militante Kräfte“ (z.B. Heckmatjar) militärisch bekämpft. Diese Kräfte operieren in den östlichen Grenzprovinzen zu Pakistan, wo sie verdächtig viel Unterschlupf, Ausbildung und Nachschub finden, sowie in den Südprovinzen Kandahar, Uruzgan und Zabul Gemäß Bundestagsbeschluss zur deutschen Beteiligung an OEF kamen zeitweilig bis zu 100 Spezialsoldaten des Kommando Spezialkräfte in Afghanistan zum Einsatz. Sie sollen nach Medienberichten fast nur zur Spezialaufklärung eingesetzt worden sein. Die Obleute des Verteidigungsausschusses (darunter ich) werden regelmäßig hierüber unterrichtet. Vorwürfe, die KSK-Soldaten würden im Rahmen der Drogenbekämpfung gegen Drogenbarone eingesetzt und würden dabei zu „Todesschwadronen“ (Freitag), entsprechen nicht der Wahrheit und sind eine Unterstellung. KSK-Soldaten sind strikt an den Bundestagsbeschluss, an Recht und Gesetz gebunden.
    Der Bundestag wird sich im November erneut mit der deutschen Beteiligung an OEF befassen. Die Rundum-Geheimhaltung bei OEF erschwert ihre Kontrolle und begünstigt Gerüchte und Desinformation. Im Raum steht immer wieder der Vorwurf, OEF-Operationen seien oft kontraproduktiv.
  • Die UN-mandatierte ISAF-Friedenstruppe leistet seit Anfang 2002 in Kabul, seit 2003 zunehmend in anderen Landesteilen Sicherheitsunterstützung. ISAF umfasst zzt. ca. 9.000 Soldaten aus 36 Nationen. Deutschland ist mit ca. 2.200 Soldaten größter Truppensteller. Für 2005 waren hierfür im deutschen Militäretat 321 Mio. € eingeplant.
  • Die Reform des Sicherheitssektors: Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration (DDR), Aufbau von Polizei, Justiz und Armee, Drogenbekämpfung (s.u.). Beim Polizeiaufbau hat die Bundesrepublik die internationale Lead-Rolle: Inzwischen mehr als 40 hoch qualifizierte deutsche Polizeibeamte von Bundes- und Länderpolizeien sowie BKA leisten als Polizeiberater ausnehmend effiziente Aufbauarbeit.
Für den Wiederaufbau wurden auf der Berliner Afghanistan-Konferenz im März 2004 8,2 Mrd. US-$ für die nächsten drei Jahre zugesagt, davon 4,4 Mrd. für das laufende Haushaltsjahr. Deutschland hat für 2005-2008 320 Mio. € zugesagt. Das deutsche Auswärtige Amt gibt jährlich 30 Mio. € für Projekte in den Schwerpunktbereichen
  • Aufbau und Stärkung der Zivilgesellschaft, von Menschenrechten und Demokratie einschließlich politischer und administrativer Infrastruktur,
  • Aufbau von Polizei und Grenzpolizei (12 Mio. €)
  • Förderung des Bildungssektors und insbesondere von Frauen und Mädchen.
  • Für die humanitäre Minenräumung durch afghanische NGO`s (z.B. das Minensuchhundezentrum in Kabul) stehen 3,1 Mio. € zur Verfügung.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit konzentriert sich auf die Schaffung von Arbeitsplätzen durch Förderung der Privatwirtschaft und von Investitionen, den Aufbau einer ökologisch tragfähigen Energieversorgung, die Bereitstellung von sauberem Trinkwasser und Verbesserung des Grundbildungssystems. Regional konzentriert sich die Bundesregierung auf den Nordosten, die westlichen Provinzen sowie Kabul.

(3) Was bisher (nicht) geschafft wurde

Das Afghanistan-Bild hierzulande wird dominiert von „bad news“ über Gewaltzwischenfälle, Opiumanbau und Warlords. Periodisch entsteht der Eindruck, als verschlechtere sich die Sicherheitslage immer mehr. In der Tat hat die Anzahl der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle wieder das Vorjahrsniveau erreicht. Allerdings ist die Lageentwicklung in den verschiedenen Regionen recht unterschiedlich. In einem Teil der Grenzprovinzen zu Pakistan im Osten sowie in den o.g. Südprovinzen ist die Lage prekär. Laut Afghanistan-Bericht des UN-Generalsekretärs an UN-Generalversammlung und Sicherheitsrat vom 12. August ist die Waffentechnik der Militanten raffinierter und ihre Taktik brutaler und effektiver und nun auch gegen kommunale Führer gerichtet. Sie sind besser organisiert und finanziert. Zwischen den Koalitionskräften und der militanten Opposition soll eine Pattsituation herrschen.

