Gute Fallanalysen – verfehlte Politik
Das Friedensgutachten 2012 ist Fortschritt und Rückschritt zugleich
Von Peter Strutynski *
Es hat sich in den vergangenen Jahren bereits angekündigt: Die jährlich von den großen deutschen Friedensforschungsinstituten herausgegebenen „Friedensgutachten“ werden in ihren friedenspolitischen Aussagen immer staatstragender und bellizistischer, enthalten aber immer noch eine Reihe hervorragender Analysen und Fallstudien zu verschiedenen bewaffneten oder unbewaffneten Konflikten in der Welt. So ärgerlich das eine auch ist, so sehr muss man wegen des anderen das Friedensgutachten weiterhin allen empfehlen, die sich von Berufs wegen, als Studierende oder als Friedensaktivisten oder als Politiker/in mit außen- und sicherheitspolitischen Fragen beschäftigen. Die folgenden Bemerkungen beziehen sich überwiegend auf den ärgerlichen Teil des Gutachtens: die politische Stellungnahme, die von allen fünf Herausgebern verantwortet wird.
Die „Stellungnahme“ beginnt mit einer Bewertung der weltpolitischen „Machtverschiebungen“. Sie werden einmal festgemacht am Aufstieg Chinas zu einer wirtschaftlichen Supermacht und zum Hauptgläubiger der anderen Supermacht USA, die in die Lage des Hauptschuldners geraten sei. Diese sog. G-2 seien die „relevanteste bilaterale Größe der Staatenwelt“. Zum anderen seien die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) „auf dem Vormarsch“. Sie repräsentieren über 40 Prozent der Weltbevölkerung und haben im letzten Jahrzehnt ihren Anteil an der Weltwirtschaftsleistung verdoppelt. So unterschiedlich ihre wirtschaftlichen und politischen Systeme auch sein mögen, so vertreten sie doch ähnliche außenpolitische Interessen. Vor allem geht es ihnen um die Zurückdrängung westlicher Hegemonieansprüche und um mehr Einfluss auf die internationalen Institutionen (vom UN-Sicherheitsrat über die Weltbank bis zum Internationalen Währungsfonds).
Die Friedensforscher/innen haben zu diesen von ihnen sehr richtig erkannten Trends ein ambivalentes Verhältnis. Irgendwie, so scheint es, können sie sich mit dem Abschied des Westens von der führenden weltpolitischen Rolle nicht recht anfreunden. Daher ergeht ihr Rat an die BRICS-Staaten, sie mögen für das „Funktionieren der internationalen Ordnung mehr Pflichten (zu) übernehmen“. Der Westen könne dazu beitragen, indem er auf „Paternalismus“ und angestammte „Privilegien“ verzichtet und ein „partnerschaftliches Handeln“ praktiziert. Im Übrigen plädieren die Friedensforscher/innen dafür, die BRICS-Staaten „mehr in die Verantwortung zu nehmen“. Das ist eine Floskel, die paternalistischer gar nicht sein könnte. Was Verantwortung (für die Welt!) ist, wissen wir im Westen immer noch am besten; und jetzt sollen die anderen auch ein wenig davon übernehmen. Altkolonialistisches Denken pur! Der zustimmende Verweis auf das Konzept des Auswärtigen Amts „Globalisierung gestalten – Partnerschaften ausbauen – Verantwortung teilen“ vom 8. Februar 2012 (BT-DS 17/8600) bestätigt diese Einschätzung. Denn dort geht es im Kern darum, den „Partner“-Ländern die Segnungen der deutschen und EU-europäischen Menschenrechts- und Rechtsstaatspolitik beizubringen: „Wir wollen die aus deutscher Sicht relevanten Rechtsstaatsthemen und Kooperationsschwerpunkte auch aktiv an die Partner herantragen und so für die Vorteile der bewährten deutschen bzw. europäischen Lösungen und Erfolge beim Aufbau moderner Rechtsordnungen werben“, heißt es in dem Strategiepapier des Auswärtigen Amts (a.a.O, S. 8) Vollends verräterisch wird der Zungenschlag der Friedensforscher/innen, wenn sie für diese Art der „Gestaltungsmacht“ den Begriff der „soft power“ reklamieren. Darunter wird „die Fähigkeit“ verstanden, „andere mittels Kooptation, Agendasetting, Überzeugung und positiver Anreize so zu beeinflussen, dass man ihre Zustimmung erreicht“.
