"Die Schuldigen beim Namen nennen"
Rede auf der Gedenkveranstaltung des Arbeitskreises "Blumen für Stukenbrock" zum Antikriegstag 2005
Von Peter Strutynski*
Am „Antikriegstag“, erinnern wir an den Beginn des Zweiten Weltkriegs, an die vielen Millionen Toten, die dieser Krieg gefordert hat. In diesem Jahr begehen wir den 66. Jahrestag dieses Völkerverbrechens, das auf immer mit dem Namen Deutschlands verbunden bleiben wird.
Ich sage das als Angehöriger einer Generation, der ein früherer Bundeskanzler dieser Republik das beruhigende Testat ausgestellt hatte, von der „Gnade der späten Geburt“ gesegnet zu sein. Für den damaligen Bundeskanzler – das Wort fiel 1984 ausgerechnet in Israel – sollten damit die Nachgeborenen moralisch entlastet und zugleich ein Schlussstrich unter diesen Teil der deutschen Geschichte gezogen werden. Aus beidem wurde nichts, wie nicht zuletzt die vielen Veranstaltungen zum diesjährigen Tag der Befreiung überall im Land gezeigt haben.
Beim Gedenken an den Jahrestag der Befreiung – in Deutschland und Europa war das der 8. und 9. Mai 1945, in Ostasien war es erst der 2. September, als die japanische Militärführung die Kapitulationsurkunde unterschrieb – beim Gedenken an den 60. Jahrestag der Befreiung wurde zu Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass dieser schrecklichste Krieg der bisherigen Geschichte nicht nur ein Ende hatte, sondern auch einen Anfang. Dass dieser Krieg nicht einfach über uns kam wie ein Naturereignis, sondern dass er gemacht wurde, dass also handelnde Personen am Werk waren.
Es ging bei den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag – nicht den offiziellen und ganz oben angesiedelten, sondern den Mahn- und Gedenkveranstaltungen der Friedensbewegung, der antifaschistischen Bewegungen, der Gewerkschaften und anderer demokratischer Organisationen – es ging bei diesen Feierlichkeiten auch darum, nach den Ursachen von Faschismus und Krieg zu fragen, die Schuldigen beim Namen zu nennen, und über jene zu sprechen, die sich dem Wahnsinn der modernen Barbaren entgegen gestellt haben. Das Gedenken an die Befreiung vor 60 Jahren schloss also die Rückbesinnung auf den Beginn des Krieges, auf seine Vorgeschichte und seine Ursachen ein. Der Überfall auf Polen war ja nur die letzte Stufe auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg. Vorausgegangen waren der sog. „Anschluss“ Österreichs im März 1938, die völkerrechtswidrige Annexion des Sudentengebietes im Herbst 1938 und die militärische Besetzung der Tschechei im Frühjahr 1939. Und am anderen Ende der Welt hatte das faschistische Japan seine Gewaltherrschaft in Ostasien Stück für Stück ausgeweitet und insbesondere Chinesen und Koreaner wie Untermenschen behandelt.
Genauso müssen wir beim Gedenken an den 1. September 1939 die Zeit und die Geschehnisse danach im Auge haben. Denken wir nur an die Bilanz dieses Krieges:
-
an die 55 Millionen Toten, nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten, Frauen und Kinder,
- an die systematische und industriell betrieben Vernichtung jüdischen Lebens in Europa,
- an die Entmenschlichung des Gegners, insbesondere der Sowjetmenschen und „Bolschewiken“, die in den Augen der Nazis nicht mehr waren als „Ungeziefer“,
- an die verheerenden Zerstörungen, die insbesondere in Osteuropa, in Polen und der Sowjetunion, buchstäblich nur verbrannte Erde zurückgelassen haben,
- an Flächenbombardements – beginnend mit der Zerstörung von Guernica, Rotterdam und Coventry.
„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, schrieb Paul Celan in der „Todesfuge“. Und diese Metapher prägt sich - genauso wie das berühmte Bild „Guernica“ von Pablo Picasso – auf immer in das Gedächtnis der Menschheit ein.
