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Mehr als nur Hugo Chávez

Der Historiker Michael Zeuske über den Wandel seit dem Amtsantritt von "el comandante"

Michael Zeuske, 1952 in Halle/Saale geboren, war von 1992 bis 1993 Professor für Allgemeine Geschichte, vergleichende sowie spanische und iberoamerikanische Geschichte an der Universität Leipzig. Seit 1993 arbeitet er als Professor für iberische und lateinamerikanische Geschichte an der Universität Köln. Er ist Autor des Sachbuchs »Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas?« (Rotpunktverlag)[Hier geht es zu einer Buchbesprechung.]. Mit ihm sprach für das "Neue Deutschland" ND-Mitarbeiter Harald Neuber.



ND: Venezuelas Regierung von Hugo Chávez feiert am Montag ihr zehnjähriges Jubiläum. Welche Rolle spielt sie in der Region heute?

Michael Zeuske: Eine sehr wichtige. Sie hat in den vergangenen Jahren viele staatliche, politische und wirtschaftliche Initiativen zur Integration auf den Weg gebracht. Mehr noch: Lateinamerika und die lateinamerikanische Politik sind durch sie wieder hörbar und sichtbar geworden. Auch wenn in europäischen Medien mehrheitlich nur ein einseitig konstruierter Chávez als Popanz, als »Loco« (Verrückter) zu sehen ist, ein Provokateur.

Die Berichterstattung ist zudem weitgehend auf Chávez beschränkt.

Dabei gibt es viel Neues: die Sozialprogramme, die Gesundheitsvorsorge für die Bewohner der Armenviertel, neue Infrastrukturen, Schulen und Bildung für die mehr als 50 Prozent der Bevölkerung, die bis 1999 von einem einigermaßen menschenwürdigen, modernen Leben ausgeschlossen waren. Ich glaube, dass all dies in Südamerika, vor allem auch in dem konservativ regierten Kolumbien, von der Bevölkerung zur Kenntnis genommen wird. Hugo Chávez wird mit seiner direkten Art in Lateinamerika ohnehin ganz anders wahrgenommen als in Europa. Er nutzt diese Rolle als informeller Wortführer der Linken Lateinamerikas strategisch: Für die Armen Lateinamerikas ist er der Erbe Fidel Castros. Und das will etwas heißen auf dem »leninistischen Kontinent« Lateinamerika.

Den man in Europa so nicht erkennt. Die ARD-Redaktion der »Tagesschau« etwa verortet Brasilien, Argentinien und Chile auf einem »gemäßigten, sozialdemokratischen Kurs, der mit dem Chávez-Projekt (…) wenig gemein hat«.

Ich sehe solche scharfen Unterschiede nicht. Die Differenzen liegen eher in der Geschichte und in der jeweiligen Bevölkerungsstruktur. Vielleicht auch in der – historisch gewachsenen – politischen Kultur und Rhetorik. Aber vor allem Venezuelas »bolivarische Revolution« sorgt für Aufsehen.

Handelt es sich ihrem Namen zum Trotz aber nicht doch eher um ein klassisches Reformprojekt?

Im Grunde schon, wenn man die Einbeziehung der ärmeren Bevölkerung in einen demokratischen Staat, mehr Partizipation, Bildung, Wohlstand und Kultur als Kriterium nimmt. Revolution im klassischen Sinne findet ja in Venezuela nicht statt. Es gab keinen Sturz der alten Macht und keine Zerschlagung des alten Staatsapparates.

Trotzdem spielt das Militär eine große Rolle. Nicht selten tritt Präsident Chávez selbst in seiner Uniform auf. Ein Indiz für Autokratie?

Armee und Militär spielen in Lateinamerika aber doch eine ganz andere Rolle als in unserem Nachkriegseuropa. Alle Staaten Lateinamerikas sind aus oder von Armeen oder Milizen gegründet worden. Die militärische Tradition ist, auch als republikanisches Ritual, sehr stark. Dazu kommt, dass gerade in Venezuela die Armee immer eine bäuerliche, eine aus dem Volk entstandene Armee gewesen ist. Trotzdem ist sie von den jeweiligen Eliten im eigenen Interesse eingesetzt worden. Das gilt auch für die »sozialdemokratische« Partei Venezuelas, die Acción Democrática. Ihr Mitbegründer Rómulo Betancourt hat sich 1945 mit Hilfe der Armee an die Macht geputscht und zwischen 1959 und 1969 durch sie erneut an der Macht gehalten.