Es geht also um Zustimmung der anderen und keineswegs um fairen Ausgleich oder Kompromiss. Und was, wenn die Zustimmung nicht gegeben wird? Nun, dann halten wir in jedem Fall schon einmal die Daumenschrauben bereit. Und die befinden sich in einem Konzept, das sich „Responsibility to Protect“ nennt und vor gut zehn Jahren von einer hochrangigen Kommission unter kanadischer Federführung erarbeitet wurde. Darin geht es um Vernunftgründe für die Staatengemeinschaft, unter bestimmten Umständen mit Militärgewalt in die Zuständigkeit souveräner Staaten einzugreifen. Vereinfacht gesagt soll der UN-Sicherheitsrat – wenn er dazu nicht in der Lage ist, auch einzelne Staaten – dann zur Militärintervention in Staaten berechtigt sein, wenn dort Völkermord, schwere Kriegsverbrechen oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden oder zu befürchten sind. Krieg führen also um Menschen zu schützen. In der Stellungnahme der Friedensforscher/innen wird zu Recht darauf hingewiesen, dass dieses Prinzip in einem Spannungsverhältnis zu wesentlichen Prinzipen des Völkerrechts steht, etwa dem der staatlichen Souveränität, des Gewaltverbots und des Nichteinmischungsgebots. Dennoch wird so getan, als habe dieses Konzept Eingang gefunden in das Völkerrecht, ja als habe die UN-Generalversammlung 2005 mit dem Konzept der „Responsibility to Protect“ eine neue völkerrechtliche Norm „verabschiedet“. Das aber ist eine Fehldeutung, die auch durch noch so viele Wiederholungen nicht wahrer wird.
Was sagt das Abschlussdokument der UN-Generalversammlung 2005? In Ziff. 139 heißt es:
„Die internationale Gemeinschaft hat durch die Vereinten Nationen auch die Pflicht, diplomatische, humanitäre und andere friedliche Mittel nach den Kapiteln VI und VIII der Charta einzusetzen, um beim Schutz der Zivilbevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit behilflich zu sein. In diesem Zusammenhang sind wir bereit, im Einzelfall und in Zusammenarbeit mit den zuständigen regionalen Organisationen rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat im Einklang mit der Charta, namentlich Kapitel VII, zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Wir betonen die Notwendigkeit, dass die Generalversammlung die Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die sich daraus ergebenden Auswirkungen eingedenk der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts weiter prüft.“
Hier werden erstens den friedlichen Maßnahmen nach Kapitel VI und VIII der UN-Charta eindeutig Priorität eingeräumt, bevor Zwangsmaßnahmen nach Kap. VII (die bis auf den Art. 42 übrigens auch nicht militärischer Art sind) in Erwägung gezogen werden. Zweitens handelt es sich eindeutig um einen „Prüfauftrag“ an die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen und nicht um eine abschließende Festlegung. Und drittens – und das wiegt nicht weniger schwer, obwohl es mehr ein formales Argument ist – sind Beschlüsse oder – wie in diesem Fall – Gipfeldokumente der Generalversammlung für die Staaten nicht verbindlich und haben auch keinerlei völkerrechtliche Relevanz. Dass also mit der Erwähnung der „Responsibility to Protect“ in der Abschlusserklärung der Generalversammlung ein „neues Konzept im Völkerrecht“ aufgetaucht sei, wie die „Stellungnahme“ behauptet, ist eine Erfindung, die mit dem Völkerrecht nichts, mit dem Wunsch der Friedensforscher/innen aber sehr viel zu tun hat, der schrecklichen Gewalt in der Welt endlich Einhalt zu gebieten – wenn nötig, mit dem Einsatz von Gewalt. Und dieser unerfüllbare Wunsch deckt sich – wohl nicht ganz zufällig - mit der in den letzten zwei Jahrzehnten in Mode gekommenen Interventionspolitik der NATO und der Bundesregierung. Wie wohltuend differenziert dagegen der Einzelbeitrag von Lothar Brock und Nicole Deitelhoff über den „normativen Bezugsrahmen der internationalen Politik“ (S. 99ff)!
