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Krieg darf kein Mittel der Politik sein

Von Johannes M. Becker und Herbert Wulf *

Die aktuelle offizielle Friedens- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland droht vorrangig zur ausschließlichen Militärpolitik zu verkommen. Zwar ist weiterhin von internationaler Verantwortung für den Frieden, von der Notwendigkeit der Abrüstung und Rüstungskontrolle, von ziviler Krisenprävention, vom Schutz der Menschenrechte und von Entwicklungszusammenarbeit als Instrument zur Überwindung von Armut und Konflikten die Rede, doch in der Praxis sind die Prioritäten eindeutig zugunsten des Einsatzes von Streitkräften gesetzt.

Heute werden weltweit über 1500 Milliarden US-Dollar für Rüstung aufgewendet -- zwölf mal mehr als die offizielle Entwicklungshilfe. Und die Rüstungsetats steigen weiter. Wenn auch Länder wie China, Russland und Indien hohe Zuwachsraten ihrer Militärhaushalte aufweisen, so sind es dennoch die NATO-Länder, die für fast zwei Drittel der weltweiten Ressourcenverschwendung für das Militär verantwortlich sind. Konkrete Abrüstungsschritte, ob bei den Militärausgaben oder bei den Atomwaffen, müssen vor allem bei den Ländern erfolgen, die am meisten für das Militär ausgeben und über Atomwaffen verfügen.

Es reicht nicht, vor den Gefahren der Nuklearproliferation (Iran, Nordkorea, Pakistan, Terrorgruppen) zu warnen und diese Länder und Netzwerke an den Pranger zu stellen; es ist vor allem erforderlich, vor der eigenen Haustür zu kehren und endlich damit zu beginnen, was bereits im Atomwaffensperrvertrag im Jahr 1970 vereinbart wurde, nämlich ernsthaft über die Abschaffung aller Atomwaffen zu verhandeln. Die Europäische Union, die sich selbst gerne als Friedensmacht tituliert, sollte hier eine kraftvolle Initiative ergreifen. Auch die französischen und britischen Atomwaffen -- ein Tabuthema in der EU -- gehören auf die friedenspolitische Tagesordnung. Dies würde die Glaubwürdigkeit der geäußerten Sorgen z. B. betreffend Iran enorm erhöhen.

Deutschland hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten seine Rüstung enorm effektiviert und auf die Herstellung einer umfassenden Interventionsfähigkeit umgestellt; diese Politik geht auch in der tiefen Krise des Kapitalismus und der öffentlichen Haushalte weiter, während beispielsweise im Bildungssektor tiefe Einschnitte vonstatten gehen.

Unser Land liegt seit einigen Jahren im Export großer Waffensysteme nach den Statistiken des Stockholmer Friedensforschungsinstitutes SIPRI weltweit nach den USA und Russland an dritter Stelle -- und dies bei angeblich restriktiven Rüstungsexportregelungen. Deutsche Waffen werden heute auch in Krisenregionen exportiert, so beispielsweise auch an einige Länder im Nahen und Mittleren Osten. Es bedarf einer radikalen Revision der deutschen Rüstungsexportpolitik mit einem strikten Verbot von Exporten in Krisengebiete, um glaubhaft eine auf Solidarität beruhende internationale Friedenspolitik vertreten zu können. System für Frieden und Sicherheit

Die NATO ist als militärisches Bündnis seit dem Ende des Kalten Krieges obsolet. Diesem Bündnis weltweite Interventionsaufgaben zuzuordnen, konterkariert sowohl die Bemühungen der Vereinten Nationen, als einzig legitime Autorität für Frieden und Sicherheit in der Welt tätig zu sein, als auch ein europäisches Sicherheitssystem aller europäischen Länder einschließlich Russlands. Die Schaffung einer europäischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur muss Vorrang haben, statt weiterhin die NATO zu stärken. Dies dient sowohl dem Ziel, den Krieg in Europa unmöglich zu machen, als auch die Mittel für Streitkräfte drastisch zu kürzen und für die dringenden Aufgaben der Zivilgesellschaft zur Verfügung zu stellen.

Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, so wie sie in den vergangenen Jahren forciert und nun im Lissabonvertrag festgeschrieben wurde, besteht weitgehend aus Rüstungslobbyismus zur Förderung der Rüstungsindustrie und der Ambition zum Aufbau global einsetzbarer europäischer Streitkräfte. Wenn es bislang auch längst noch nicht gelungen ist, ein solches europäisches Expeditionskorps zu schaffen (auch das Satellitensystem »Galileo« scheint zum Scheitern verurteilt), so liegt dies weniger daran, dass bei den Vertretern der offiziellen Politik Bedenken gegen ein derartiges Instrument zur Intervention bestünden, als vielmehr an weiterhin vorhandenen konkurrierenden nationalen Interessen und Egoismen in den meisten EU-Mitgliedsländern.

