Atomarer Massenmord
Vor 57 Jahren wurde mit dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki ein Kriegsverbrechen begangen. Heute werden Atombombeneinsätze wieder enttabuisiert
Von Ernst Woit, Dresden
Bekanntlich ist der Ersteinsatz von Kernwaffen ein fester Bestandteil
der Militärstrategie der USA und der NATO. In
jüngster Zeit ist darüber hinaus von der gegenwärtigen Führung der USA
immer offener erklärt worden, daß sie es in
ihrem weltweiten »Krieg gegen den Terrorismus« durchaus für möglich
hält, sogenannte Schurkenstaaten auch
»präventiv« mit Kernwaffen anzugreifen. Allein schon angesichts der
daraus resultierenden Gefahren für den Weltfrieden
und die Zukunft der Menschheit gewinnt die wissenschaftliche und
politische Auseinandersetzung mit dem bisher
einzigen Einsatz dieses Massenvernichtungsmittels durch die USA gegen
Japan im August 1945 und dessen historischer
Bewertung eine neue Bedeutsamkeit.
Der in der Tageszeitung Die Welt vom 20. März dieses Jahres abgedruckte
»Briefwechsel« zwischen einem Hamburger
Leser und dem Historiker Michael Stürmer macht dabei deutlich, wieviel
Unkenntnis, aber auch welche über Jahrzehnte
systematisch verbreiteten und jetzt erneut bemühten Lügenkonstruktionen
wirksam sind, um die atomare
Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis für geradezu unvermeidlich und
damit gerechtfertigt erscheinen zu lassen.
Dabei geht es um viel mehr als um die Bewertung eines historischen
Ereignisses. Denn wenn diese letztlich positive
Einschätzung der atomaren Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis durch
die USA einer hinreichend großen
Öffentlichkeit vermittelt werden kann, wird diese Öffentlichkeit auch
künftige Kernwaffeneinsätze der USA als
»unvermeidlich« und damit »prinzipiell gerechtfertigt« akzeptieren.
Beispielloses Kriegsverbrechen
Bei Beurteilung aller inzwischen zugänglichen Informationen über
Zielsetzung, Planung, Durchführung und Wirkung der
atomaren Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis am 6. und 9. August 1945
durch die USA wird man nicht
umhinkönnen, diese als das bisher größte Kriegsverbrechen der Geschichte
einzuschätzen. Was hatte die Führung der
USA bewogen, die Wirkung der neuen Waffe nicht – wie es die an ihrer
Entwicklung beteiligten Wissenschaftler
gefordert hatten – auf einer unbewohnten Insel zu demonstrieren, sondern
die ersten zwei Atombomben ausgerechnet
gegen zwei japanische Großstädte einzusetzen, in denen es zudem keine
wichtigen militärischen Ziele gab? Nach
General Leslie Groves, dem militärischen Leiter des
»Manhattan-Projekts«, in dem die USA die erste Atombombe
entwickelten, sollten die Zielorte »nicht schon durch Luftangriffe
beschädigt sein. Erwünscht war schließlich, als erstes
Ziel einen Ort von solcher Größe zu wählen, daß die ganze
Zerstörungszone sich innerhalb des Ortes befinden müßte
und wir daher die Gewalt der Bombe genauer bestimmen könnten.«(1) Das
heißt: mehr als 400000 japanische Zivilisten
wurden getötet, um die Wirkung der neuen Waffe am lebenden Objekt zu