In den ISAF-Regionen im Norden und Westen hingegen hat sich die Sicherheitslage gegenüber dem Vorjahr deutlich verbessert. ISAF agiert nicht als Besatzungsarmee, sondern tatsächlich als unterstützende „Schutztruppe“. Vor Ort habe ich erlebt, wie ISAF ihre nach militärischen Maßstäben relative Schwäche (90 Soldaten auf den Straßen eines chaotischen 500.000-Menschen-Stadtteils von Kabul!) durch kluges Agieren in politische Stärke verwandelt. Bei der Masse der Bevölkerung ist sie wegen ihres Auftretens und ihrer konkreten Nützlichkeit hoch angesehen, bei Machthabern respektiert. ISAF ist kein Kriegseinsatz, sondern ein Kriegsverhinderungseinsatz. Wäre ISAF eine Besatzungsarmee, könnte sie sich keinen Tag halten!

Eine gefährliche Eskalationsdynamik kann aus solcher Art Demonstrationen entstehen, wie sie nach einem Newsweek-Artikel über eine Koran-Schändung in Guantanamo auch in Afghanistan an verschiedenen Orten und gewalttätig stattfanden. In Feyzabad konnte der PRT-Kommandeur zur Beruhigung der Lage beitragen.

Wo hierzulande die einen den Bundeswehreinsatz für zu gefährlich halten, andere dem Bundeswehrkontingent ein risikoscheues und zu wenig robustes Auftreten vorwerfen, scheint mir die Gesamtbilanz ausgesprochen positiv zu sein.

Die relative Sicherheit in Teilen Afghanistans ermöglichte die freiwillige Rückkehr von bisher 4 Mio. Flüchtlingen aus den Nachbarländern. Pro Woche kehren ca. 10.000 Menschen im Rahmen des UNHCR-Rückkehrer-Programms aus Pakistan und Iran in ihre Heimat zurück. Bis Ende Juni wurden 62.900 Angehörige legaler Milizen entwaffnet, demobilisiert und in Reintegrationsprogramme übernommen. 98% der bekannten schweren Waffen wurden sichergestellt. Inzwischen ist ein Folgeprogramm angelaufen, mit dem die ca. 80.000 Bewaffneten der landesweit 679 illegalen Milizen binnen 12-18 Monaten auf freiwilliger Grundlage entwaffnet werden sollen.

Sowohl die Präsidentschaftswahlen im Herbst 2004 wie auch die jüngsten Parlamentswahlen konnten durchgeführt werden – entgegen der ausdrücklichen Drohung der militanten Opposition, sie verhindern zu wollen. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass insbesondere die jüngsten Parlamentswahlen ihre erheblichen Defizite hatten, angefangen beim Wahlrecht, das nur Einzelkandidaten zuließ, oder der Kandidatur etlicher Machthaber mit sehr blutigen Händen.

Das Friedensgutachten 2005 kommt zu dem Ergebnis: „Die Stabilisierung Afghanistans hat große Fortschritte gemacht, auch wenn es keinen Grund gibt, das Erreichte für mehr als nur Zwischenziele zu halten. (…) Im Norden des Landes sind politische und wirtschaftliche Fortschritte zu verzeichnen, während die Entwicklung im Süden des Landes kaum vorangeht. (…) Wenn das Engagement der internationalen Gemeinschaft nachlässt, obwohl die geschaffenen Strukturen nicht selbst tragen, besteht deshalb nach wie vor die Gefahr eines Rückfalls in eine instabile Sicherheitslage und gesellschaftliches Chaos.“ (S. 60)

Der Afghanistan-Experte Conrad Schetter: „Drei Jahre nach dem Fall der Taliban hat sich die Situation in Afghanistan grundsätzlich verbessert. Die verschiedenen Etappen des Friedensprozesses konnten, wenn auch mit Verzögerungen, eingehalten und eine gewisse politische Ordnung etabliert werden. (…) Auch die allgemeine sozioökonomische Situation der Bevölkerung hat sich verbessert. Sofern die internationale Gemeinschaft ihr militärisches wie entwicklungspolitisches Engagement beibehält, hat Afghanistan in 15-20 Jahren die Chance einer Friedenskonsolidierung und kann damit zu einem der wenigen positiven Beispiele internationaler Interventionspolitik werden.“ (FES-Analyse Mai 2005)

Siba Shakib, die iranische Filmemacherin und Autorin des Bestsellers „Nach Afghanistan kam Gott nur noch zum Weinen“, kennt Afghanistan aus den Zeiten vor, während und nach den Taliban. Noch am 15. September konstatierte sie bei einer Veranstaltung in Münster: „In vier Jahren ist unglaublich viel und schnell was passiert.“ Ohne ISAF würde alles wie ein Kartenhaus zusammenbrechen.