Nur durch eine deutliche Stärkung der Demokratie in Europa -- nach wie vor ist das Europäische Parlament zahnlos in der Außen- und Sicherheitspolitik -- kann es zu einer europäischen Politik kommen, die den Namen Friedenspolitik verdient. Während der Ausbau der europäischen Streitkräfte vorangetrieben wird, fehlen demokratische Kontrollen auf der europäischen Ebene. Und auch der Lissabonvertrag beseitigt das Demokratiedefizit in der Sicherheitspolitik nicht.

Die EU sollte gerade die aktuelle Weltwirtschaftskrise zum Anlass nehmen, nicht weiter den US-Weg der Aufrüstung und des »divide et impera« gegenüber den Entwicklungsländern zu kopieren, sondern sie sollte den Weg der Begründung neuer »terms of trade« gehen. Der Hamburger »Arbeitskreis Kriegsursachenforschung« (AKUF) macht für das absolute Gros der Konflikte auf der Erde die unterschiedliche Verteilung des Reichtums aus. Die vielfältigen Handelsrestriktionen, die ein Vielfaches der »Entwicklungshilfe« ausmachen, sollten folglich abgebaut werden, Aufrüstung und Rüstungsexport sollten gestoppt, das Gewaltmonopol der UNO übertragen werden: So würde die EU zum Modell einer neuen Weltordnung.

Einsatz von UN-Streitkräften

Die Charta der Vereinten Nationen regelt die Rolle der Weltgemeinschaft für die Erhaltung von Frieden und Sicherheit. Es besteht ein klar festgelegtes Gewaltverbot für die internationalen Beziehungen. Die Diskussionen um sogenannte »humanitäre Interventionen« und die »Schutzverantwortung« (responsibility to protect) werden heute zumeist dazu genutzt, Interventionsinteressen zu verschleiern. Eine tiefe Ursachenanalyse von innerstaatlichen Konflikten und Menschenrechtsverletzungen, eingeschlossen die Rolle der hochgerüsteten Industrieländer, unterbleibt zumeist.

Die mehrfache Verletzung der UN-Charta macht die Weltorganisation und ihr Gewaltmonopol nicht obsolet. Aber die heutige Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrates, der die Machtverhältnisse in der Welt aus der Zeit von vor 60 Jahren widerspiegelt, garantiert kein faires und solidarisches Verfahren zur Mandatsfindung. Einige mächtige Länder, Wirtschaftsmächte, Atomwaffenbesitzer, Rüstungsexporteure, dominieren heute den Sicherheitsrat auf unakzeptable Weise. Entscheidungen zum Schutze der Menschheit und Demokratie kommen keineswegs demokratisch zustande. Deshalb ist eine Reform des UN-Sicherheitsrates und eine Demokratisierung der Vereinten Nationen, eingeschlossen die unbedingt erforderliche Stärkung der Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO), dringend erforderlich.

Zivile Krisenprävention

Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Zivile Konfliktprävention und Konfliktlösungen müssen Priorität haben. Krisenprävention liegt an der Schnittstelle von Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Im Zeitalter der Globalisierung hat sich Außen- und Sicherheitspolitik generell gewandelt. Friedenspolitik kann nicht von einer Regierung oder gar einem Ministerium gesteuert werden. Heute ist eine Vielzahl staatlicher und nichtstaatlicher Akteure friedenspolitisch aktiv. Sie arbeiten mit unterschiedlichen Strategien und bemühen sich darum, dass Konflikte nicht in Gewalt eskalieren und dass bewaffnete Auseinandersetzungen vermieden oder beigelegt werden. Zum Teil agieren die verschiedenen Akteure allerdings mit konkurrierenden Interessen. Um zivile Krisenprävention zu einem wirksamen Instrument zu machen, bedarf es zum einen dringend zusätzlicher Ressourcen; derzeit wird beispielsweise in Afghanistan für den Krieg ca. 50 mal mehr aufgewandt als für den zivilen Wiederaufbau. Zum anderen geht es um eine bessere Koordinierung auf deutscher, europäischer und globaler Ebene. Dies ist eine Voraussetzung, um Maßnahmen nach dem Konzept des »do no harm« (»Richte keinen Schaden an«) durchführen zu können.