testen! Die gegen Hiroshima eingesetzte
Bombe hatte eine Sprengkraft von etwa 20000 Tonnen Trinitrotoluol (20 kt
TNT) und tötete 80000 Menschen sofort und
200000 durch die erlittenen Schädigungen; in Nagasaki wurden 75000
Menschen sofort getötet, Zehntausende starben
durch die erlittenen Schädigungen. Insgesamt wurden durch diese zwei
Bomben also mehr als 400000 Menschen
getötet. Ein derartiges Massenvernichtungsmittel hatte es bis dahin noch
nicht gegeben. Zum ersten Mal wurde darüber
hinaus die zunächst überlebende Bevölkerung durch radioaktive Strahlung
genetisch geschädigt, so daß bis heute nicht
gesagt werden kann, wie viele Generationen der seitdem geborenen Japaner
davon noch betroffen sein werden. (2)
Wozu dieser Massenmord an Zivilisten? Diejenigen, die ihn bis heute
rechtfertigen, behaupten vor allem, daß damit die
Kapitulation Japans erzwungen und damit das Leben US-amerikanischer
Soldaten geschont worden sei. Auch Michael
Stürmer argumentiert so und begründet das vor allem mit der Behauptung,
die USA hätten ohne den Einsatz der
Atombomben mit einem Sieg über Japan erst im Jahre 1949 rechnen können,
da Japan im August 1945 noch über starke
Kräfte auf dem »chinesischen Festland« verfügte. Geradezu abenteuerlich
wird die Argumentation Stürmers, wenn er
dem noch hinzufügt: »Was die Sowjets betrifft, so hatten sie mit der
Unterwerfung ihres Machtbereichs bis zur Elbe
genug zu tun und waren schwerlich in der Lage, in einem Blitzfeldzug
Chinas Küstenprovinzen den Japanern
abzunehmen. Den Sieg im Pazifik konnten sie den Amerikanern nicht
schenken.«
Lücken und Lügen
Offenbar weiß der Historiker Stürmer gar nicht, daß die Sowjetarmee
tatsächlich – in Erfüllung der auf der Konferenz von
Jalta übernommenen Verpflichtungen (3) – Japan am 8. August 1945 den
Krieg erklärte und einen Tag später gemeinsam
mit der Chinesischen Volksbefreiungsarmee eine machtvolle Offensive
gegen die in China und Korea dislozierten
Hauptkräfte der japanischen Landstreitkräfte begann. Noch im gleichen
Monat endete diese Offensive mit der völligen
Zerschlagung der japanischen Streitkräfte in China, Nordkorea,
Südsachalin und auf den Kurilen. Dabei verlor Japan rund
700000 Soldaten, davon 83737 Mann an Toten und 609176 Mann an
Gefangenen. An Kampftechnik mußten die
japanischen Truppen u. a. 1565 Geschütze, 600 Panzer, 861 Flugzeuge und
2129 Kraftfahrzeuge als Verluste
verzeichnen. In keiner anderen Operation während des Zweiten Weltkrieges
hatten die japanischen Streitkräfte in so
kurzer Zeit so hohe Verluste an Menschen und Material erlitten. (4)
Folgerichtig kapitulierte Japan am 2. September 1945
bedingungslos.
Es ist wohl nicht zufällig, daß dieser erhebliche Anteil der Sowjetunion
am militärischen Sieg über Japan nicht nur von
Michael Stürmer völlig ignoriert wird, der sich damit als ein einst
immerhin für Mittlere und Neuere Geschichte berufener
Historiker selbst disqualifiziert. Auch das fast tausend Seiten starke
Harenberg-Lexikon »Schlüsseldaten 20.