(4) Regionale Ausweitung

Die quantitative Aufstockung und räumliche Ausdehnung des Bundeswehrbeitrags entspricht dem Ausdehnungsprozess von ISAF auf das ganze Land. Seit 2002 hatten die afghanischen Autoritäten und die UN die Ausbreitung von ISAF auf andere städtische Gebiete außerhalb Kabuls gefordert. Im Sommer 2003 fand diese Forderung eine sehr ungewöhnliche Verstärkung. 79 internationale Nichtregierungsorganisationen forderten in einem Aufruf die ISAF-Ausdehnung auf das ganze Land unter NATO-Führung. Nur so könne die in Kabul begonnene Stabilisierung auch landesweit fortgesetzt werden. Wegen der Größe des Landes und der begrenzten Unterstützungsbereitschaft der Staaten war von vorneherein an eine Voll-Ausdehnung nicht zu denken. Stattdessen wurde der US-Ansatz von relativ kleinen Regionalen Wiederaufbauteams (PRT) aufgenommen und weiter entwickelt. PRT`s mit ihren 100-200 Soldaten haben keine direkte Erzwingungsmacht und müssen umso mehr durch Präsenzpatrouillen, Verbindungsarbeit gegenüber den lokalen Autoritäten und etwas Zivil-militärische Zusammenarbeit wirken. Im schlimmsten Fall sind PRT`s völlig von OEF-Unterstützung und –Evakuierung abhängig.

Die Bundesrepublik übernahm von den US-OEF-Streitkräften ein PRT im Nordosten (Kunduz) und etablierte hier eine so dichte diplomatisch-militärisch-polizeilich-zivile Zusammenarbeit, wie es sie bisher nicht gegeben hat. Wider den damaligen Trend, PRT unter OEF laufen zulassen, betrieb die Bundesregierung – von uns ermutigt - erfolgreich die Unterstellung des PRT unter ISAF.

Das war der Anstoß dafür, dass die NATO sich den Aufbau eines Netzes von PRT als ISAF-Inseln vornahm. Die meisten NATO-Staaten verhielten sich lange ausgesprochen zögerlich. Trotz aller Beteuerungen, dass Afghanistan der Lackmustest bei der Zurückdrängung des internationalen Terrorismus sei, war Ihnen das Irak-Abenteuer im Schlepptau der USA wichtiger. Erst in diesem Jahr verstärken auch andere Staaten ihr Engagement. Kanada will sein Kontingent von 900 auf 2.150 aufstocken, Frankreich von 530 auf über 800. Schrittweise soll das ISAF-Netz von der Region Nord über West und Süd nach Ost ausgeweitet werden. Die Bundesrepublik hat die Funktion des ISAF-Regionalkoordina-tors im Norden übernommen, Italien dito. Im Westen, Großbritannien ab 2006 im Süden. Zzt. gibt es 19 PRT, davon 7 unter ISAF/NATO-Führung. Die Bundesrepublik führt die PRT`s Kunduz und Faisabad in der Opiumhochburg Badakhshan. Diese PRT`s werden durch je 40 dänische und tschechische, 10 ungarische sowie einzelne belgische rumänische, schweizerische und französische Soldaten unterstützt.

Anfänglich warnte ein Teil von NGO`s (z.B. Ärzte ohne Grenzen) vor den PRT`s, weil durch ihr Auftreten die Unabhängigkeit humanitärer Hilfe gefährdet werde und weil sie zu Magneten für vermehrte Anschläge würden. Richtig ist, dass bei aller notwendigen zivil-militärischen Zusammenarbeit die Unabhängigkeit humanitärer Hilfe ein hohes Gut ist und geachtet werden muss. Zugleich ist eine gewisse Kooperation und Koordination unabdingbar. Etliche der insgesamt ca. 2.400 NGO`s sind auch zunehmender Kritik ausgesetzt, weil sie erhebliche Teile von Hilfsgeldern absorbieren und Afghanen z.T. die Arbeit wegnehmen.

Der Vorwurf, PRT`s würden die Sicherheitslage verschlechtern, verkennt, dass es über die Arbeitsbedingungen von NGO`s hinaus um die Förderung der Regierungsautorität und Eindämmung privatisierter Gewalt, um Institutionenaufbau, DDR-Prozesse und Drogenbekämpfung geht. Das alles ist in einer gewaltträchtigen Gesellschaft ohne Rückendeckung durch Friedenstruppen nicht zuhaben. Nach aller Erfahrung – zuletzt im Kosovo während der Märzunruhen – ist es für eine Operationsführung von zentraler Bedeutung, die sowieso nur begrenzt vorhandenen Kräfte im Bedarfsfall flexibel einsetzen zu können. Dem trägt die konditionierte Ausweitung des Bundeswehreinsatzgebietes Rechnung, ohne dabei einen unbegrenzten Einsatz von Bundeswehrsoldaten in allen Landesteilen und damit eine grundlegende Veränderung des Einsatzprofils zu ermöglichen.