Das beste, was der Welt und was Deutschland vor 60 Jahren passieren konnte, war natürlich der endgültige militärische Sieg der Anti-Hitler-Koalition. Es mag für manchen befremdlich erscheinen, wenn das aus dem Mund eines Pazifisten kommt. Aber auch als Pazifist kann ich keiner Nation das Recht absprechen, sich gegen eine militärische Aggression zur Wehr zu setzen und gegen Unterdrückung Widerstand zu leisten.
Nur für ewig Gestrige ist der 8. Mai 1945 oder der 2. September 1945 eine „Niederlage“. Ein Sieg war es für die Völker Europas und der Welt, die sechs Jahre lang von deutschen und japanischen) Truppen besetzt, ausgebeutet und vernichtet worden waren. Ein allzu später Sieg für die Überlebenden in den Strafgefangenenlagern, in den Konzentrationslagern, für die wenigen Juden, welche den Gaskammern der Vernichtungslager der SS entkommen sind (sechs Millionen Juden und Zehntausende Sinti und Roma sind dem deutschen Herrenmenschen-Rassismus zum Opfer gefallen).
Befreit fühlen durften sich aber auch die Deutschen selbst. Der Zweite Weltkrieg, der von Nazi-Deutschland entfacht wurde, hatte sich spätestens mit der Schlacht um Stalingrad (1943) und der Landung der Westalliierten in der Normandie (1944) gewendet. Waren zuvor deutsche Soldaten in fremde Länder einmarschiert, hatten deutsche Flugzeuge europäische Großstädte bombardiert, so waren es seit 1943 vornehmlich britische Bomber, die ihre tödliche Fracht auch über deutsche Städte abwarfen. Kassel, die Stadt, aus der ich komme, befand sich unter den ersten deutschen Großstädten, die im Oktober 1943 den alliierten Bombenhagel zu spüren bekamen, Dresden – im Februar 1945 – war, von Berlin abgesehen, die letzte Stadt, die daran glauben musste.
So unmenschlich auch diese Zerstörungen waren, die sich ja nicht nur gegen militärische Ziele richteten, sondern ganz gezielt auch der Bevölkerung galten, damit ihr die „Moral“ und der Glaube an den „Endsieg“ genommen würden, so verständlich war es doch auch, dass der Krieg schließlich in das Land zurückkehrte, von dem er ausgegangen war.
Wer heute in provokativer Weise nur der deutschen Opfer der letzten Kriegstage gedenkt, will im Grunde genommen das Rad der Geschichte zurückdrehen. Dass solche neonazistischen „Revisionisten“ sich heute nicht nur auf den Straßen, sondern auch in Landtagen wieder breit machen, ist eine politische Schande, die man gar nicht genug anprangern kann! Zu Recht sorgt sich daher die UN-Menschenrechtskommission in ihrem neuesten Bericht über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (März 2005) ausdrücklich auch über den Vormarsch rechtsextremer Parteien in Deutschland.
Doch auch wer heute öffentlich unterschiedslos aller Opfer des Zweiten Weltkriegs gedenkt, des toten sowjetischen Soldaten in der russischen Steppe, des toten amerikanischen Soldaten in der Normandie oder des zu Tode geschundenen Zwangsarbeiters genauso wie des toten Wehrmachtsangehörigen, der beim Kampf um Berlin sein Leben ließ, auch der hat nicht genügend aus der Geschichte gelernt. Wir müssen darauf bestehen, dass es zwischen Tätern und Opfern einen fundamentalen Unterschied gibt. Wir müssen darauf bestehen, dass die Urheberschaft des Zweiten Weltkriegs nicht über die Hintertür des Totengedenkens jenen mit -angelastet wird, die diesen Krieg nicht gewollt und sich gegen den deutschen Überfall zur Wehr gesetzt haben. Und wir müssen schließlich darauf bestehen, dass die Schuldigen an der Weltkriegskatastrophe immer und immer wieder beim Namen genannt werden.