Jahrhundert« erwähnt weder die Kriegserklärung der Sowjetunion an Japan
noch deren Anteil am militärischen Sieg über
Japan.(5) Udo Sautter, der im renommierten Alfred Kröner Verlag eine
mehr als 600 Seiten starke »Geschichte der
Vereinigten Staaten von Amerika« veröffentlicht hat, erwähnt immerhin,
daß US-Präsident Franklin D. Roosevelt beim
Gipfeltreffen der Anti-Hitler-Koalition in Jalta nachdrücklich »auf
einer festen sowjetischen Zusage, am Kampf gegen
Japan teilzunehmen«, bestanden hatte.(6) Daß und wie die Sowjetunion
diese in Jalta übernommene Verpflichtung erfüllt
hat, erwähnt er nicht. Dafür formuliert der Historiker nur einen Satz,
der offenbar alle Fragen danach wegwischen soll:
»Das sowjetische Versprechen, bis spätestens 8. August 1945 Truppen
gegen Japan einzusetzen, war durch die
Existenz der Atombombe inzwischen entwertet.«(7)
Noch weiter geht Michael Stürmer, der im Gegensatz zum tatsächlichen
historischen Verlauf behauptet, daß die
Sowjetunion wegen ihres Engagements in Europa im August 1945 unfähig
gewesen sei, Japan militärisch anzugreifen. Er
rechtfertigt die atomare Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis durch
die USA ganz einfach mit der Behauptung: »Die
nukleare Waffe hat die sowjetische Expansionsstrategie erst einmal
durchkreuzt, die sich dann auf Festland-China,
Korea und Vietnam richtete...« Vor dieser Behauptung plaziert Stürmer
noch die »Information«: »Am 12. Mai hatte
Churchill an Truman telegraphiert: ›Ein Eiserner Vorhang ist
niedergegangen...‹« Nach Stürmers Kontext soll das wohl im
Jahre 1945 gewesen sein. Es dürfte eine sensationelle Neuigkeit sein,
wenn Winston Churchill bereits zu diesem
Zeitpunkt – d. h. schon vor der Potsdamer Konferenz – den Begriff des
von der Sowjetunion heruntergelassenen
»Eisernen Vorhangs« geprägt haben sollte. Bekannt ist, daß er das
tatsächlich am 5. März 1946 anläßlich einer am
Westminster College in Fulton/Missouri gehaltenen Grundsatzrede getan
hat, was seitdem gemeinhin als Eröffnung des
Kalten Krieges gilt. Wenn Stürmers Datierung von Churchills Aussage über
den niedergegangenen »Eisernen Vorhang«
stimmen sollte, wäre das auch deshalb bemerkenswert, weil Churchill an
diesem 12. Mai 1945 folgende »Geheime und
persönliche Botschaft« an »Marschall Stalin« gesandt hatte: »Ich habe
Ihre Botschaft vom 2. Mai über die Vorkehrungen
erhalten, die in Deutschland und Österreich bei der Kontaktaufnahme
zwischen unseren Armeen getroffen werden. Ich
freue mich, zu erfahren, daß die sowjetischen Kommandanten Anweisungen
erhalten haben. Diese Information ist an
General Eisenhower und Feldmarschall Alexander weitergeleitet
worden.«(8) Wenn Stürmers Behauptung stimmen sollte,
wäre das auch deshalb geradezu sensationell, weil dann nicht nur die
Geschichte der Anti-Hitler-Koalition umgeschrieben
werden, sondern auch Churchill als eine merkwürdig schizophrene
Persönlichkeit eingeschätzt werden müßte.
Warum haben die USA Hiroshima und Nagasaki atomar bombardiert?
Die wirklichen Gründe für dieses historisch bisher beispiellose
Kriegsverbrechen zu kennen ist unverändert wichtig, denn
bis heute scheiden sich an der Rechtfertigung oder Verurteilung der
atomaren Auslöschung Hiroshimas und Nagasakis
diejenigen, die einen Nuklearkrieg prinzipiell für führbar halten, von
denen, die ein derartiges Verbrechen ebenso
prinzipiell ablehnen.
Als US-Präsident Harry Truman am 22. Juli 1945 in Potsdam – mit
Zustimmung Churchills – den Einsatz der ersten
Atombomben gegen Japan anwies, da ignorierte er nicht nur die Warnungen
jener Wissenschaftler, die an der
Entwicklung der Bombe beteiligt waren, sondern auch die Ablehnung des
Einsatzes dieses Massenvernichtungsmittels
gegen Japan durch einen so hohen Militär wie General Dwigt D.
Eisenhower. Eisenhower gehörte damals zu Trumans
Delegation zur Potsdamer Konferenz und führte für seine Ablehnung zwei
gewichtige Gründe an: »Erstens sind die
Japaner zur Kapitulation bereit. Deshalb sei es nicht notwendig, dieses
schreckliche Ding abzuwerfen. Zweitens kann ich
den Gedanken nicht ertragen, daß unser Land das erste sein sollte, das
eine solche Waffe einsetzt.«(9) Warum aber hat
US-Präsident Truman trotz dieser Bedenken des höchsten US-amerikanischen
Militärs, General Eisenhower, diesen
verbrecherischen Einsatzbefehl gegeben?