ISAF und OEF müssen weiter getrennte Operationen bleiben. Zu unterschiedlich sind ihr Auftrag, ihre Wirksamkeit, ihre Akzeptanz in der Bevölkerung und ihre Mandatierung durch die UN. Eine Zusammenlegung, wie von den USA gewünscht und der Union unterstützt, würde den bisherigen Erfolg von ISAF untergraben. Diese Haltung teilen erfahrene deutsche ISAF-Offiziere wie auch Minister Struck. Zugleich sind Kommunikation und Koordination unabdingbar und bei einem Umkippen der Sicherheitslage für ISAF überlebensnotwendig.

Das Verhältnis zwischen ISAF und OEF wird dann zu einem akuten Problem, wenn ISAF PRT`s ab 2006 auch im Süden und später Osten, also im bisherigen Operationsgebiet von OEF übernimmt.

(5) Drogenbekämpfung

87% der Weltopiumproduktion stammt aus Afghanistan. In diesem Jahr entspricht der Wert der Opiumexporte 52% des BIP. Afghanistan droht ein Narcostate zu werden, wodurch die bisherigen Fortschritte unterminiert werden. Für manche ist das ein Beleg für die angebliche Erfolglosigkeit von ISAF. Statt Opiumproduktion und –handel zu behindern, erleichtere ISAF die Rauschgiftökonomie – so der Spiegel-Report „Der schizophrene Krieg“ (31/2005).
Zur Klarstellung: Die Opiumproduktion begann nicht mit ISAF, sondern nach dem sowjetischen Einmarsch 1980 mit 200 to. Über 1.600 to in 1990 erreichte sie 1999 mit 4.600 to ihr bisheriges Maximum. Nach den nur 200 to im – rigide durchgesetzten - Verbotsjahr 2001 schnellte die Produktion in 2002 auf 3.400 und 2004 auf 4.200 hoch.

Verantwortlich für die Drogenbekämpfung ist die afghanische Regierung. Koordiniert durch Großbritannien als Lead-Nation unterstützt die Staatengemeinschaft sie dabei massiv.

Eine so extensive Drogenökonomie wie in Afghanistan lässt sich weder mit einem „Krieg gegen die Drogen“, noch mit bloßer ländlicher Entwicklung bekämpfen. Wirksame Drogenbekämpfung gibt es nur mit einer ganzheitlichen Strategie, wo Aufbau afghanischer Drogenbekämpfungskapazitäten, alternative Einkommensmöglichkeiten, Repression gegen Mohnfelder, Labore, Drogenhandel und Hintermänner, Ächtung der Drogen und Öffentlichkeitsarbeit, Bekämpfung der Korruption und grenzüberschreitende Zusammenarbeit unbedingt zusammengehören. Die Wirksamkeit der Drogenbekämpfungsstrategie hängt entscheidend davon ab, wieweit ihre verschiedenen Elemente tatsächlich ausgewogen miteinander verbunden sind. Andernfalls könnte der gesamte Stabilisierungsprozess zerstört werden: Ohne repressive Maßnahmen würde sich schnell ein Drogenstaat etablieren; eine großflächige Repression hingegen könnte zu einer „Drogen-Volksfront“ führen und die sowieso schon prekäre Sicherheitslage schnell umkippen und unbeherrschbar werden lassen. Die von der afghanischer Regierung und internationaler Gemeinschaft gemeinsam erarbeitete Drogenbekämpfungsstrategie stellt die Schaffung alternativer Einkommensmöglichkeiten für Mohnbauern in den Vordergrund gegenüber einer schnellen und großflächigen Vernichtung von Mohnfeldern.

Daraus resultiert für die Rolle der Bundeswehr: Keine Beteiligung an Maßnahmen der direkten (repressiven) Drogenbekämpfung, aber sehr wohl Unterstützung der afghanischen Drogenbekämpfungsstrategie durch Beteiligung an der Aufklärungs- und Informationsarbeit für die afghanische Bevölkerung (z.B. über den sehr wirksamen ISAF-Sender), Unterstützung der afghanischen Regierung und ihrer internationalen Partner bei deren repressiven Maßnahmen außerhalb militärischer Operationen, insbesondere durch Koordinierungsmaßnahmen, Aufklärung und Informationsaustausch, Absicherung des Polizeiaufbaus und allgemeinen Wiederaufbaus, Aufbauhilfe für die afghanischen Streitkräfte, logistische und sanitätsdienstliche Unterstützung für die Führungsnation Großbritannien. „Bei direkter Konfrontation mit der Drogenkriminalität anlässlich von Routineoperationen (Zufallsfunde) Sicherungsmaßnahmen gegenüber Personen und Sachen im Zusammenwirken mit den afghanischen Behörden auch unter Einsatz von Zwang.“ (Bericht von Auswärtigem Amt und Bundesverteidigungsministerium vom 22. April 2005 an die Fachausschüsse)

