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Orbán darf Ungarn weiter beherrschen

Trotz Verlusten klarer Wahlerfolg für Regierungspartei Fidesz / Rechtsextreme Jobbik über 20 Prozent

Von Thomas Roser, Budapest *

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán triumphiert: Der Chef der ungarischen Ein-Mann-Demokratie wird sich vier weitere Jahre auf eine klare Parlamentsmehrheit stützen können.

Rund 600 000 Stimmen verloren – und dennoch klar gesiegt. Zufrieden stellte sich der Rechtspopulist Viktor Orbán am Abend nach den Parlamentswahlen in Budapest seinen Anhängern: »Dies ist ein großartiger Sieg, den wir noch gar nicht ermessen können: Ich bin stolz, das Mandat erhalten zu haben, um meine Arbeit fortsetzen zu können.«

Tatsächlich ist der 50-Jährige der erste ungarische Regierungschef seit 1989, der nach einer vollen Amtsperiode von den Wählern bestätigt worden ist. Zwar musste seine Fidesz-Partei mit 44,54 Prozent der Stimmen (2010: 52,7 Prozent) merklich Federn lassen. Doch dank der Eigenheiten des neuen, nach Fidesz-Maß geschneiderten Wahlrechts kann er vermutlich weiter auf eine Verfassungsmehrheit bauen: Mit 133 von 199 Abgeordneten scheint die Punktlandung zur angestrebten Zweidrittelmehrheit geglückt.

In Wahlkreisen, in denen das Direktmandat der Regierungskandidaten an wenigen Dutzend Stimmen hängt, könnte es bis zur Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses noch zu Nachzählungen kommen. Doch ob mit oder ohne Zweidrittelmehrheit: Bis auf Weiteres teilt Orbán in Ungarn weiter unangefochten die Karten aus. Alles was er aufgebaut habe, könne er nun »zu Ende bringen«, jubelte am Montag der Kommentator der regierungsnahen Zeitung »Magyar Nemzet«: »Das Land steht vor einer großen Zukunft.«

Lang wurden die Gesichter am Wahlabend hingegen in den Reihen des linksliberalen Oppositionsbündnisses »Regierungswechsel«. Ihr Namensziel hat die von der Sozialistischen Partei geführte Allianz mit knapp 26 Prozent der Stimmen und voraussichtlich 38 Mandaten klar verfehlt. Der Verweis auf das nachteilige Wahlrecht und die von der Regierung nach Kräften kontrollierten Medien vermag das Debakel der Linken nur bedingt zu erklären. »Bei der Linken gab es keine Erneuerung«, konstatiert Peter Kreko, Direktor des Instituts »Political Capital«, »Sie konnte nicht einmal die Ziele ihrer Politik schlüssig erklären.« Die Opposition habe ihren Landsleuten »kein genügend attraktives Angebot« gemacht, räumte der frühere Premier Gordon Bajnai selbstkritisch ein.

Dagegen wittert die rechtsextreme Konkurrenz vor den für Protestparteien immer einträglichen Europawahlen neue Morgenluft: Jeder Fünfte stimmte für die antisemitische und romafeindliche Partei Jobbik (20,5 Prozent, 23 Mandate).

Die Ökopartei LMP (Politik kann anders sein) schaffte mit 5,3 Prozent der Stimmen und fünf Mandaten knapp den Wiedereinzug ins verkleinerte Parlament. Die Wahlbeteiligung lag bei etwa 61 Prozent.

Dass Regierungschef Orbán künftig eine weniger schrille Tonart bei seinen Ausfällen gegen innere und äußere »Feinde« anschlägt, hält der Analyst Kreko für zweifelhaft. »Kämpfernatur« Orbán lebe nicht zuletzt vom politischen Konflikt.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. April 2014


Parlament als »Kasperletheater«

Ungarn: Nationalkonservative gewinnen Wahlen mit 44,5 Prozent der Stimmen. Ein Fünftel für Neofaschisten

Von Ben Mendelson, Budapest **


Die Machterhaltungsstrategie von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat funktioniert: Bei den Parlamentswahlen am Sonntag erlangte Orbáns Fidesz-Bund erneut die absolute Mehrheit der Mandate. Das Oppositionsbündnis »Regierungswechsel« erhielt knapp 25 Prozent, die neofaschistische Jobbik (»Die Wahren Ungarn«) 20,5 Prozent der Stimmen.

