Atombomben-Alarm zu Friedenszeiten
Studie belegt: US-Nuklearwaffen in Europa sind nicht sicher / LINKE fordert Verschrottung
Von René Heilig *
Nicht erst seit den Anschlägen von 11. September 2001 gelten die US-Atomwaffendepots als ein besonders lukratives Angriffsziel für Terroristen. Weshalb sie angeblich unter besonderem Schutz stehen. Doch das scheint nicht zu stimmen.
Die Atomwaffendepots der USA in Europa entsprechen nach einer internen Studie der US-Air-Force nicht einmal minimalen Sicherheitsstandards. Das berichtet die weltweit angesehene Organisation Federation of American Scientists (FAS). Sie stützt sich dabei auf interne Analysen der Militärs.
Außerhalb der USA verfügen Washingtons Streitkräfte über Atomwaffenlager (zumindest) in Deutschland, Belgien, Großbritannien, Italien, den Niederlanden und der Türkei. In Rede stehen unter anderem sogenannte Freifall-Bomben vom Typ B-61, die in den vergangenen Jahren insbesondere im Bereich Zielsicherheit effektiviert worden sind.
Im Gegensatz zur Zielgenauigkeit der Bomben stehen die Auskünfte zu deren Lagern. Notwendig seien Reparaturen an Gebäuden, Zäunen, Beleuchtungen und Sicherheitssystemen. Die Schätzungen über die Anzahl der nuklearen US-Waffen in Westeuropa sind höchst ungenau. Sie besagen, dass in Klein Brogel (Belgien) 10 bis 20 Atomwaffen lagern. In holländischen Völken könnten es ebenso viele sein. Auf der Air-Force-Base im italienischen Aviano vermutet man 50 Bomben und im gleichfalls italienischen US-Stützpunkt in Ghedi Torre sollen 20 bis 40 lagern. Im türkischen Incirlik, das zu Irak-Kriegszeiten eine besondere Rolle spielte, vermutet man 50 bis 90, und auf dem Luftwaffenstützpunkt Lakenheath (Großbritannien) sollen bis zu 110 Nuklearwaffen auf ihren Einsatz warten.
Als erste Konsequenz aus der verheerenden Sicherheitsstudie plant das US-Militär angeblich, die Atomwaffen auf wenige europäische Stützpunkte zu konzentrieren. Die FAS-Experten schätzen, dass derzeit in europäischen NATO-Militärbasen insgesamt etwa 200 bis 350 US-Atombomben gelagert sind, darunter 10 bis 20 im Bundeswehr-Fliegerhorst Büchel. Der Bundeswehrstützpunkt liegt in der Eifel. Seit Juli 2007 ist er der angeblich einzige Standort in Deutschland, an dem sich Atomwaffen befinden.
Die Atomwaffen unterstehen der US Air Force und der 139 Mann starken 702. Munition Support Squadron der 38. Munitions Maintenance Group. Im Kriegsfall erhält diese Einheit vom Präsidenten der Vereinigten Staaten die Freigabe für die nuklearen Waffen, die dann auch an Tornados des in Büchel stationierten Jagdbombergeschwaders 33 der Bundesluftwaffe angehängt werden können. Die Piloten dieses Geschwaders erhalten unter dem Stichwort nukleare Teilhabe eine spezielle Ausbildung zum Abwurf von atomaren Waffen der USA. Ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums lehnte mit Rücksicht auf die Bündnispartner und die vereinbarte Geheimhaltungspflicht Angaben zur nuklearen Teilhabe ab.
Die nun aufgetauchte Studie war in Auftrag gegeben worden, nachdem im August 2007 sechs Atomsprengköpfe ohne Wissen der Luftwaffenführung quer durch die USA geflogen worden waren. Der B 52-Bomber transportierte die Massenvernichtungsmittel von einem Luftwaffenstützpunkt in North Dakota an der Grenze zu Kanada bis hinunter an die Golfküste nach Louisiana - ohne dass irgendwer in Militär- und Regierungshierarchie von der potenziell tödlichen Fracht wusste.
Petra Pau, Innenpolitikexpertin der LINKEN im Bundestag, verlangt die endgültige Entsorgung der Nuklearwaffen. »Abziehen und Abrüsten ist die Devise.« Die Kampagne »Unsere zukunft - atomwaffenfrei« mobilisiert für eine Kundgebung unter anderem mit Nina Hagen und Barbara Rütting sowie ein Aktionscamp am 30. August 2008.