Die Friedensforscher/innen machen denn auch die Probe aufs Exempel. Der Libyen-Krieg der NATO wird umstandslos unter der neuen Erzählung mit dem Titel „Responsibility to Protect“ abgehandelt. Das legte Resolution 1973 (2011) auch nahe, ging es darin doch um die Herstellung einer Flugverbotszone zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung. Doch dass ein zweiter Kriegsgrund darin bestanden hätte, einen „Regimesturz“ herbeizuführen, grenzt schon an Geschichtsklitterung. Genau das war zwar von der Kriegsallianz von Anfang an intendiert, von der UN-Resolution aber nicht abgedeckt. Im Friedensgutachten 2011 hatten die Autoren noch korrekt-kritisch formuliert: „Der angestrebte Regimewechsel überdehnt das Prinzip des Schutzes der Zivilbevölkerung.“ Heute wird nur noch die Nase gerümpft über eine spätere internationale Folge des Krieges, nämlich die Destabilisierung des Systems in Mali, verursacht durch die „Rückkehr schwerbewaffneter Söldner“ in ihre Heimat. Kein Wort über die Illegalität des Regimewechsels, die Begleitumstände der Beseitigung des obersten Repräsentanten des Regimes, kein Wort auch über die zivilen Opfer des Krieges, die selbst von den Rebellen auf 50.000 beziffert wurden.
Doch all das verwundert nicht mehr, wenn man sich in Erinnerung ruft, was ein prominenter Friedensforscher vor einem Jahr zu Libyen zu Protokoll gegeben hat. In der Süddeutschen Zeitung vom 29. April 2011 fuhr Harald Müller, Vorsitzender des größten der fünf Friedensforschungsinstitute, der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, schweres Geschütz gegen die Bundesregierung auf, die mit ihrer Enthaltung im UN-Sicherheitsrat einen „moralischen und politischen Fehler“ begangen habe. Müller hätte sich eine eindeutige Kriegsteilnahme der Bundesrepublik gewünscht – „gerade in dem historischen Moment, in dem die internationale Gemeinschaft einen kleinen Schritt voran machte“.
Dieser „Schritt voran“ ist nichts anderes als eine Aushöhlung des Völkerrecht, insbesondere seiner in Art. 2 der UN-Charta formulierten tragenden Prinzipien: Gewaltverbot, staatliche Souveränität, territoriale Integrität und Nichteinmischungsgebot. Die Frage nach der Zulässigkeit militärischer Interventionen in souveräne Staaten gegen deren Willen ist demnach auch keine prinzipielle Frage mehr, sondern eine Frage der Zweckmäßigkeit. Deutlich wird das in den Passagen der „Stellungnahme“, die sich mit Syrien befassen. Eine Intervention oder zumindest eine massive Einmischung in den Bürgerkrieg etwa durch Waffenlieferungen an die Opposition verwerfen die Friedensforscher/innen, weil die Risiken und Nebenwirkungen zu hoch bzw. unkalkulierbar sind. Stattdessen ergeht der Rat an die Konfliktparteien, in einen Verhandlungsprozess einzutreten, für den der Sechs-Punkte-Plan Kofi Annans ja bereits den Boden bereitet habe. Als Vorbild könne das Beispiel Libanon dienen, wo es 1989/90 gelungen sei, einen 15 Jahre währenden Bürgerkrieg durch ein historisches Friedensabkommen zu beenden. Dies wäre auch die einzige Chance, China und Russland in den Friedensprozess „einzubinden“.
