Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Antikriegstag 2010: Viele Aktionen von Friedensbewegung und Gewerkschaften im ganzen Land

... Viele Gründe auf die Straße zu gehen / Großes Schweigen im Blätterwald

Der 1. September wird als "Antikriegstag" oder "Weltfriedenstag begangen. Erinnert wird damit auf den Übefall der deutschen Wehrmacht auf Polen (Hitler log: "Ab 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen"), womit der größte und opferreichste Krieg in der Geschichte entfesselt wurde. In dessen Verlauf starben 55 bis 60 Millionen Menschen, sechs Millionen Juden wurden in den Vernichtungslagern der Nazis ermordet.

Das Gedenken an den Beginn des Krieges ist fast ausschlisßlich eine Sache der Friedensbewegung und der Gewerkschaften und der mit ihnen verbundenen politischen Kräfte. Die herrschenden Medien und die politische Klasse einschließlich der einst als "Friedenspartei" gegründeten "Grünen" ignorieren dieses Datum geflissentlich. Die Mainstream-Presse nimmt so gut wie keine Notiz von den Veranstaltungen und Aktionen. Allerdings berichten Regionalzeitungen - nicht in dem Umfang wie bei den Ostermärschen, aber doch so, dass der Antikriegstag/Weltfriedenstag wenigstens sichtbar wird. Lediglich die linken Zeitungen wie "Neues Deutschland" und "junge Welt" schenken dem Gedenktag größere Aufmerksamkeit.

So ist es auch bei der Berichterstattung in diesem Jahr. Ein paar Beiträge zum Antikriegstag erschienen bereits im Vorfeld; direkt am 1. September gab es in beiden Zeitungen eine kurze Übersicht über die stattfindenden Aktionen. Darüber hinaus erschien im "Neuen Deutschland" ein längerer Beitrag über den diesjährigen Träger des "Aachener Friedenspreises" (er wird jedes Jahr am 1. September überreicht); die "junge Welt" war mit einem Überblicksartikel vertreten [siehe weiter unten] und druckte im Wortlaut die Erklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag zum "Kunduz-Gedenken" ab: Am 4. September jährt sich zum ersten Mal der von einem deutschen Oberst befohlene Luftangriff auf zwei Tanklastwagen in der Nähe von Kunduz, bei dem über 140 Afghanen starben, die meisten von ihnen Zivilisten. (Der Aufruf ist im Original auf unserer Website dokumentiert: "Schluss mit dem sinnlosen Sterben in Afghanistan".)


Zahlreiche Veranstaltungen zum Antikriegstag *

Die Friedensfahnen flattern heute in rund 150 deutschen Städten: Am Antikriegstag erinnern Friedensgruppen und Gewerkschaften in zahlreichen Veranstaltungen an den deutschen Überfall auf Polen vor 71 Jahren – der Beginn des Zweiten Weltkrieges. Zugleich protestieren sie gegen die Beteiligung der Bundeswehr an Kriegen in aller Welt und fordern »Truppen raus aus Afghanistan!« Der DGB ruft unter dem Motto »Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! Keine Auslandseinsätze!« zu Aktionen auf.

Viele Friedensgruppen und -organisationen nutzen die Aktivitäten zum Antikriegstag dieses Jahr zum Gedenken an das Massaker von Kundus 2009. Am 4. September waren auf Befehl eines deutschen Offiziers zwei Tanklastzüge in der Nähe der afghanischen Stadt bombardiert worden. Dabei starben rund 140 Menschen, darunter mindestens 100 Zivilisten. Am Sonnabend werden deshalb in zahlreichen Städten Mahnwachen zur Erinnerung an das Massaker stattfinden.

Als eine besondere Provokation empfindet es die Friedensbewegung, dass am 4. September Alt- und Neonazis in Dortmund zu einem »nationalen Antikriegstag« aufrufen. Es sei »ein abgeschmackter Gipfel der Heuchelei«, so der Bundesausschuss Friedensratschlag in einer Erklärung. Er unterstützt die Proteste von »Dortmund stellt sich quer«, die das Ziel haben, den Aufmarsch zu verhindern.

Auf der Seite des Netzwerks Friedenskooperative gibt es eine Übersicht der Podiumsdiskussion, Kundgebungen, Info-Stände rund um den Antikriegstag. Dort kann auch ein Dossier für zivile Alternativen für Afghanistan bestellt werden.

* Aus: Neues Deutschland, 1. September 2010


Deutschland führt Krieg

Weltfriedenstag: Bundesweit Proteste – das Massaker von Kundus zeigt, wozu die hiesigen Militaristen wieder fähig sind

Von Frank Brendle **


Vor genau 71 Jahren brach das faschistische Deutschland mit dem Einmarsch in Polen den Zweiten Weltkrieg vom Zaun. Auch am heutigen Jahrestag hat die Friedensbewegung allen Grund, gegen den Kriegskurs auf die Straße zu gehen – in vielen deutschen Städten finden Protestaktionen statt.