Das ist eine Gratwanderung. Das hat aber nichts mit Wegsehen und Nichtstun zu tun, wie es der Bundeswehr immer wieder vorgeworfen wird. Das ist aber auch nicht das „Durchgreifen“ und „Aufräumen“, wie es manchmal gefordert wird, und auch nicht ein „entschlossener Krieg der Deutschen gegen die Drogenbarone“, für den Prof. Herfried Münkler im Spiegel eintritt. Ein solcher „Krieg“ würde eine Vervielfachung der jetzigen militärischen Kräfte voraussetzen, würde den Charakter von ISAF grundlegend ändern – und wohl in der „afghanischen Vergangenheit“ enden, wo kriegerische Interventionen von außen bisher immer blutig scheiterten.

Dass die jetzige Strategie keineswegs aussichtslos ist, zeigen jüngste Daten. Am 29. August und 12. September berichtete das UN Office on Drugs and Crime (www.unodc.org) über die aktuellen Opium-Trends in Afghanistan: Gegenüber 2004 ist die Mohnanbaufläche um 21% auf 103.000 ha zurückgegangen, die Zahl der in den Mohnanbau verwickelten Haushalte um 13% auf 309.000. Weil wegen der guten Wetterbedingungen zugleich die Produktivität zunahm, ging die Opiumproduktion nur um 2,4% auf 4.100 to zurück. Aufschlussreich sind die regionalen Unterschiede: In einigen bisherigen Hauptanbauprovinzen ging die Anbaufläche rapide zurück: In Nangarhar von 28.000 ha um 96% auf 1.100 ha, in Badakhshan um 53% auf 7.370 ha, in Hilmand um 10% auf 26.500 ha. Von den insgesamt 486 Mio. US-$ für alternative Entwicklung gingen die bei weitem höchsten Summen (70/47/58 Mio. US-$).in diese Provinzen. Insgesamt wurden ca. 5.000 ha Mohnfelder vernichtet, vor allem in Nangharhar und Hilmand und überwiegend durch Provinzgouverneure. Die Widerstände waren geringer als erwartet. Die Kehrseite der Medaille ist der z.T. rapide Anstieg der Anbauflächen in anderen Provinzen.

Der UNODC-Bericht betont: Wenn Bauern zwischen legalem und illegalem Handeln zu wählen haben, wählen sie die Legalität, auch wenn sie dadurch geringere Einnahmen haben. (In 2005 brachte ein ha Mohn 5.400 $, ein ha Weizen 550 $; in 2003 war das Verhältnis noch 12.700 zu 470!). Wenn Bauern aber zwischen Hunger und Illegalität zu wählen haben, entscheiden sie sich eher für illegales Verhalten. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Bekämpfung von Armut und Drogen müssen Hand in Hand gehen. Auch habe es keinen Zweck, nur gegen Bauern als schwächstes Glied in der Drogenkette vorzugehen. Labore, Transporte, Hintermänner und Finanzströme, korrupte Offizielle, Transitländer bis schließlich die Käufermärkte hierzulande gehören gleichermaßen in das Visier der Drogenbekämpfung. In Ländern wie Thailand, Pakistan und Türkei dauerte es 10 Jahre und länger, die Drogenökonomie in den Griff zu bekommen.

(6) Schlussfolgerungen

a) Das Bundeswehrmandat muss verlängert werden. Die Alternative wäre der Abzug der Bundeswehr. Das hätte absolut destruktive Auswirkungen und wäre sicherheits- und friedenspolitisch unverantwortlich. Der Rückzug des größten und in der afghanischen Bevölkerung besonders angesehenen Kontingents hätte eine Kettenreaktion zur Folge: würde das ganze internationale Engagement ins Rutschen bringen, die bisherigen Fortschritte zunichte machen und den Warlords, Taliban und anderen bewaffneten Gruppen Auftrieb geben. Es wäre eine strategische Kapitulation gegenüber dem internationalen Terrorismus und ein gegen die Vereinten Nationen gerichteter Akt.

