Lokaler Wandel mit globaler Wirkung
Der Historiker Michael Zeuske legt einen vielseitigen Überblick über die Geschichte Venezuelas vor
Von Tobias Lambert *
Mit seinem neuen Buch »Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas« legt der Kölner
Geschichtsprofessor Michael Zeuske einen perspektivenreichen Überblick über Geschichte und
Gegenwart Venezuelas vor.
Wer Interesse am gegenwärtigen Venezuela hat, wird mit geschichtlichen Bezügen überreichlich
konfrontiert. Historische Persönlichkeiten und Ereignisse sind im Diskurs von Präsident Hugo
Chávez omnipräsent. Allem voran steht der Kult um den Befreier Simón Bolívar, der seit Mitte des
19. Jahrhunderts praktisch von jeder politischen Strömung im Land vereinnahmt wurde. Einen
hilfreichen Überblick über Venezuelas Geschichte bietet Michael Zeuske mit seinem neuen Buch
»Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas.« Dabei spannt der Kölner
Geschichtsprofessor den Bogen zunächst von der jahrtausende alten indigenen Besiedelung, über
die Kolonialzeit bis zu den Unabhängigkeitskriegen. Es wird deutlich, dass viele der Probleme, mit
denen Venezuela noch heute konfrontiert ist, bereits bei der Staatsgründung 1830 bestanden und
sich seitdem noch verschärft haben. Die Eliten trieb seit jeher die latente Angst vor der bedrohlichen
Mehrheit der dunkleren Unterschichten um, deren Kultur vor 1999 bestenfalls als Folklore akzeptiert
wurde.
Der Autor führt die LeserInnen durch das kriegerische 19. Jahrhundert, durch Elitenkonflikte, die Zeit
regionaler Caudillos und Bauernaufstände, bis ins 20. Jahrhundert hinein, in dem das Erdöl zum
wichtigsten Exportprodukt avancierte. Von der Etablierung einer unproduktiven Rentenmentalität und
der Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft hat sich Venezuela bis heute nicht erholt.
Nach dem Sturz von Diktator Marcos Pérez Jiménez 1958 erschufen die Eliten unter Ausschluss
radikaler linker Kräfte eine paktierte Demokratie, die dem Land bis in die 1980er Jahre hinein
klientelistisch abgesicherte Stabilität bescherte, die allerdings unter massiver Repression etabliert
wurde. Während sich die Eliten dank hoher Erdölpreise in den 1970er Jahren bereits in der »Ersten
Welt« angekommen sahen, führte die wirtschaftliche und soziale Krise der 1980er und 1990er Jahre
zu einer rapiden Delegitimierung des Systems. 1989 tötete das Militär tausende Menschen nach
antineoliberalen Aufständen. Drei Jahre später scheiterte der Putsch eines gewissen Comandante
Chávez, der 1998 schließlich legal durch Wahlen an die Macht kam. Er band die zuvor
marginalisierten Bevölkerungsgruppen in einen von Sozialprogrammen flankierten,
partizipatorischen Prozess ein, der trotz gewaltsamer Gegenwehr der alten Eliten bisher nicht
gestoppt werden konnte.
Aufgrund der Geschichte räumt Zeuske Chávez' Diskurs gegen die Oligarchen, »einige
Berechtigung« ein, während das schnell vorgebrachte Populismus-Label letztlich mehr verdecke als
enthülle. Der Autor zeigt viele Erfolge des chavismo auf, weist aber auch auf zahlreiche
Unzulänglichkeiten hin, ohne jedoch tiefer ins Detail zu gehen.
Die Stärke des Buches liegt in der geschichtlichen Einordnung der Ära Chávez, die dem Autor mit
dem gekonnt-weitläufigen Blick eines Historikers glänzend gelingt. Er sieht im bolivarianischen
Prozess eine »Reformrevolution, die im Kern integrativ und partizipativ ist« und deren Zukunft
zwischen autokratischer und demokratischer Weiterentwicklung noch offen sei. Eine globale
Wirkung des bolivarianischen Venezuelas vermutet Zeuske schließlich in dem Beleg, »dass linke
und soziale Themen mehrheitsfähig sind«. Auch in diesem Sinne verspricht das Buch also
Erkenntnisgewinne und anregende Lektüre. Nicht nur, um die historischen Bezugspunkte im
heutigen Venezuela besser deuten zu können.
Zeuske, Michael: Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas, Zürich 2008, 620 Seiten, 34 Euro.
* Aus: Neues Deutschland, 30. Dezember 2008
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