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Tödlicher »nuklearer Winter«

Konferenz in Oslo zu den verheerenden Konsequenzen eines Nuklearkrieges

Von Wolfgang Kötter *

In der norwegischen Hauptstadt Oslo begann am Montag eine zweitägige internationale Konferenz zu den Folgen eines Nuklearkrieges. Die Regierung Norwegens hat gemeinsam mit der „Internationalen Kampagne zur Abschaffung der Kernwaffen“ (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons - ICAN) zu dieser Tagung eingeladen, denn das Thema ist hochaktuell, und es ist überlebenswichtig. Militarisierung und Gewaltanwendung werden wieder zu prägenden Merkmalen der gegenwärtigen Weltpolitik. Nicht nur im Nahen und Mittleren Osten, sondern auch in Asien droht sogar die Gefahr, dass in eskalierenden Konflikten letztlich auch Atomwaffen eingesetzt werden. Auf der vom norwegischen Außenminister Espen Barth Eide eröffneten Tagung wird es vorrangig um drei Themenkomplexe gehen: Zum einen um die unmittelbaren humanitären Auswirkungen einer Nukleardetonation, außerdem um die weiteren wirtschaftlichen, ökologischen und entwicklungspolitischen Folgen und schließlich um die Möglichkeiten und vorhandenen Kapazitäten, um auf eine derartige Katastrophe zu reagieren.

Risiko eines Kernwaffeneinsatzes steigt

Zwar ist der Ost-West-Konflikt seit über zwei Jahrzehnten vorüber, aber dennoch besteht ein Dilemma, das US-Präsident Obama bereits vor vier Jahren in seiner Prager Rede zu nuklearen Abrüstung benannt hat: „Es ist eine seltsame Wendung der Geschichte: Die Gefahr eines weltweiten Atomkriegs hat sich verringert, das Risiko eines atomaren Angriffs ist gestiegen.“ Der höchste Entscheidungsträger über den Einsatz von Tausenden Atomwaffen verweist ausdrücklich darauf, dass, wenn auch nur eine von ihnen in einer Stadt explodiert – sei es New York oder Moskau, Islamabad oder Mumbai, Tokio oder Tel Aviv, Paris oder Prag – das Hunderttausende Menschenleben kosten könnte. Ein Nuklearangriff würde die medizinische Infrastruktur zerstören und Hilfsorganisationen wären unter solchen Umständen nicht in der Lage, ihre humanitären Aufgaben zu erfüllen. Neben den unmittelbaren Toten würden unzählige weitere Menschen erkranken und lebenslang an den Folgen leiden, denn die nukleare Strahlung schädigt unterschiedslos Augen und Immunsystem des Menschen. Genetische Deformationen werden auf nachfolgende Generationen vererbt. Besonders verheerend wirkt eine verstärkt einfallende UV-Strahlung der Sonne, weil aus brennenden Trümmern entweichende Stickoxide die schützende Ozonschicht zerstören. In der öffentlichen Wahrnehmung werden solche Gefahren häufig verdrängt, aber bereits seit längerem haben sich Experten mit den klimatischen, biologischen und medizinischen Folgen des Einsatzes von Nuklearwaffen beschäftigt.

„Nuklearer Winter“ würde globale Opfer fordern

Schon in den 1980er Jahren erforschten amerikanische und sowjetische Wissenschaftler das Phänomen des „nuklearen Winters“, der nach einem globalen Schlagabtausch zwischen den führenden Kernwaffenmächten eintreten würde: Durch Kernexplosionen ausgelöste Brände in industriellen und urbanen Ballungsgebieten schleudern Millionen Tonnen Staub und Ruß in die Atmosphäre und absorbieren große Teil der Licht- und Wärmestrahlung der Sonne, so dass nur einige wenige Prozent der üblichen Lichtmenge die Erdoberfläche erreichen. Dadurch kann es in weiten Gegenden ständig dunkel bleiben, während die Temperaturen um 15 bis 30 Grad Celsius sinken. Ein solcher Klimawandel wirkt sich dramatisch auf die Pflanzen- und Tierwelt und damit auf die Nahrungsmittelversorgung der Überlebenden aus. Winterweizen gedeiht beispielsweise nicht, wenn während der aktiven Wachstumsperiode ständig minus fünf Grad Celsius und weniger herrschen. Mais und Sojapflanzen können sogar unter plus zehn Grad nicht reifen. Und Reispflanzen sind bereits bei Temperaturen von 13 Grad nicht mehr in der Lage, Körner zu bilden. Weil das in einer Region nach einem Atomschlag vorhandene Licht generell für die Fotosynthese der Pflanzen nicht ausreicht, sterben ganze agrarische Kulturen. Extrem verheerend wäre ein Temperatursturz für die tropischen Regenwälder, dem Lebensraum der Hälfte aller Tier- und Pflanzenarten unserer Erde. In den nördlichen Kontinentalgebieten würden Seen und Flüsse bis in eine Tiefe von anderthalb Metern gefrieren und die Trinkwasser-Reservoire für den Menschen wären erschöpft.