Dass Gysi/Lafontaine und die PDS/Linkspartei den deutschen Rückzug aus ISAF fordern, ist parteitaktisch motiviert: Es simuliert Pazifismus und bedient populäre Einstellungen, dass Deutschland sich doch raushalten solle – und erst recht keine deutsche Soldatenleben für irgendwelche potenziellen Flüchtlinge riskieren solle. Dass aber Friedensorganisationen wie schon 2004 erneut den ISAF-Abzug fordern, ist kaum nachvollziehbar und mit ihrer sonstigen UN-Orientierung nicht vereinbar.

b) Die ISAF-Verlängerung ist nicht nur unzweifelhaft völkerrechtlich legal, sondern auch ein Gebot umfassender kollektiver Sicherheit, wie sie von den Berichten zur UN-Reform eingefordert wird.

c) Die Erhöhung der Obergrenzen und die räumliche Flexibilisierung sind angesichts der dringlichen ISAF-Ausweitung notwendig und angemessen. Da auch andere Partnernationen aufstocken, bleibt die Lastenverteilung einigermaßen ausgewogen. Verglichen mit anderen Friedensmissionen (z.B. Kosovo) bleibt der ISAF-Umfang ziemlich niedrig. Einsatzraum für dauerhafte Kontingente bleiben Kabul und die Nordregion. Der begrenzte Einsatz begrenzter Unterstützungskräfte in anderen Regionen ist an klare Konditionen gebunden. Damit ist gewährleistet, dass sich für die Bundeswehr das Einsatzprofil nicht schleichend grundlegend verändert.

d) Die Operationen ISAF und OEF müssen weiterhin auseinander gehalten werden. Überfällig ist eine „Wirksamkeitsanalyse“ von OEF in Afghanistan. Bisher können auch wir als zuständige deutsche ParlamentarierInnen nur die Notwendigkeit von OEF nachvollziehen. Ihre Wirksamkeit aber können wir wegen der umfassenden Geheimhaltung nicht bewerten.

e) Erfahrung aus UN-geführten Peacebuilding-Prozessen ist, dass sich die Staatengemeinschaft nach ersten Wahlen schon aus Kostengründen allzu gerne aus einem Krisenland verabschiedet und die internationale Hilfe herunterfährt. Dementsprechend ist die Bilanz: Mit Hilfe der UN konnten wohl so viele Friedensschlüsse nach internen Gewaltkonflikten abgeschlossen werden wie in zwei Jahrhunderten zuvor nicht. Die Hälfte dieser Länder rutschte aber binnen fünf Jahren wieder zurück in kriegerische Auseinandersetzungen – eben weil die Staatengemeinschaft diese Krisenländer bei der länger dauernden Phase der Friedenskonsolidierung im Stich ließ. Deshalb war bei der gegenwärtigen UN-Reform die Etablierung einer Peacebuilding-Kommission ein Schlüsselprojekt.
Deshalb dürfen die gerade durchgeführte Parlamentswahl und der Abschluss des Bonn-Prozesses kein Anlass sein, das internationale Engagement herunterzufahren. Afghanistan braucht den langen Atem der Internationalen Gemeinschaft.

f) Der politische lange Atem für den Afghanistan-Aufbau braucht öffentliche Akzeptanz und Unterstützung. Diese kann es aber nur geben, wenn es zu Afghanistan nicht nur situative und Bundeswehr-Öffentlichkeitsarbeit, sondern strategische Information und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung und anderer Afghanistan-Engagierter gibt. Diese muss gerade auch die zivilen Aktivitäten und Leistungen rüberbringen, die als good news zunächst weniger Aufmerksamkeit finden.


"Hindukusch ist die Metapher für die Großmachtrolle, die Deutschland wieder zu spielen bereit ist"

Stellungnahme von Peter Strutynski, Bundesausschuss Friedensratschlag (Kassel),
anlässlich des außerlarlamentarischen Protestes von Abgeordneten der Linkspartei.PDS und der Friedensbewegung vor dem Reichstag in Berlin am 28. September 2005


Ich muss sagen, ich finde es eine ganz ausgezeichnete Idee, dass die neu gewählten Bundestagsabgeordneten der Linkspartei.PDS hier zusammen kommen, um vor ihrer künftigen Arbeitsstätte gegen das zu protestieren, was die Mehrzahl der alten Abgeordneten drinnen beschließen. Das ist eine ganz neue und interessante Variante des Zusammenhangs von parlamentarischem und außerparlamentarischem Kampf.

Demokratiepolitisch ist überhaupt nicht einzusehen, warum der alte, recht eigentlich doch auch abgewählte Bundestag extra noch einmal zusammengetrommelt wird, um über einen Antrag der ebenfalls abgewählten Bundesregierung abzustimmen – über einen Antrag, der es in sich hat, geht es darin doch um nicht mehr und nicht weniger als um einen Kriegseinsatz der Bundeswehr. Und zwar dort, wo der gerade noch amtierende Verteidigungsminister sich offenbar am liebsten aufhält: am Hindukusch.