* Aus: Neues Deutschland, 23. Juni 2008
Lesen Sie auch den Originalbeitrag:
Die meisten Atomwaffenlager in Europa entsprechen nicht den US-Sicherheitsstandards / USAF Report: "Most" Nuclear Weapon Sites In Europe Do Not Meet US Security Requirements
By Hans M. Kristensen / Hans M. Kristensen über den USAF-Report (englisch) - Deutsche Einführung
Kommentare
"Eine Welt ohne Atomwaffen?" ist der Artikel überschrieben, den Horst Bacia für die FAZ schrieb. Das Fragezeichen versteht sich für die FAZ fast von selbst: Für ganz so gut hält man dort die Idee nämlich nicht.
Ein globales Verbot für Atomwaffen wäre zweifellos konsequent. Seine
glaubwürdige Durchsetzung wirft aber so viele politische, rechtliche und
praktische Fragen auf, dass es auf absehbare Zeit eine schöne Utopie bleiben wird. Jede Initiative mit diesem Ziel würde übrigens sofort mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie den Vereinigten Staaten am meisten nütze. Denn in einer atomwaffenfreien Welt wäre der amerikanischen Überlegenheit bei der konventionellen Rüstung dann nichts mehr entgegenzusetzen. (...)
Wichtiger als eine Ächtung dieser hochsymbolischen Waffe sind konkrete
Maßnahmen, um ihre politische und militärische Bedeutung zu vermindern.
Selbst Kissinger und seine Freunde geben zu, dass die Utopie vor allem dem Zweck dient, die Dringlichkeit des Anliegens hervorzuheben und den jetzt gebotenen ersten Schritten eine Perspektive zu geben.
Was zu tun ist, liegt auf der Hand: Wenn die Zahl der Nuklearwaffen
drastisch verringert werden soll, müssen die Vereinigten Staaten und
Russland, die zurzeit noch über mehr als neunzig Prozent der vorhandenen
Systeme verfügen, mit einem neuen Vertrag den Anfang machen. Durchaus
möglich scheint eine Einigung auf jeweils tausend atomare Sprengköpfe und verbindliche Überprüfungsmechanismen zu sein.
(...)
Die Überprüfungskonferenz für den Nichtverbreitungsvertrag im kommenden Jahr bietet Gelegenheit, die bisherigen Instrumente zu schärfen. An Vorschlägen,?wie dem der Anreicherung von Uran für die zivile Nutzung der Kernenergie unter internationaler Aufsicht, mangelt es nicht. Was gefehlt hat, ist die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, in der Abrüstungsdiplomatie wieder die Führung zu übernehmen und mit gutem Beispiel voranzugehen. Wenn der neue Präsident sich hier engagiert, werden andere folgen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Juni 2008
"Abschaffen" - lautet dagegen die Forderung des Kommentators im "Neuen Deutschland" (René Heilig). Dies schließt den Abzug der US-Atomwaffen aus Büchel ein, eine Forderung, die nicht nur von der Friedensbewegung, sondern mittlerweile von allen Parteien außer der CDU/CSU getragen wird.
Es gab mal eine noch nicht so lange vergangene Zeit, da rechneten Spezialisten aus, wie viele Menschen -- Kinder, Enkel, Freunde -- sterben könnten. Nur weil einer den Finger krumm macht. Sie setzten die Anzahl der Menschen einfach ins Verhältnis zu den vorhandenen Massenvernichtungswaffen und rechneten so die Fläche der notwendigen Friedhöfe aus, auf denen niemand niemanden mehr bestatten kann.
Klar, das war pervers, doch logisch und abschreckend zugleich. Und so waren wir in Europa höchst befriedigt darüber, dass der Albtraum mit dem Verschwinden eines politischen Systems beendet schien. Doch er ist wieder da. In Zeiten asymmetrischer Kriegsführung braucht man gar keinen adäquaten Feind mehr, um das elende Vernichtungswerk in Gang zu setzen. Die einst zur Abschreckung vielleicht notwendigen Depots reichen als Bedrohung. Man sollte den US-Militärs diesmal wirklich glauben und überlegen: Was nützen Raketenabwehrprogramme, wenn sich nun die Machtmittel der sogenannten westlichen Zivilisation gegen jene wenden lassen, die sie gebaut haben und nun nicht mehr sichern und unterhalten können?!
Es gibt nur eine Lösung für das Problem: Die Atomwaffen müssen zurück in die USA und dort unter internationaler Kontrolle vernichtet werden. Die Technologie dazu wäre universal. Auch für Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Israel, Indien, Pakistan und all jene, die sich derzeit dem Atombombenwahn nähern.
Neues Deutschland, 23. Juni 2008
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