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Sind die ehemaligen hochrangigen NATO-Generäle nur Nachahmer?

Auch das russische Militär erwägt atomare "Präventivschläge"

Die vor wenigen Tagen durch ein "Manifest" ehemaliger hoher Generäle lancierte Diskussion über die Notwendigkeit eines Wechsels der Nuklearstrategie der NATO hat auch eine russische Entsprechung. Wenn die NATO den atomaren "Präventiv"schlag auch gegen nicht Kernwaffen besitzende Staaten beschließen würde, befände sie sich in schlechter gesellschaft mit Russland, dessen Generalstabschef Juri Balujewski einen solchen Vorschlag schon früher gemacht hat. Die russischen Erwägungen werden in dem folgenden Kommentar aus Moskau bewertet.


Russland behält sich atomare Präventivschläge vor

Von Andrej Kisljakow *

Auf dem kommenden Nato-Gipfel in Bukarest soll ein Bericht über die Möglichkeit von atomaren Präventivschlagen erörtert werden.

Wie die britische Zeitung "The Daily Telegraph" schreibt, sind die westlichen Experten in dem Bericht davon überzeugt, dass Massenvernichtungswaffen schon in absehbarer Zeit in die Hände von Terroristen gelangen können. Dem wahrscheinlichen Feind mit einem atomaren Präventivschlag zuvorzukommen, müsse deshalb zur Hauptaufgabe der Nato erhoben werden. Doch diese Pläne scheinen nur ein Echo der Pläne des russischen Generalstabs zu sein.

Bereits am 19. Januar hatte Generalstabschef Juri Balujewski vor Mitgliedern der Moskauer Akademie für Militärwissenschaften angekündigt, dass sich Russland unter gewissen Umständen für einen atomaren Präventivschlag entscheiden könnte - und zwar "nicht nur bei Kampfhandlungen, sondern auch zur Demonstration der Entschlossenheit der Staatsführung, die Interessen der Nation zu verteidigen".

Balujewski sagte wortwörtlich: "Wir haben nicht die Absicht, jemanden zu überfallen, halten es jedoch für notwendig, dass all unsere Partner deutlich begreifen und nicht daran zweifeln, dass die Streitkräfte zum Schutz der Souveränität und der territorialen Integrität der Russischen Föderation und deren Verbündeter, darunter auch präventiv und unter Anwendung von Kernwaffen, in den Fällen eingesetzt werden, die in doktrinellen Dokumenten der Russischen Föderation vorgesehen sind."

Es ist merkwürdig, dass viele angesehene russische Militärexperten die Erklärung Balujewskis als Bekräftigung der alten Militärdoktrin betrachten, in der sich Russland das Recht vorbehält, als erstes Atomwaffen einzusetzen. Laut der Doktrin aus dem Jahr 2000 darf Russland mit Kernwaffen nämlich nicht nur einen atomaren Angriff, sondern auch "eine massive Aggression unter Einsatz von konventionellen Waffen" erwidern, wenn die Sicherheit Russlands oder deren Verbündeter ernsthaft bedroht ist. Von einem atomaren Präventivschlag bei ausbleibenden Kampfhandlungen ist darin aber nicht die Rede.

Wenn Balujewskis Erklärung zutrifft, muss Russland offenbar eine neue Militärdoktrin annehmen. Bereits im März vergangenen Jahres hatte der russische Sicherheitsrat eine Korrektur der Militärdoktrin von 2000 aufgrund der neuen Realitäten angekündigt. Wie es damals hieß, konzipieren "der Apparat des Sicherheitsrats gemeinsam mit interessierten Behörden, wissenschaftlichen Einrichtungen und Organisationen" den Entwurf einer neuen Doktrin. Zu den "interessierten Behörden" gehört offenbar auch der von Balujewski geleitete Generalstab.

Wenn die "atomaren Ideen" des Generalstabs in der neuen Militärdoktrin ihren Niederschlag fänden, würde Russland neue Streitkräfte mit den daraus resultierenden Folgen bekommen. Vor allem werden die russischen Streitkräfte einen offensiven Charakter annehmen, um präventiv zuschlagen zu können. Dafür wären aber eine Revision der Mobilmachungspläne und neue Prinzipien bei der Aufstockung der Armee und der Flotte notwendig. Angesichts der jetzigen Zahl und des geographischen Ausmaßes der militärpolitischen Konflikte, in die Russland auf die eine oder andere Weise verwickelt ist, müsste es einsatzbereite und zahlenmäßig starke Truppen von der Ostsee bis zum Pazifik bereithalten.

Das würde die Wirtschaft des Landes enorm belasten. Denn um Präventivschläge überall auf der Welt führen zu können, müsste Russland nicht nur alle seine Truppenteile und -verbände ständig in hoher Kampfbereitschaft halten, sondern sie auch mit Atomwaffen ausstatten. Es handelt sich natürlich nicht um strategische Nuklearwaffen, sondern um taktische- und operativ-taktische Rüstungen. Denn die ballistischen Interkontinental-Raketen eignen sich kaum, um die Terroristengefahr an südöstlichen Flanken zu bekämpfen oder auf die Aufstellung des US-Raketenschildes in Europa zu antworten.

Deshalb wäre ein breites Spektrum an nicht-strategischen Atomwaffen notwendig, mit denen Ziele in einer relativ geringen Entfernung bekämpft werden können. Zu den taktischen Waffen zählen boden-, flugzeug- und schiffsgestützte Raketensysteme verschiedener Klassen mit einer Reichweite von bis zu 1000 Kilometer sowie Fliegerbomben, Torpedos, Raketen und Artilleriegeschosse. Zu der operativ-taktischen Atommunition gehören Kurz- bis Mittelstreckenraketen der Landstreitkräfte, der Luftwaffe und der Marine sowie Artilleriegeschosse und atomare Sprengladungen der Landstreitkräfte.

Da Russland gemessen an den nicht-strategischen Munitionsreserven den USA wesentlich überlegen ist, kann man sich leicht vorstellen, welche Schwierigkeiten in den bilateralen Beziehungen auftreten würden, sollte Russland seine Munitionsvorräte zu Lande, zu Wasser und in der Luft in Stellung bringen.

Dabei stellt sich die Frage: Was veranlasst das russische Militär zu dieser Entscheidung und ob es dazu Alternativen gibt? Das ist aber ein ganz anderes Thema.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagnetur RIA Novosti, 31. Januar 2008



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