1945 war das noch selbstverständlich. Die von US-Soldaten oder der Roten Armee befreiten KZ-Häftlinge waren sich damals einig, nicht nur zu sagen: „Nie wieder Krieg!“, sondern eben auch „Nie wieder Faschismus!“ Einig waren sich auch die Alliierten darin, Deutschland die Grundlagen zu entziehen, jemals wieder einen Krieg anzetteln zu können. Die ersten Maßnahmen der Besatzungsmacht waren daher die restlose Zerschlagung der deutschen Wehrmacht und aller ihrer Unterorganisationen, die Demobilisierung der Truppen, die Übernahme der Kontrolle über die deutschen Rüstungsschmieden sowie die Internierung vieler ihrer Besitzer oder Leiter, die Zerschlagung der IG Farben (dem mächtigsten Industriekonzern, der Hitler zur Macht verholfen hatte) und der Aufbau demokratischer Institutionen auf Gemeinde- und Landesebene. Hinzu kam, dass die faschistische Ideologie mit „Stumpf und Stiel“ aus den Köpfen und Herzen der Deutschen ausgerottet werden sollte.
All diese Maßnahmen beruhten im Wesentlichen auf zwei Voraussetzungen:
Einmal auf den Vereinbarungen der Alliierten, die bereits während des Krieges in Teheran und Jalta und nach dem Krieg im August 1945 in Potsdam weitreichende Pläne für den Aufbau eines friedlichen, entmilitarisierten und demokratischen Deutschland entworfen hatten. In diesem Deutschland sollten Großindustrielle und Großbankiers – wie Krupp, Flick und Hermann Josef Abs – keine Rolle mehr spielen dürfen, sollten Adel und Großgrundbesitz ihre Privilegien und ihren Besitz verlieren, und sollten die Träger der nationalsozialistischen Ideologie ihres Einflusses in Staat und Gesellschaft beraubt werden.
Zum Zweiten hatten diese Maßnahmen ihre Anhänger in allen sich nach dem Krieg neu konstituierenden demokratischen Parteien. Aus der verhängnisvollen Verflechtung von Großkapital und Nazi-Führung haben nicht nur die alten Arbeiterparteien SPD und KPD, sondern auch die damals junge CDU die Lehre gezogen, das übermächtige Industrie- und Finanzkapital zu „sozialisieren“. Es dürfe künftig nicht mehr sein, dass ein Staat, ja, dass potenziell die ganze Welt zur Beute und zum Ausbeutungsobjekt und damit zum Bereicherungsprojekt weniger Großindustrieller und Bankiers werden könne. Als Widerhall jenes Konsenses flossen in das Grundgesetz der (westlichen) Bundesrepublik 1949 die Artikel 14 und 15 ein, in denen die Sozialpflichtigkeit des Eigentums festgestellt und die Möglichkeit der Enteignung eröffnet wurde.
Dass von dieser Möglichkeit im Dienste der Allgemeinheit in der (alten) Bundesrepublik schließlich so wenig Gebrauch gemacht wurde, dass im Gegenteil unser Land in den 50er Jahren eine Phase der Rekonstruktion alter Besitz- und Machtverhältnisse durchmachte, und dass 60 Jahre nach dem Ende des Faschismus die Zeichen längst wieder eher auf die Privatisierung öffentlichen Eigentums als auf die gemeinwohlorientierte Sozialisierung privaten Besitzes gestellt sind, gehört zu den besonders bitteren Erfahrungen. Sie sind der wenige Monate nach der Potsdamer Konferenz einsetzenden Periode des „Kalten Kriegs“ geschuldet, in dessen Folge Ostdeutschland (später die DDR) sich weitgehend den Vorgaben der sowjetischen Besatzungsmacht, Westdeutschland (später die BRD) den Weisungen der US-Besatzungsmacht unterordneten.