Von Realismus geprägt ist auch der Teil der Stellungnahme, der auf den Atomkonflikt mit dem Iran eingeht. Die Analyse legt den Schluss nahe, dass die Sanktionspolitik des Westens (und der UNO) gescheitert sei. Man sollte die Forderung an den Iran, die Urananreicherung auszusetzen, fallen lassen, eine Rücknahme der Sanktionen anbieten und im Gegenzug vom Iran Zugeständnisse hinsichtlich der Kontrollpolitik der IAEO verlangen. Präventivkriegsgedanken wird eine Absage erteilt (in diesem Fall auch aus völkerrechtlichen Gründen) und der Bundesregierung dringend empfohlen, sich – zusammen mit ihren „europäischen Partnern“ – eindeutig „gegen einen Militärschlag aus(zu)sprechen“. Als mittelfristiges Ziel wird die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone im Nahen Osten unter Einschluss Israels (als der einzigen Atommacht in der Region) ins Auge gefasst. (Korrespondierend dazu der luzide Einzelbeitrag von Jerry Sommer: „Iran – Wie kann man die Kriegsuhren anhalten?“ S. 306ff)
Die Stellungnahme der Friedensforschungsinstitute enthält noch eine Reihe weiterer friedenspolitischer Themen (so etwa den Bereich Rüstungsexport, Rüstung und Konversion oder Fragen der Migration und des militärischen Schutzes der EU-Außengrenzen), die sich in großen Teilen mit Überlegungen und Forderungen der Friedensbewegung decken. Ob es richtig war, den Schwerpunkt sowohl der „Stellungnahme“ als auch des gesamten Friedensgutachtens auf die Wirtschafts- und Finanzkrise zu legen, möchte ich dahin gestellt sein lassen. Zwar ist der Hinweis auf die friedenspolitischen Implikationen der gegenwärtigen Krisenprozesse nie ganz von der Hand zu weisen, nur sind diese nicht so zwingend, dass sich daraus eine Friedensagenda ableiten ließe. Abgesehen davon beschäftigen sich andere Expertengremien schon viel länger und intensiver mit der EU-Finanz- und Eurokrise; ich nenne nur die jährlichen Wirtschaftsmemoranden der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Bedauerlich ist in jedem Fall, dass daneben zu wenig Platz bleibt für „genuine“ friedenspolitische Themen, die in der diesjährigen „Stellungnahme“ nicht einmal mehr erwähnt werden. Kein Wort zum fortgesetzten Afghanistankrieg, kein Wort zum Kernkonflikt des Nahen Osten, dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Wurden diese für den friedenspolitischen Diskurs nach wie vor wichtigen Probleme nur deswegen nicht angesprochen, weil sich nichts Neues darin getan hätte? Dann wäre das ein großer Irrtum, denn sowohl die Verlängerungsperspektive des Afghanistan-Einsatzes (über 2014 hinaus) als auch der Versuch der Palästinenser ihr Problem mit der israelischen Besatzung und Landnahme zu internationalisieren, hätte einer neuen Betrachtung und Bewertung durch die Friedensforschung bedurft. Das zeigt im Übrigen auch der informative Einzelbeitrag von Claudia Baumgart-Ochse und Margret Johannsen: „Auf Eis gelegt, aber nicht gelöst: der israelisch-palästinensische Konflikt“ (S. 277ff).
Fazit: Niemand sollte sich von den Leerstellen und den politisch fragwürdigen Aussagen der „Stellungnahme“ abhalten lassen, das Buch zu kaufen und zu lesen. Es wäre nämlich wirklich schade um eine Reihe gründlicher Analysen unter den insgesamt 21 Einzelbeiträgen.
Bruno Schoch, Corinna Hauswedell, Janet Kursawe, Margret Johannsen (Hg.): Friedensgutachten 2012 der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), des Bonn International Center for Conversion (BICC), der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), LIT-Verlag: Berlin, Münster usw. 2012, 352 Seiten; 12,90 EUR; ISBN 978-3-643-11598-0
* Peter Strutynski, Dr. phil., Politikwissenschaftler und Friedensforscher, Kassel; Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag; www.ag-friedensforschung.de
Eine gekürzte Fassung des vorliegenden Beitrags erschien in der Wochenendausgabe des "neuen deutschland" vom 16. Juni 2012 (hier geht es zur pdf-Datei!).
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