Nach Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen sagte Viktor Orbán am Sonntag abend, Ungarn stehe am Anfang eines »neuen, großartigen Zeitalters«. Mittlerweile wurden knapp 99 Prozent der Stimmzettel ausgezählt: Mit nur 44,5 Prozent bekäme die Regierungspartei demnach 133 der 199 Parlamentssitze und dadurch erneut eine verfassungsändernde Mehrheit.

Diese hatte Orbán in den vergangenen vier Jahren nach Meinung kritischer Beobachter vor allem dafür genutzt, seine Macht und die seiner Freunde und Verwandten auszubauen: Die überwiegende Mehrheit der ungarischen Medien wurde durch neue Pressegesetze unter deren Kontrolle gebracht, das Verfassungsgericht quasi entmachtet und viele hohe Richterposten mit Fidesz-Kadern besetzt. Auch die nationale Wahlkommission wurde mit der Fidesz-Mehrheit neu zusammengesetzt – für neun Jahre. Ihr Vorsitzender, András Patyi, ist laut der ungarischen Onlinezeitung Pester Lloyd (PL) »ein Regierungstreuer« und Rektor einer von Fidesz gegründeten »klassischen Kaderschmiede«.

Orbáns Mehrheit veränderte die Grenzen der Wahlbezirke – laut Kritikern, um oppositionelle Hochburgen zu ergattern – und schuf neue Wahlgesetze, die die größte Partei bevorzugen sollen. So reicht bei den Erststimmen nun, statt wie bislang die absolute, eine relative Mehrheit für ein Direktmandat. Fidesz holte 96 der 106 Direktmandate.

Auch die Wahlentscheidung der per Brief wählenden Auslandsungarn, die ihr Stimmrecht der neuen Gesetzgebung Orbáns verdanken, spricht Bände: 62972 gültige Wahlzettel gingen im nationalen Wahlbüro ein – über 60000 (95,37 Prozent) stimmten für Fidesz.

Exministerpräsident Gordon Bajnai vom Oppositionsbündnis »Regierungswechsel« warf Fidesz vor, ein »manipuliertes Wahlsystem« geschaffen zu haben. Das Bündnis hatte am Wahlsonntag außerdem weit über hundert Verdachtsfälle auf Verstöße gegen die Wahlordnung angezeigt. So gab es aus dem ganzen Land Berichte von Versuchen, Menschen gegen Geld davon zu überzeugen, Fidesz zu wählen, oder Plakate des Oppositionsbündnisses zu entfernen. Fidesz-Offizielle und die Wahlkommission wiegelten ab, alles sei »fair und würdig« abgelaufen.

Auch Jobbik sah die Wahlordnung in Dutzenden Fällen in Gefahr. Die als antisemitisch geltende und offen antiziganistisch auftretende rechtsextreme Partei konnte sich als einzige im Vergleich zur Parlamentswahl 2010 verbessern, damals holte Jobbik 16 Prozent. Parteichef Gábor Vona gab sich dennoch unzufrieden: Er hatte den »Wahlsieg« versprochen und kündigte nun an, spätestens in vier Jahren die Wahl zu gewinnen.

»Angesichts der Zweidrittelmehrheit des Fidesz und des Erstarkens von Jobbik wird das Parlament zu einem Kasperletheater verkommen«, sagte Tímea Szabó vom »Regierungswechsel«-Bündnis laut Budapester Zeitung. Die oppositionelle Politik werde in den kommenden Jahren eher außerhalb der Mauern des Parlaments stattfinden, um die Linke von unten aufzubauen und zu erneuern. Nur so könne Ungarn bei den Wahlen 2018 von Orbán befreit werden.