Die West- bzw. Ostorientierung der beiden Landeshälften bzw. deutschen Staaten verhinderte schließlich die Durchsetzung einer alternativen Entwicklung zwischen den „Blöcken“: die Etablierung eines kleiner gewordenen, neutralen und entmilitarisierten, dafür aber vereinigten Deutschland, dessen Ostgrenze endgültig von Oder und Neiße markiert würde. Der Weg in die Einheit und Neutralität, den Österreich gehen konnte, wurde Deutschland – insbesondere aufgrund der sturen Haltung des Westens einschließlich des deutschen Kanzlers Adenauer – verwehrt, die Chancen hierzu – noch 1952/1953 - nicht ergriffen.
Nun werden manche sagen, der Traum von der deutschen Einheit ist 1989/90 doch in Erfüllung gegangen und dies war doch auch das Ergebnis der beharrlichen Politik der Westintegration und der Remilitarisierung (einschließlich des Beitritts zur NATO). Aber was hätte der Bevölkerung in Ost und West erspart werden können, wenn Deutschland den „österreichischen“ Weg gegangen wäre! Keine Frontstadtsituation Berlin, keine Mauer, keine atomare Bedrohung und kein Aufmarschgebiet von NATO und Warschauer Vertrag! Ein neutrales Land hätte auf Rüstung weitgehend verzichten und in der Weltpolitik eine konstruktivere Rolle spielen können – so wie das das kleine Österreich beispielsweise im Nahost-Konflikt in den 70er Jahre recht erfolgreich praktiziert hat.
Aus friedenspolitischer Sicht waren die 60 Jahre Nachkriegsentwicklung also keine reine Erfolgsgeschichte. Es war eher eine Zeit der verpassten Chancen und der bitteren Niederlagen
Denken wir
erstens an die Remilitarisierung, die nicht nur aus dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und dem Aufbau der Bundeswehr bestand, sondern in deren Gefolge die Bundesrepublik wieder eine starke Rüstungsindustrie aufbauen konnte, die sich vor allem auf den Bau von Kriegsschiffen und U-Booten, von Kampfflugzeugen und von schweren Panzern konzentrierte. Deutschland ist auch führend bei der Produktion und beim Export von Kleinwaffen wie dem Sturmgewehr G3, das heute ähnlich wie die berühmte Kalaschnikow in fast allen bewaffneten Konflikten und Bürgerkriegen der Welt zum Einsatz kommt.
Denken wir
zweitens an das zeitweise Wiedererstarken neonazistischer und revanchistischer Kräfte, die nicht nur in der extremen Rechten vom Schlage der NPD oder DVU und ihren gewalttätigen Schlägerbanden zu finden sind, sondern auch in den unseligen „Vertriebenenverbänden“, die ihrerseits bis weit in die CDU/CSU hinein reichen.
Denken wir
drittens an den grassierenden Antikommunismus der frühen 50er und 60er Jahre, der das geistige Klima in Westdeutschland vergiftete und in der eine seriöse und wissenschaftlichen Kriterien genügende Aufarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte nicht gedeihen konnte. Antikommunismus war die nicht weiter hinterfragbare Staatsdoktrin, die dem Kalten Krieg und dem Wahnsinnsprojekt der atomaren Abschreckung seine ideologische Legitimation verlieh. Kommunisten und mit ihnen alle Kapitalismuskritiker waren gesellschaftlicher Ächtung bis hin zur Verfolgung etwa in Form der „Berufsverbote“ ausgesetzt gewesen. Demgegenüber wurden nur flüchtig entnazifizierte oder als Mitläufer weiß gewaschene Funktionsträger des Dritten Reiches rehabilitiert und schafften es bis in die höchsten Staatsämter der Bundesrepublik. Es ist schon ein besonderes deutsches Rühr- und Schauerstück, wenn erst heute, im Jahr 2005, der zuständige Minister sich daran macht, die Traditionslinien des Auswärtigen Amts etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Bundesaußenminister Fischer hat dem verstorbenen Botschafter a.D. Franz Krapf das bis dato übliche "ehrende Andenken" in einem amtsinternen Mitteilungsblatt verweigert. Warum? Franz Krapf gehörte einst nicht nur der NSDAP, sondern auch der SS und dem Sicherheitsdienst (SD) an, jenen verbrecherischen Organisationen also, die für die Vernichtung der Juden in Europa maßgeblich verantwortlich waren. Die Zahl der Diplomaten, Staatssekretäre, Botschafter und Attachés, die dem faschistischen Führerstaat treu ergeben waren und später im Auswärtigen Amt in Bonn ihren Dienst versahen und nach ihrem Ausscheiden oder Tod geehrt wurden, ist Legion.