Welche Rolle spielt die Armee in Venezuela heute?

Ihre wichtige Rolle hat sich vor allem im Putsch gegen Chávez im April 2002 gezeigt. Es gab Massenproteste gegen die Putschisten, und die meisten Offiziere verhielten sich verfassungstreu. Dass bei einer derart wichtigen Rolle der Armee Militarismus und Autokratismus durchscheinen, besonders wenn Militärs politische Posten bekleiden, sollte nicht unerwähnt bleiben.

Als die Bolivianer vor wenigen Tagen für eine neue Verfassung stimmten, sprach Staatschef Evo Morales von einem »Sieg über den kolonialen Staat«. Gilt das auch für Venezuela?

Kolonialgeschichte ist in Venezuela vor allem im Alltag und in der Mentalität präsent. Zudem hat es in diesem Land nie eine Agrarreform gegeben, die diesen Namen verdient. Die rassistische Kastenmentalität ist allgegenwärtig: Alles Schwarze und »Indianische« ist schlecht und hässlich, alles »Weiße« ist schön, aktiv und attraktiv.

Sie haben den Putschversuch gegen Chávez im April 2002 erwähnt. Hat er zur Radikalisierung beigetragen?

Radikalisiert hatte sich zuerst die Opposition, die im Hass auf Chávez vereint war. Dieses Konglomerat aus alten Eliten, aus der oberen Mittelklasse, aus Intellektuellen, aus Teilen der bewaffneten Kräfte und der Arbeiterschaft, die gegen Chávez war, vertritt seither deutlich extremere Positionen.

Die Staatsführung in Venezuela grenzt sich deutlich von der »IV. Republik« ab. Weshalb?

Die IV. Republik entstand nach landläufiger Meinung mit einem politischen Pakt, mit dem die Eliten 1958 ihre Macht sicherten. Sie endete mit dem Regierungsantritt von Chávez 1999. Im Grunde gab es diese alte, konservativ-liberale Republik der Agrar- und späteren Erdöleliten aber seit 1830, seit ihrem Verrat an Simón Bolívar.

Welche Bedeutung hatte das Abkommen von 1958?

Unter Chávez wurde in den letzten Jahren deutlich, dass soziale und linke Themen in Venezuela mehrheitsfähig sind. Der Pakt von 1958 hatte explizit linke Kräfte aus der politischen Gestaltung ausgeschlossen. Es ist also verständlich, dass sich der Chavismus davon absetzt. Seine Anhänger tun das sowieso, denn sie hatten in dieser Zeit keine Stimme.

Die »bolivarische Revolution« als Folge des Scheiterns der Eliten: Kann Chávez ohne diesen historischen Kontext überhaupt beurteilt werden?

Es war kein Scheitern, sondern ein blutiger Kollaps. »1989« steht als politisches Chiffre eben nicht nur für den Tien-Amen-Platz oder den Zusammenbruch des Realsozialismus. In diesem Jahr kam es in Venezuela zu einem massiven sozialen Aufstand, den so genannten »Caracazo«, der von Armee und Geheimdienst blutig niedergeschlagen wurde. Ohne diesen »Caracazo« gäbe es Präsident Chávez heute nicht.

Die Regionalmacht in Südamerika war und ist Brasilien. Steht Venezuela in Konkurrenz zu ihr?

Brasilien ist Führungsmacht in Südamerika und wird es bleiben. Aber Brasilien und Venezuela können sich sehr gut ergänzen, wie sich trotz Reibungen immer wieder zeigt. Der französische Autor Marc Saint-Upery zeigt in seinem Buch »Bolívars Traum« die Vielfalt der Linken in Lateinamerika auf. Diese Vielfalt ist ein Vorteil, kein Nachteil.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Februar 2009


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