Die neue Afghanistanstrategie der Bundesregierung, mit mehr Soldaten und mehr zivilen Mitteln (die Entwicklungshilfe für Afghanistan soll verdoppelt werden) eine Wende zu erreichen, zeigt nicht nur eine verfehlte Konzeption, sondern auch, wie sich Politiken gegenseitig behindern. Statt eindeutig auf einen zivilen Aufbau zu setzen, soll die zivil-militärische Zusammenarbeit gestärkt werden. In der Vergangenheit ging dieses Konzept eindeutig zu Lasten der zivilen Arbeit. Entwicklungsleistungen wurden zum Büttel militärischer Konzepte degradiert und in vielen Fällen verunmöglicht. Es gilt, das Gegenteil einer sogenannten »vernetzten« (zivil-militärischen) Sicherheitspolitik zu verwirklichen.

Es gilt, die Strukturen der zivilen Krisenprävention und durch enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren die Kohärenz ziviler Friedenspolitik zu stärken, um so Voraussetzungen für effektive Krisenprävention zu schaffen. Es müssen die Institutionen für ein Frühwarnsystem ausgebaut und die Entwicklungszusammenarbeit von kurzsichtigen eigenen wirtschaftlichen Interessen befreit werden, um die im Rahmen der Vereinten Nationen erkannten Ziele (vor allem Armutsbekämpfung) zu verwirklichen. Wirtschaftliche und soziale Entwicklung und Frieden bedingen einander. Voraussetzung für eine friedliche Entwicklung ist vor allem auch eine solidarische Wirtschaftsordnung, die dafür sorgt, dass Entwicklungszusammenarbeit nicht zum Pflaster für die vom Kapitalismus geschlagenen Wunden verkommt und auf Staatsverfall dann mit militärischen Maßnahmen reagiert wird. Mit solchen Maßnahmen sollte die EU eine Vorreiterrolle spielen, um ihrem Anspruch, Friedensmacht zu sein, näher zu kommen.

Zum vorliegenden Programmentwurf

Viele unserer Positionen sind wohltuend vorzufinden im 1. Programmentwurf der LINKEN vom März 2010. Es sollte nicht die Frage einer möglichen Koalitionsfähigkeit im Vordergrund stehen, sondern die Formulierung klarer Positionen für eine kriegs- und waffenfreie Welt.

Ein »Umbau der Streitkräfte auf der Basis strikter Defensivpotenziale« kann nur als Zwischenschritt auf dem Weg einer Abschaffung des Militärs formuliert werden; dies gehört u. E. in ein visionäres Parteiprogramm.

Da der Sozialismus nicht auf der Tagesordnung steht, gilt es Wege zur Zivilisierung des Kapitalismus zu erarbeiten. Kriege sind nicht unvermeidlich, die Kriegsursachen können auch im herrschenden System benannt und bekämpft werden -- allein schon, um die Basis für eine andere Gesellschaftsordnung zu schaffen.

Der Begriff des »neuen Imperialismus« scheint uns einer weiteren Klärung zu bedürfen. Was bedeutet seine neue Qualität für die Frage von Krieg und Frieden? In der Aufzählung der Protagonisten »präventiver Angriffskriege« sollte auch Russland seinen Platz finden.

Das Phänomen »Terrorismus« findet seinen Niederschlag nur unzureichend. Er ist ein reales Problem der Sicherheitspolitik, wenngleich er zumeist legitimatorisch zur Anzettlung von Aggressionen genutzt wird. Terrorismus sollte benannt werden in seinen Ursachen, Erscheinungsformen und den Möglichkeiten, ihn zu bekämpfen, nämlich durch polizeiliche, ggf. geheimdienstliche, nicht zu vergessen kultur- und sozialpolitische Mittel und nicht durch Kriege.

Schließlich sollte die Verknüpfung von externer Aggression und interner Repression im Programm benannt werden. Die schleichende Militarisierung unserer Gesellschaft und die spürbare Einschränkung wesentlicher Grundrechte im Zusammenhang mit dem »Kampf gegen den internationalen Terrorismus«, mit dem Afghanistaneinsatz der Bundeswehr oder auch dem Einsatz vor der Küste Somalias geben Lehrbeispiele hierfür.

* Professor Herbert Wulf, ehemaliger Leiter des Internationalen Konversionszentrums Bonn (BICC);
PD Dr. Johannes M. Becker, Geschäftsführer des Zentrums für Konfliktforschung an der Universität Marburg.

Aus: Neues Deutschland, 26. April 2010



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