Hitlergegner dagegen hatten keine Chance, wie der Historikers Hans-Jürgen Döscher vor kurzem am Fall Kolbe aufdeckte: „Getarnt als diplomatischer Kurier des Auswärtigen Amtes, hatte Fritz Kolbe dem amerikanischen Nachrichtendienst in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs u.a. geheime Dokumente über den Vernichtungsfeldzug gegen die Juden in Osteuropa geliefert, um Hitlers ‚verbrecherischen Krieg’ zu sabotieren. Nach 1950 ist Kolbe trotz wiederholter Einstellungsgesuche nicht mehr im Auswärtigen Dienst verwendet worden. Er galt als ‚Verräter’.“ (FR, 30. August 2005; Dokumentation) Erst im vergangenen Jahr ist Kolbe von Außenminister Fischer rehabilitiert worden – eine der wenigen Amtshandlungen, die auf der Positivseite in der politischen Bilanz des Außenministers zu verbuchen sind.
Denken wir
viertens (und da sind wir wieder bei der Negativseite) an den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999. Dieser Krieg verstieß nicht nur gegen das geltende Grundgesetz und gegen die Charta der Vereinten Nationen (nebenbei gesagt: auch gegen den Nordatlantik-Vertrag der NATO), sondern führte auch zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik: Die Bundeswehr, die einst als reine Verteidigungsarmee geschaffen worden war (woran, auch das sei nicht verschwiegen, hohe Offiziere der faschistischen Wehrmacht beteiligt gewesen waren) wird in eine weltweit einsetzbare Interventionsarmee „transformiert“. Das Grundgesetz stört nicht weiter, denn das was in Wahrheit Angriffskrieg und Intervention ist, wird kurzer Hand „Verteidigung“ genannt. Sie findet eben jetzt am Hindukusch, vielleicht morgen im Sudan und übermorgen im Kaukasus statt.
Es ist gut, dass der Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“ in seinem diesjährigen Aufruf und, soweit ich das beurteilen kann, in seiner langjährigen Arbeit immer wieder darauf hingewiesen hat, dass die wichtigste Lehre aus Krieg und Faschismus die ist, keinen Krieg und keinen Faschismus mehr zu zulassen. Krieg ist unter keinen Umständen eine Lösung. Wie sagte Berta von Suttner, die vor 100 Jahren als erste Frau den Friedensnobelpreis erhielt: „Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecke mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegputzen zu wollen – nur Blut, das soll immer wieder mit Blut ausgewaschen werden.“
Ich möchte aber nicht enden, ohne auch noch auf Anzeichen der Hoffnung, auf positive Entwicklungen hingewiesen zu haben. Diese Zeichen kommen nicht aus der offiziellen Politik – weder der jetzigen rot-grünen Regierung noch gar einer künftigen schwarz-gelben Regierung. Sie kommen aus einem, wie ich meine, veränderten gesellschaftlichen Klima.
Ich habe die Hoffnung, dass sich die Einstellung der Bevölkerung der Bundesrepublik zu Fragen von Krieg und Frieden heute grundlegend unterscheidet von den Einstellungen früherer Generationen, insbesondere „der Deutschen“ vor 1945.
