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Moralischer Widerstand gegen nukleare Erpressung

Wegen der Mininuke-Rüstung der USA wächst die Gefahr eines Atomkriegs - Die internationale Friedensbewegung muss dagegen Zeichen setzen

Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag, den Horst-Eberhard Richter anlässlich des ersten Jahrestags des Irakkkriegs verfasst hat. Der Artikel erschien am 19. März in der Frankfurter Rundschau.


Von Horst-Eberhard Richter

Obwohl die internationale Friedensbewegung am 15. Februar vor einem Jahr in nie zuvor erreichten Massen in allen fünf Kontinenten protestiert hat, hatte sie nicht die Macht, den längst gewollten Irak-Krieg zu verhindern. Die Prognose der Friedensbewegung lautete: Der Irak-Krieg wird den Terrorismus nicht, wie uns versprochen wird, besiegen. Er wird ihn furchtbar verschlimmern. Das hat sich zuerst in Irak und nun auf besonders tragische Weise in Spanien bestätigt. Es ist ein Anlass, die Opfer in Madrid zu betrauern und den Verletzten mit Genesungswünschen zur Seite zu stehen. Die Brutalität gegen Hunderte von Zivilisten ist unentschuldbar. Es sollte aber auch nicht vergessen werden, dass in Irak mehr als 10 000 Zivilisten dafür sterben mussten, dass amerikanisches Militär die Welt vor einer militärischen Bedrohung befreien sollte, die es gar nicht gab.

Die Friedensbewegung hat nun die Chance, eine andere Macht in den Völkern zur Geltung zu bringen, nämlich die moralische Widerstandskraft gegen die Unterordnung unter eine auf nukleare Erpressung gestützte Hegemonie. Vor wenigen Wochen hat der US-Präsident den Gesetzentwurf für den Bau einer vierten Generation kleiner Atomwaffen und für eine beschleunigte Bereitstellung des Atomtest-Geländes in Nevada unterschrieben. 6,3 Milliarden Dollar hat der US-Kongress allein für nuklearrüstungsbezogene Ausgaben für 2004 bewilligt. Nirgends gab es darüber Aufregung. Kürzlich wurde der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, Mohammed el Baradei, vom Spiegel gefragt: "Wann war die Gefahr eines Atomkrieges am größten?" Seine Antwort: "Gerade jetzt!" Das stand in allen Zeitungen. Jeder wusste: Der diese Warnung aussprach, ist momentan der bestinformierte Experte. Aber es kam kein Aufschrei. Es ist, als wolle niemand, dass schlafende Hunde geweckt werden.

Narzisstische Überheblichkeit

Natürlich macht es Angst, über die 30 000 nuklearen Sprengköpfe nachzudenken, die immer noch zum vielmillionenfachen Töten bereitliegen. Und die Friedensbewegung verschafft sich keine besondere Sympathie, wenn sie wie el Baradei dieses Thema aufrührt. Aber es gilt zu begreifen: Die Sicherheitsstrategie des Pentagon besagt, dass die USA demnächst praktisch in der Lage sein wollen, unter dem Schutz eines Raketenabwehr-Schildes den Rest der Welt nach Belieben nuklear erpressen zu können. Freilich ist das eine Fehlrechnung. Denn der 11. September und die endlose Gewaltkette in Israel/Palästina beweisen: Keine noch so gewaltige Übermacht hebt die Verletzbarkeit durch terroristische Gegengewalt auf. Tadatoshi Akiba, der Bürgermeister von Hiroshima, sagt von den Amerikanern, sie huldigten ihren Atomwaffen wie einem Gott. Aber sie sind darin sicher, dass es ihr Gott ist, der sich ihnen mit diesen Waffen zur Verfügung anbietet. Bush 2003: "Als gesegnetes Land sind wir dazu berufen, die Welt besser zu machen." Man hat ihnen also seit langem eine narzisstische Überheblichkeit eingeimpft, die ihnen jede Selbstrechtfertigung als Zumutung erscheinen lässt.