Seit vier Jahren operiert die Bundeswehr in Afghanistan: mit Truppen im Rahmen des von der UNO mandatierten ISAF-Einsatzes zur Stabilisierung der Sicherheitslage und zur Gewährleistung der humanitären Hilfe, wie es offiziell heißt. Und in diesen vier Jahren, so müssen wir nüchtern feststellen, ist es nicht gelungen, das Land, wie es so schön heißt, zu „befrieden“, die Lebensgrundlagen der Bevölkerung zu sichern und die Gewalt zurückzudrängen.

Wie könnte das auch geschehen!? Der Krieg gegen Afghanistan ist vor vier Jahren doch nicht angezettelt worden, um der Bevölkerung Arbeitsplätze und soziale Wohlfahrt, den Kindern eine normale Schulbildung, den Alten ein menschenwürdiges Leben und den Frauen die Gleichberechtigung zu bringen.

Und wenn hier zwei deutsche Schulen in Kabul und vielleicht dort ein Dorfgemeinschaftshaus errichtet wurden und vielleicht an anderer Stelle Soldaten bei der Verteilung von Lebensmitteln helfen: Das sind singuläre Wohltaten, das ist so etwas wie der Kollateralnutzen dieses Krieges, den die Herrschenden hier zu Lande gern als den eigentlichen Zweck des Unternehmens Afghanistan darstellen. Er verkauft sich natürlich auch besser als die Bilder von kämpfenden Truppen.

Nein, der Krieg wurde geführt, weil unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus mit seiner Hilfe wichtige geostrategische Interessen und Ziele der imperialen Supermacht USA durchgesetzt werden sollten.

Es ging und es geht einmal um einen weiteren Lückenschluss im Drang des energiehungrigen Westens nach der Eroberung neuer Energiequellen bzw. sicher kontrollierbarer Energieleitungen. Es geht zum zweiten um die Eroberung von Stützpunkten in Zentralasien, die sich wie ein enger Ring um den alten Rivalen Russland legen und gleichzeitig bis an die Grenze des künftigen Rivalen China reichen.

Da möchte Deutschland, die deutsche Bundesregierung, nicht abseits stehen. Und da lässt man schon einmal fünfe gerade sein.

Die KSK-Eliteeinheiten (ist das der Elitebegriff der großen Koalition?) haben vier Jahre lang doch nicht Däumchen gedreht? Sie haben getötet, aus dem Hinterhalt angegriffen, Gefangene gemacht und – möglicherweise – auch selbst den einen oder anderen Soldaten im Kampf verloren. Und solange das Verteidigungsministerium sich weigert, über den Auftrag und die Operationen der KSK-Einheiten die Öffentlichkeit bzw. den Bundestag zu informieren, bleibt unser begründeter Verdacht bestehen, dass deutsche Soldaten im Verbund mit US-Marines an Killer-Operationen beteiligt sind oder dass sie Gefangene an die US-Truppen ausliefern (was gegen das deutsche Recht verstößt).

Der Bundestag muss wissen, dass er der Verlängerung eines unsinnigen und nicht ungefährlichen Militäreinsatzes zustimmt.

Im nächsten Monat steht die Verlängerung des Einsatzes „Enduring Freedom“ an. Und da gibt es keine humanitären Ausreden mehr: Enduring Freedom ist ein reiner Kriegseinsatz. Und die 100 bis 200 KSK-Soldaten in Afghanistan befinden sich im Krieg, und damit ist Deutschland Kriegspartei.

Verteidigungsminister Peter Struck hat das durchaus begriffen. Nicht umsonst bereitet er die Öffentlichkeit so langsam darauf vor, dass es künftig mehr Opfer unter den Bundeswehrsoldaten geben kann. Und Otto Schily stimmt das Land darauf ein, dass der Terror, der bisher vorwiegend die am Irakkrieg beteiligten Länder trifft, auch nach Deutschland zurückkehren wird. Ich sage bewusst „zurückkehren“, denn der Krieg, der vom Westen in die entferntesten Winkel dieser Erde getragen wird, wird nicht ohne Folgen für seine Urheber bleiben. Denn Krieg ist selbst Terror.

Der Bundestag repräsentiert mit seinen fortgesetzten Entscheidungen für Militäreinsätze – Sudan steht doch auch schon auf der Wunschliste des Außenministeriums - längst nicht mehr die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung. Das war schon beim Afghanistan-Einsatz vor vier Jahren so. Und war es nicht diese kriegsabstinente Haltung großer Teile der Bevölkerung, die vor drei Jahren die rot-grüne Koalition vor der Abwahl gerettet hat? Und auch in diesem Wahlkampf hat der noch amtierende Bundeskanzler wieder die Antikriegs-Karte gezogen, als er – ohne dass er gefragt wurde – eine Kriegsbeteiligung gegen den Iran ausschloss.