Bereits regionaler Kernwaffeneinsatz verheerend

Fallstudien haben herausgefunden, dass bereits ein begrenzter regionaler Atomwaffeneinsatz neben den unmittelbaren Opfern auch weltweit katastrophale Umweltkonsequenzen haben würde. Wenn etwa im Nahen Osten Atomwaffenschläge erfolgten, entständen ein riesiges Ozonloch und weltweite Verwüstungen für mindestens ein Jahrzehnt. Außer den sofortigen Toten wären weitere Millionen Menschen unter anderem von Hautkrebs und Augenkrankheiten betroffen. Beim Einsatz von 100 Nuklearsprengköpfen mit der Zerstörungskraft der Hiroshimabombe würde die mittlere Temperatur auf der Erde um 1,25 ºC sinken. Das hätte globale Ernteverluste und Lebensmittelmangel mit bis zu einer Milliarde Hungeropfern zur Folge. Dr. Ira Helfand, Vizepräsident der Organisation „Physicians for Social Responsibility“ in den USA, hat errechnet, dass bei einem Nuklearangriff auf New York mit 20 Megatonnen Sprengkraft etwa 20 Millionen Menschen an einem Tag sterben würden und innerhalb von 30 Tagen ein Großteil der amerikanischen Bevölkerung. Experten der University of Georgia untersuchten die Auswirkungen von Nuklearschlägen gegen die Städte New York, Chicago, Washington und Atlanta. Im Ergebnis ihrer Simulationsexperimente stellten sie fest, dass das gegenwärtige Gesundheitssystem der USA völlig überfordert wäre, die Opfer eines Kernwaffenangriffs zu versorgen. Selbst einem terroristischen Anschlag mit einzelnen primitiven Atomsprengsätzen wären die Behörden nicht gewachsen. Das offenbarte laut der Zeitung „Washington Post“ eine geheime Übung, bei der gleichzeitige Nuklearexplosionen in Indianapolis und Los Angeles simuliert wurden.

Ein Expertenteam der Georgetown University unter der Leitung von Philip Karber untersuchte ein mögliches Szenario eines Atomkrieges zwischen den USA und China. Der Studie zufolge werden etwa 50 Millionen der 315 Millionen Amerikaner gleich nach dem ersten chinesischen Atomschlag ums Leben kommen. 25 Millionen bis 50 Millionen würden einer extrem hohen Strahlungsdosis ausgesetzt sein und bald sterben. Zwei Drittel der Krankenhäuser würden zerstört und die Hälfte der Ärzte getötet. Die USA verlören rund die Hälfte der Energiequellen und 40 Prozent der Lebensmittelbetriebe. Von den restlichen 200 Millionen Amerikanern werde etwa die Hälfte hungern. Die Lebensqualität werde wie im Mittelalter sein. Es gebe keinen Strom und wenig Nahrung, geschweige denn eine wirksame medizinische Versorgung, so die Schlussfolgerung der Experten.