Dass sich Präsident Bush von höchster Instanz berufen glaubt, das Böse auf der Welt auszutilgen, ist ohnehin offenkundig. Ebenso unverkennbar ist, dass dieser Erwähltheitswahn ihn vor dem Entsetzen über die zivilen Opfer des Irak-Krieges und den dort angeheizten neuen Terror bewahrt.

Radikale Umbesinnung nötig

Nach diesem Reinfall ist nun für die vielen Millionen Gegner der Kreuzzugs- und Atomwaffenpolitik die Chance da, eine radikale Umbesinnung anzustoßen. So wie Israel und Palästina in der unentrinnbaren Abhängigkeit voneinander nur eine gemeinsame Sicherheit finden können, so muss die internationale Friedensbewegung ihre Hauptanstrengung auf den Kampf für die generelle Anerkennung eben dieses Prinzips richten und auf die Herausforderung Madrid mit der Demonstration eines über alle Grenzen hinweg vernehmbaren großen gemeinsamen Friedenswillens reagieren.

Die Friedensbewegung will, dass uns die Atomrüstung endlich wieder fühlbar, d. h. unerträglich wird. Deshalb hat sich ein großer Kreis von deutschen Friedensorganisationen zusammen mit Attac Deutschland verabredet, am 20. März, das ist der Internationale Friedensaktionstag, zu dem Atomwaffenlager Ramstein in der Pfalz zu marschieren. Es ist der Jahrestag des Irak-Krieg-Beginns. In Ramstein lagert noch der Hauptteil der 65 Atombomben, die Deutschland verbotenerweise von den USA zur hiesigen Hortung übernommen hat. Verbotenerweise, denn im Atomwaffensperrvertrag von 1970, den die Bundesrepublik 1975 ratifiziert hat, steht in Artikel II ausdrücklich: "Jeder Nichtkernwaffenstaat verpflichtet sich, Kernwaffen von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen."

Die Bomben gehören den USA. Wenn ihr Einsatz in Frage käme, dann nur durch Entscheidung der Amerikaner, die im Ernstfall dafür genauso wenig um Erlaubnis bitten würden wie beim Start der US-Bomber von deutschem Boden aus im Irak-Krieg. Ein potenzieller Gegner müsste also bestrebt sein, die hiesigen Atombomben präventiv auszuschalten. Das heißt, die Menschen hier befinden sich durch die deponierten B61-11- Atombomben in einer permanenten Geiselhaft. Das ist so unerträglich, dass niemand daran denken möchte. Das erinnert an das Verhalten von kleinen Kindern, die beim Versteckspielen die Augen in der Hoffnung schließen, dadurch unentdeckt zu bleiben.

Das nennen wir in der Psychoanalyse Verdrängung. Diese Verdrängung ist verständlich, aber sie ist unwürdig, feige und obendrein lebensgefährlich. Deshalb steht der Protestmarsch zu dem Atomwaffenlager Ramstein am 20. 3. unter dem Motto: "Stillhalten ist tödlich!"

* Horst-Eberhard Richter ist einer der führenden Vertreter der deutschen Friedensbewegung. Er gründete 1981 die deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), die 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden. Als Psychoanalytiker lehrte Richter seit 1962 in Gießen und baute dort das Zentrum für Psychosomatik auf. Von 1992 leitete er mehr als zehn Jahre lang das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut.
Für den 20. März, an dem sich der Beginn des Irak-Kriegs zum ersten Mal jährt, hat Richter maßgeblich einen Protestmarsch zur US-Airbase und dem US-Atomwaffenlager Ramstein (12.30 ab Landstuhl / Rheinland-Pfalz) vorbereitet. Zu den UnterzeichnerInnen des Aufrufs gehören z. B. Günter Grass, Manfred Krug, Senta Berger und Sir Peter Ustinov. Ab 15 Uhr wird in Ramstein neben dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine u. a. als Gast aus den USA der Präsident der Physicians for Social Responsibility, Mike Mc Cally, sprechen.


Dieser Beitrag erschien unter der Rubrik "Standpunkte" am 19. März in der Frankfurter Rundschau.


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