Das Versprechen der »vollkommenen Entmilitarisierung« Deutschlands, das die Siegermächte der Antihitlerkoalition im Potsdamer Abkommen niedergelegt hatten, hat nicht lange gehalten. In Dutzenden von Ländern werden seit Jahrzehnten Menschen von Armeen, Milizen, Todesschwadronen oder Polizisten mit Waffen aus deutscher Produktion ermordet und bedroht. Auf der internationalen Hitliste der Rüstungsexporteure steht die BRD auf Platz drei. An deutschen Universitäten haben Rüstungsforschung, aber auch Sozialwissenschaften im Dienste des Militärs ihren festen Platz. Unverhohlen erklärt die Bundeswehr die ganze Welt zum potentiellen Einsatzgebiet. Krieg ist, aus deutscher Regierungssicht, wieder »normal« geworden.

Es wirkt wie ein Widerspruch dazu, wenn nun die Aussetzung der Wehrpflicht und die Verkleinerung der Bundeswehr um ein gutes Drittel bevorsteht. Doch Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) forciert lediglich die schon seit 20 Jahren betriebene »Transformation« der Bundeswehr. Deren Ziel war von Anfang an, eine moderne, hochflexible und weltweit einsetzbare Interventionstruppe zu schaffen. Wehrpflichtige braucht man da nicht mehr, und angesichts der demographischen Entwicklung fände die Bundeswehr ohnehin kaum ausreichend qualifizierte Bewerber für alle bisherigen festen Dienstposten.

Eines ist sicher: Der Personalabbau geht nicht so weit, daß die Unternehmensziele gefährdet würden. Dafür bürgt schon, daß der Vizevorsitzende der »Expertenkommission« für den Umbau der Bundeswehr zugleich der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) ist. Was, so könnte man fragen, qualifiziert jemanden, der Ahnung von den Bedürfnissen kapitalistischer Produktionsbedingungen hat, aber nicht unbedingt vom Kriegführen, als Bundeswehrexperten? In der Frage steckt die Antwort. Die Bundeswehr soll den Kapitalismus verteidigen.

In Afghanistan läßt sich ablesen, wie sehr sich die deutsche Kriegspolitik radikalisiert hat. Aus der »Schutztruppe« in Kabul wurde die führende Besatzungsmacht in Nordafghanistan, die mit dem »Kommando Spezialkräfte«, Jagdbombern des Typs »Tornado«, der Task Force 47, schnellen Eingreiftruppen und mit dem Einsatz von Kampfpanzern den Krieg immer brutaler führt.

Kurz nach dem Antikriegstag jährt sich auch das Massaker von Kundus. Über 100 Menschen verbrannten am 4. September 2009 bei einem Bombenangriff bei lebendigem Leibe – ohne daß der kommandierende Bundeswehr-Oberst Wolfgang Klein auch nur versucht hätte, zwischen gegnerischen Kämpfern und Zivilbevölkerung zu unterscheiden. Die kollektive Bestrafung von Zivilisten, die Aufständischen helfen – freiwillig oder gezwungen – ist ein Markenzeichen imperialistischer Partisanenbekämpfung. Es wirkt wie ein absurder Witz, daß die Bundesanwaltschaft gegen afghanische Aufständische wegen Verstoßes gegen Paragraph 129b ermittelt, also wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Wer sich nicht ergibt, ist kriminell, ganz klar. Wer dagegen, wie Oberst Klein, mal eben 100 oder mehr Verdächtige umbringt, kommt ungeschoren davon.

Deutschland ist im Krieg – auch wenn im Bewußtsein der meisten Menschen diese offensichtliche Tatsache noch lange nicht angekommen ist. Es gibt keine Spur von Kriegsbegeisterung, vielmehr stabile Umfragemehrheiten gegen den sogenannten Auslandseinsatz. Aber: Die Aufgabe, diese Mehrheiten zu aktivieren, hat die Friedensbewegung noch vor sich. Sie muß sich zudem auf eine verstärkte Propaganda der Bundeswehr vorbereiten. Denn diese wird den sozialen Bedeutungsverlust, den der Personalabbau mit sich bringt, kompensieren wollen – mit noch mehr öffentlichen Aufmärschen, mehr Offizieren in Klassenzimmern und in Arbeitsämtern, mit noch mehr Reklame im Fernsehen, im Internet usw.

** Aus: junge Welt, 1. September 2010


Zurück zur Antikriegstags-Seite

Zur Seite "Friedensbewegung"

Zurück zur Homepage