Dass die Auswirkungen eines örtlich begrenzten Einsatzes von Nuklearwaffen katastrophal wären, weist auch eine jüngere Fallstudie der „Ärzte gegen den Atomkrieg“ IPPNW nach. Die Ergebnisse der Studie belegen, dass auch relativ kleine atomare Arsenale – über die beispielsweise Indien und Pakistan verfügen - das Ökosystem im Falle eines begrenzten Atomkrieges dauerhaft verändern könnten. Ärzte und Experten aus Landwirtschaft und Ernährungswissenschaft verarbeiteten wissenschaftliche Daten aus Studien zum regionalen Atomkrieg und Klimawandel. Sie fanden heraus, dass sinkende Temperaturen und reduzierte Niederschläge in Folge eines Atomkriegs in wichtigen landwirtschaftlichen Regionen den Anbau von Getreide, Mais und Reis gravierend stören und weltweit zur Nahrungsmittelknappheit und Preiserhöhungen führen würden. Dr. Lars Pohlmeier, Vize-Präsident der IPPNW (Europa) warnt deshalb: „Ungeachtet der Notwendigkeit weiterer Untersuchungen zeigen die vorläufigen Daten in aller Deutlichkeit die Gefahr, der die Menschheit durch das atomare Wettrüsten in Südasien und durch die größeren und gefährlicheren Nuklearwaffenarsenale der anderen Atommächte ausgesetzt ist."

Zweifellos wird die heute beginnende Oslo-Konferenz weitere erschreckende Fakten über die verheerenden humanitären Auswirkungen eines Kernwaffeneinsatzes ans Licht bringen. Das wird hoffentlich nicht nur die Zivilgesellschaft, sondern auch die Politik zu praktischem Handeln für nukleare Abrüstung veranlassen.

Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen

Die „Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen“ ICAN (International Campaign for the Abolition of Nuclear Weapons) ist eine globale Kampagne für die Abschaffung aller Atomwaffen durch einen rechtsverbindlichen internationalen Vertrag – eine Atomwaffenkonvention. ICAN wurde im Jahre 2007 in Wien beim Vorbereitungstreffen zur Überprüfungskonferenz des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages von der Organisation „Ärzte gegen den Atomkrieg“ IPPNW und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen ins Leben gerufen.

Die Kampagne umfasst gegenwärtig 200 Mitgliedsorganisationen in 60 Ländern. Sie will der globalen Öffentlichkeit die Gefahren der rund 19 000 auf der Welt existierenden Nuklearwaffen ins Bewusstsein rufen, deren Abschaffung in die öffentliche Diskussion bringen und Druck auf Regierungen zu multilateralen Verhandlungen über eine Atomwaffenkonvention ausüben. Zu den weiteren Zielen der Kampagne gehört die Vernetzung von Organisationen, die weltweit für die Abschaffung von Atomwaffen arbeiten. ICAN arbeitet darauf hin, eine möglichst breite Basis von Partnern aufzubauen, von Gewerkschaften über religiöse und humanitäre Institutionen bis hin zu Umweltschutzorganisationen.

Die Nuklearwaffenkonvention - ein Modellentwurf

Rechtsexperten der "Internationalen Vereinigung Rechtsanwälte gegen Atomwaffen" (IALANA) erarbeiteten einen Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention. Er sieht einen zeitlich befristeten Stufenplan zur Beseitigung aller Atomwaffen vor. Die Konvention verbietet die Entwicklung, das Testen, die Produktion, die Lagerung, den Transfer, den Einsatz und die Drohung eines Einsatzes von Atomwaffen. Die Atommächte werden verpflichtet, ihre Arsenale und Sprengköpfe sowie ihre Transportsysteme in festgelegten Fristen zu zerstören. Internationale Kontrollen werden überprüfen, ob die Staaten ihre Verpflichtungen einhalten. Gleichzeitig werden Anreize für die Einhaltung der Vereinbarungen, wie z.B. der Austausch von Technologien, geschaffen, aber auch Mechanismen um Vertragsverletzungen vorzubeugen oder abzuwenden. Die Entwicklung, der Besitz und der Einsatz von Atomwaffen durch Einzelne oder nichtstaatliche Gruppen wird dadurch zu einem internationalen Verbrechen erklärt. Es werden Vorkehrungen existieren, um solche Straftäter zu fassen, strafrechtlich zu verfolgen und zu bestrafen.



* Eine gekürzte Fassung dieses Beitrag erschien in: neues deutschland, Dienstag, 05. März 2013


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