Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Andere Erinnerung

Friedrich-Martin Balzer ist siebzig

Von Georg Fülberth *

Das zwanzigste Jahrhundert hat einen Haufen Kram hinterlassen, der glasklar sortiert und bewertet wird: nachdem das Reich des Bösen untergegangen ist, soll alles, was damit zu tun hatte, entweder vergessen oder der öffentlichen Verdammung übergeben werden. Es hat keinen Sinn, dagegen anzuschreiben, denn die Gedanken der herrschenden Klassen sind die herrschenden Gedanken, und Geschichtsschreibung ist Teil der Siegerideologie. Wer von den Unterlegenen nicht den Mund hält, schreibt Heimathistorie für den eigenen Verein, bis auch der verschwunden ist. Ob das je anders wird, hängt von künftigen Verhältnissen ab. Bleiben sie so, wie sie sind, ist das, was heute vergessen und verurteilt ist, auch künftig nicht der Rede wert. Ändern sich die Dinge, kann eine neue Kalamität entstehen: In besseren Zeiten, zum Beispiel im Sozialismus, werden sich die Menschen fragen, wer ihre Vorläufer und Wegbereiter gewesen sind. Die Marx-Engels-Werkausgabe wird ihnen nützen, aber über Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt dann nur die Siegerliteratur der Jahrzehnte 1990 ff. vor, die die glücklichen Nachfahren langweilen wird.

Sie werden deshalb dankbar dafür sein, daß sich einer frühzeitig daran gemacht hat, das zu sammeln, was verworfen wurde.

Irgendwann ab 1960 fiel der Student Friedrich-Martin Balzer in Marburg dem Professor Wolfgang Abendroth in die Hände. Der erzählte von merkwürdigen Dingen und Leuten. Zum Beispiel über einen gewissen Pfarrer Erwin Eckert. Dieser sei Vorsitzender des Bundes religiöser Sozialisten gewesen, zur KPD übergetreten, darauf von seiner Kirche aus dem Amt gejagt und von den Nazis eingesperrt worden. 1949 erzielte er bei einer Oberbürgermeisterwahl in Mannheim einen hochprozentigen Achtungserfolg. Er wurde 1960 als Aktivist der Bewegung gegen die Wiederbewaffnung verurteilt.

So weit Wolfgang Abendroth über Erwin Eckert. Der junge Balzer verschaffte sich die Quellen, sicherte sich den Nachlaß (er steht heute noch in seiner Wohnung), schrieb seine Doktorarbeit über den Pfarrer und erschloß sich eine Welt: die namenlos Gemachten, die in ihrer Zeit widerständig waren und ein riesiges Erbe von Gedanken und nachahmenswerten Taten und Haltungen hinterließen. Damit hatte er das Thema seines Lebens gefunden: ausgraben und aufbewahren.

Seine Entdeckungs- und Sammelwut richtete sich irgendwann auch auf den, der sie einst ausgelöst hatte. Inzwischen erscheint eine Werk­ausgabe Wolfgang Abendroths. Auf ihrem Titelblatt steht nicht Friedrich-Martin Balzer unter den Herausgebern. Aber in Wirklichkeit wäre sie nicht möglich ohne die von ihm angelegte vollständige Sammlung der Abendroth-Texte: Er hat sie, bis zurück in die zwanziger Jahre, aufgespürt und elektronisch erfaßt. Die beiden Dissertationen, die es inzwischen über Abendroth gibt, schöpfen ebenfalls aus diesem Schatz, den Balzer ihren Verfassern bereitwillig geöffnet hat.

Er hat eine Nase für aktuelle Texte, die unter den gegenwärtigen Umständen verschwinden könnten, als seien sie in einen Brunnen gefallen: Von Friedrich-Martin Balzer gibt es eine vollständige Bibliographie der bisherigen Schriften von Hans Heinz Holz.

Nicht nur Marxistisches gehört zum Treibholz des 20. Jahrhunderts, das gesammelt werden muß. Einige Schüler Helmut Ridders, darunter dessen ehemaliger Assistent Frank-Walter Steinmeier, haben ein Buch »Gesammelte Schriften« dieses radikaldemokratischen Juristen herausgebracht, 785 Seiten für 148 Euro. Was ist das schon im Vergleich zu: Friedrich-Martin Balzer (Hg.): »Helmut Ridder. Das Gesamtwerk«? Es handelt sich um nichts anderes als eine Werkausgabe in sechs Bänden. Sie enthält außer der Gesamtbibliographie digital erfaßt mehr als 500 Veröffentlichungen, darunter alle selbständigen Schriften und alle ermittelbaren Veröffentlichungen von 1947 bis 2005 im Volltext, mehr als 99 Prozent des Gesamtwerks. Die von Steinmeier u.a. herausgegebene Auswahl ist nicht ohne diese Vorarbeit denkbar.

Solche Leistungen entstanden neben der jahrzehntelangen Arbeit als Lehrer an einer Marburger Schule.

Jetzt, am 24. November, ist er siebzig geworden. Menschen, die historisch arbeiten, sind oft langlebig und werden im Alter wissenschaftlich noch lange nicht schwächer. Von Friedrich-Martin Balzer ist also manche weitere wichtige Ausgrabung zu erwarten.

* Aus: junge Welt, 24. November 2010


Zurück zur Seite "Friedenswissenschaft"

Zur Seite "Friedensbewegung"

Zurück zur Homepage