Tatsächlich zielte die atomare Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis
viel weniger darauf, Japan zur Kapitulation zu
zwingen als darauf, den Weltherrschaftsanspruch der USA für die
Nachkriegszeit – besonders der Sowjetunion
gegenüber – deutlich zu machen. Wie sich der maßgebend am Bau der ersten
Atombombe beteiligte Physiker Leo Szilard
erinnerte, hatte der damalige Außenminister der USA, James Francis
Byrnes, bereits Anfang Juni 1945 wörtlich erklärt:
»Wir brauchen die Bombe weniger, um Japan zu besiegen, als um in Europa
ein leichteres Spiel mit Rußland zu
haben.«(10) D. h., es spricht alles für die Richtigkeit der Einschätzung
des englischen Physikers Patrick Blacketts, der
wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu dem Schluß kam,
»daß der Abwurf der Atombomben nicht so
sehr der letzte Akt des Zweiten Weltkrieges war als vielmehr eine der
ersten größeren Operationen im Kalten
diplomatischen Krieg gegen die Sowjetunion...« (11)
Die USA haben als erstes und bisher einziges Land Kernwaffen eingesetzt.
Heute aber besteht die reale Gefahr, daß ein
Präsident dieses mächtigsten imperialistischen Staates im Kampf um die
von ihm mit dem weltweiten Krieg gegen den
Terror angestrebte neue Weltordnung erneut den Befehl zum atomaren
Massenmord gibt. Da diese Möglichkeit von
US-Strategen immer offener diskutiert wird, gewinnt die prinzipielle
Auseinandersetzung mit jenen Argumenten, die die
atomare Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis rechtfertigen sollten und
sollen, eine für die Verteidigung des
Weltfriedens und damit das Überleben der Menschheit kaum zu
überschätzende Bedeutung.
Fußnoten
-
Nach: J. Newhouse: Krieg und Frieden im Atomzeitalter. Von Los Alamos
bis SALT. München 1990, S. 72
- Das hinderte Eugen V. Rostow, unter US-Präsident Ronald Reagan
zeitweise Leiter der Rüstungs- und
Abrüstungsbehörde der USA, vorher Dekan der juristischen Fakultät der
Yale-Universität, nicht daran, mit kaum noch zu
überbietendem Zynismus zu erklären: »Schließlich hat Japan nach dem
nuklearen Angriff nicht nur überlebt, sondern erst
richtig floriert.« (Nach: Die Zeit, Hamburg, 30.4.1982)
- Auf der Konferenz von Jalta (4.–11.2.1945) schlossen die
Regierungschefs der Sowjetunion, der USA und
Großbritanniens ein Abkommen über die Fragen des Fernen Ostens, in dem
vereinbart wurde, »daß zwei oder drei
Monate nach der Kapitulation Deutschlands und Beendigung des Krieges in
Europa die Sowjetunion in den Krieg gegen
Japan auf der Seite der Alliierten ... eintreten soll«. (Nach: S. P.
Sanakojew/B. I. Zybulewski (Hrsg.): Teheran – Jalta –
Potsdam. Dokumentensammlung. Moskau 1978, S. 213
- Vgl. u. a.: Geschichte des Zweiten Weltkrieges 1939–1945. Teil II,
Berlin 1961, S. 270 f.; P. S. Sinelnikow: Die
Zerschlagung der japanischen Armee im Fernen Osten. In: Die wichtigsten
Operationen des Großen Vaterländischen
Krieges 1941-1945. Berlin 1958, S. 664–682
- Vgl.: B. Harenberg (Hrsg.): Schlüsseldaten 20. Jahrhundert. Vierte
verbesserte Aufl., Dortmund 1995
- U. Sautter: Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Vierte,
erweiterte Auflage. Stuttgart 1991, S. 425 f.
- Ebenda, S. 439
- Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman
1941–1945. Berlin 1961. S. 433
- Nach J. Newhouse: A.a.O., S. 75 f.
- Nach R. Crawshay-Williams: Begegnungen mit Bertrand Russel. Zürich
1974. S. 164
- P. M. S. Blackett: Militärische und politische Folgen der
Atomenergie. Berlin 1949, S. 173
Der Beitrag von Prof Dr. Ernst Woit erschien am 6. August in der Tageszeitung "junge Welt".
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