Dazu passt aber überhaupt nicht, dass Deutschland in der EU-Troika den Ton gegenüber dem Iran auf gefährliche Weise verschärft hat. Die Drohung, den Atomstreit vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen, ist eine Steilvorlage für die Falken im Pentagon, die nur darauf warten, die Spannungen mit dem Iran anzuheizen.

Das alles hat mit einer verantwortungsvollen Außen- und Sicherheitspolitik nichts zu tun. Und der Bundestag trägt mit seiner 99-prozentigen Mehrheit diese janusköpfige Politik mit. Da können sich Deutschland und die Friedensbewegung glücklich schätzen, dass es solche aberwitzigen Merhrheiten im neuen Bundestag nicht mehr geben wird.

Der Bundestag vollzieht mit seinem Beschluss heute nicht den Willen der Bevölkerung, sondern den Willen der politischen Klasse, die zunehmend auf Militär, Intervention und Krieg setzt. Hindukusch ist die Metapher für die Großmachtrolle, die Deutschland wieder zu spielen bereit ist.

Dazu sagen wir Nein.

Eine Nation halten wir dann für groß, wenn sie nicht den einfachen, aber letztlich erfolglosen Weg des Krieges und der Gewalt geht, sondern wenn sie den schwierigeren, aber allein aussichtsreichen Weg der Prävention, des Ausgleichs, der Diplomatie und der zivilen Hilfe einschlägt.

Dazu braucht es am Ende auch kein Militär, schon gar nicht am Hindukusch.


Keine Mandatsverlängerung sondern Beendigung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan

Zur Entscheidung des Bundestages am Mittwoch, d. 28. September 2005, über den Antrag der Bundesregierung auf Verlängerung und Erweiterung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan:

Der Antrag der Bundesregierung zielt nicht nur auf eine Verlängerung des Einsatzes der auf 3.300 Soldaten aufgestockten Bundeswehrtruppen um ein Jahr, sondern auch auf die Ausdehnung ihres Operationsgebietes auf praktisch ganz Afghanistan. Dies ergibt sich aus Abschnitt 7: „Darüber hinaus können sie ... in anderen Regionen für zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstützungsmaßnahmen eingesetzt werden.“ Bereits 1998 hat ein nicht mehr legitimierter Bundestag, obwohl bereits ein neuer gewählt war, einen Bundeswehreinsatz gegen Jugoslawien beschlossen. Er führte seinerzeit zu einem völkerrechtswidrigen Krieg.

Entgegen der Begründung der Bundesregierung, dass die bisherigen militärischen Aktivitäten die Lage in Afghanistan bereits spürbar stabilisiert hätten und die Präsenz der Truppen von der afghanischen Bevölkerung begrüßt würde, ergibt sich aus Presseberichten von Beobachtern vor Ort ein ganz anderes Bild. Danach hat der erhöhte militärische Einsatz gegen Drogenanbau und -handel sowie gegen die militante Opposition deren Aktivitäten nur verstärkt und die Stimmung der Bevölkerung allmählich gegen die ausländische Militärpräsenz insgesamt gewendet. Die Befriedung und Stabilisierung Afghanistans kann nicht durch militärische Operationen erreicht werden.

Die Linke. hat in ihrem Wahlprogramm und im Wahlkampf die Verlängerung des Afghanistan-Mandates abgelehnt. Die PDS hat diese Position bereits im 14. und 15. Deutschen Bundestag vertreten. Der Satz von damals gilt auch heute noch: „Der Kampf gegen den Terror kann gewonnen werden – ein Krieg gegen den Terror niemals.“

Hinzu kommt, dass die verdeckten Operationen der Truppen des Kommandos Spezialkräfte (KSK), über deren Umfang, Zielsetzung und Einsatzformen die Bundesregierung beharrlich schweigt, die klare Grenze zwischen dem UNO-Mandat der ISAF und dem US-Antiterrorkrieg „Enduring Freedom“ verwischen. Presseberichten zufolge sollen sie sich am Antidrogenkrieg der USA entgegen den Beteuerungen der Bundesregierung beteiligen und damit Deutschland zur Kriegspartei machen. Das kann der Bundestag nicht dulden.

Ich fordere daher den vollständigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und die Verwendung der dadurch frei werdenden 318,8 Mio. Euro für zivile Hilfsprogramme in Afghanistan.

Prof. Dr. Norman Paech MdB


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