Das (Selbst-)Bild der Deutschen als einem zu Krieg und Eroberung prädestinierten Herrenvolk wurde nach dem Zweiten Weltkriegs nach und nach zerstört. Bewirkt wurde diese Einstellungsänderung vor allem durch drei Momente:
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Nach dem Zweiten Weltkrieg, dem verheerendsten Krieg in der Geschichte der Menschheit, hat sich ins kollektive Gedächtnis der Deutschen (in Ost und West) der Schwur der KZ-Überlebenden eingegraben, dass sich Auschwitz nicht wiederholen und von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe. Diese Erkenntnis resultiert aus dem unermesslichen Leid, das Deutschland im 2. Weltkrieg anderen Völkern angetan hat und in der militärischen Niederlage schließlich selbst erfahren musste.
- Sie ist zweitens Ergebnis der jahrzehntelangen außen- und militärpolitischen Selbstbeschränkung der – alten – Bundesrepublik (der Spielraum der DDR war bestimmt nicht größer), die sich sehr gut mit der ökonomischen und sozialen Prosperität des Landes vereinbaren ließ und von der Bevölkerung nicht als Nachteil empfunden wurde. Die Mitte der 50er Jahre aufgestellten Armeen (Bundeswehr bzw. NVA) waren ausschließlich und ausdrücklich auf reine Verteidigungsaufgaben festgelegt.
- Die größere Friedfertigkeit der deutschen Gesellschaft ist schließlich auch Ergebnis des langjährigen Wirkens der Friedensbewegung und anderer demokratischer Bewegungen, deren Gedanken und Überzeugungen sich im Bewusstsein vieler Menschen festgesetzt haben.
Alle Aktivitäten der Friedensbewegung, der antifaschistischen Bewegung oder der globalisierungskritischen Bewegung hinterlassen ihre Spuren – jedenfalls über einen größeren Zeitraum. Bei den Demonstranten, die sich Anfang der 80er Jahre gegen die Stationierung neuer Atomraketen in Europa zur Wehr setzten, bei den überwiegend jungen Leuten, die 1991 gegen den Golfkrieg massenhaft auf die Straße gingen, bei den Schülern, die zu Zig-Tausenden im Februar und März 2003 gegen den Irakkrieg aufbegehrten: bei all diesen Menschen entwickelten sich Einsichten und Einstellungen, die sich mit dem jeweiligen Ende der Massenproteste ja nicht verflüchtigen. Ein wachsender Teil der Bevölkerung lässt sich Heute offenbar nicht mehr für eine kriegerische Politik mobilisieren. Dieser Tatsache versuchte auch Bundeskanzler Schröder dieser Tage Rechnung zu tragen, indem er versuchte, im Wahlkampf die Erinnerung an die „Anti-Irakkriegs-Haltung“ der rot-grünen Koalition wieder zu beleben.
Dies ist aber - leider - keine Garantie für alle Zeiten. Es wird sich zeigen, ob die kriegsabstinente Grundeinstellung der Bevölkerung auch noch Bestand hat, wenn sich die Europäische Union anschickt, mit ihren neu geschaffenen Battle Groups (Schlachtgruppen) und der 60.000 Soldaten umfassenden Einsatztruppe in Asien oder Afrika den „freien Zugang zu Rohstoffen“ zu sichern oder unbotmäßige Regime zu beseitigen – natürlich unter dem Deckmantel der „Verteidigung von Menschenrechten“ oder des „Kampfes gegen den internationalen Terrorismus“. Mit der von der politischen Klasse der Bundesrepublik maßgeblich voran getriebenen Umwandlung der EU aus einem ursprünglich wirtschaftlichen und sozialen Projekt in einen Militärpakt, wird die Nachkriegsgeschichte neu geschrieben. Und wieder heißt es: Rüstet Europa zu neuen Kriegen oder bereitet sich Europa auf den Frieden vor?
Ehren wir die Toten, indem wir künftigen Kriegen Einhalt gebieten.
* Dr. Peter Strutynski, AG Friedensforschung an der Uni Kassel, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag;
Bei dem Manuskript handelt es sich um eine Rede auf der Gedenkveranstaltung des Arbeitskreises "Blumen für Stukenbrock" zum Antikriegstag 2005 (3. September 2005)
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