Dabei steht die Frage im Raum, welche Legitimität von dieser Wahl überhaupt noch ausgehen kann: Orbán sagte am Sonntag abend, Ungarn sei durch das Wahlergebnis die geeinteste Nation Europas. Doch sein Fidesz-Bund wurde von gerade mal 26,7 Prozent der Wahlberechtigten angekreuzt. Denn die Wahlbeteiligung war mit 60,1 Prozent laut PL die zweitniedrigste seit 1990. Weniger Menschen seien nur 1998 an die Urnen gegangen – als Orbán erstmals Ministerpräsident wurde und bis 2002 im Amt blieb.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 8. April 2014


Orbán wird mehr gefürchtet als geliebt

Der Philosoph Gáspár Miklós Tamás glaubt, dass Ungarns Linke neu gegründet werden muss ***

Gáspár Miklós Tamás (65) ist einer der bekanntesten ungarischen Intellektuellen. Geboren in Siebenbürgen, war der Philosoph in den 70er Jahren aus Ceausescus Rumänien nach Budapest geflohen, wo er 1980 seine Stellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität wegen »oppositioneller Haltung« verlor. 1989 kehrte er an die Universität zurück, war 1990 bis 1994 Parlamentsabgeordneter und arbeitete später am Philosophischen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Mit ihm sprach für »nd« Jerko Bakotin.

Nach offiziellen Angaben ist Ungarn aus der Krise, die ungarischen Finanzen sind stabiler als die vieler anderer EU-Staaten. Herr Orbán präsentiert sich als Gegner des uneingeschränkten Kapitalismus und der Brüsseler Bürokratie und als jemand, der für eine größere Rolle des Staates eintritt. Sind das die Gründe für seinen und seiner Partei Fidesz großen Erfolg bei diesen Wahlen?

Tatsächlich steckt die ungarische Gesellschaft in einer tiefen Krise. Mehr als drei Millionen Menschen leben unter der Armutsgrenze, es gibt eine Massenauswanderung junger Akademiker und Facharbeiter. In Ungarn hat sich ein Doppelstaat entwickelt – ein Wohlfahrtsstaat für den Mittelstand, ein autoritärer, asketischer Polizeistaat für die anderen. Das Lebensniveau der jüngeren Mittelschicht – etwa zwei Millionen Leute – ist besser als früher, aber dem Rest bleibt die Armut. Vor den Wahlen gab es natürlich auch kleine Geschenke für die Rentner.

Zwei Dinge sind ganz klar: Die historische Periode, die mit der Wende 1989 begonnen hat, ist beendet. Es gibt Massenprotest und Massenhass gegen die kapitalistische, liberaldemokratische Ordnung. Und Orbán präsentiert sich gleichzeitig als Opposition gegen das liberaldemokratische Establishment und als autoritärer Führer der Nation.

Was sind die Gründe für das Scheitern der etablierten Linken?

Die oppositionellen Linksliberalen wurden als eine Kraft dargestellt, die für die Vergangenheit und für neoliberale Politik steht – was nicht ganz unberechtigt ist. Also waren sie die einzigen Repräsentanten der Vorwendezeit und der liberaldemokratischen Ordnung, während Fidesz, die Neofaschisten und die Grünen als »neue«, Anti-Establishment-Kräfte galten. Natürlich ist Viktor Orbán kein Antikapitalist, auch Staatskapitalismus ist Kapitalismus, und er vertritt einen Staatskapitalismus rechter Prägung. Es gibt keine Umverteilung von oben nach unten, gleichzeitig ist seine Fidesz-Partei sehr stolz auf ihre elitäre Macht. Orbán küsst keine Babys. Er wird nicht geliebt, sondern man hat Angst vor ihm.

Jedenfalls war diese sehr moderate, zentristische und linksliberale Allianz ohnmächtig, ohne jede Inspiration, ohne Idee. Man sollte auch nicht vergessen, dass Fidesz eine Zweidrittelmehrheit im Parlament hat, dazu haben 93 Prozent der lokalen Vertretungen eine rechte Mehrheit! Außer acht Bezirken in Budapest haben die Sozialisten einen einzigen Bezirk – Szeged – im ganzen Land gewonnen. Ich glaube, dass die ungarische Linke neu gegründet werden muss. Das wird sehr schwierig, weil die natürlichen Grundlagen, etwa die Gewerkschaften, sehr schwach sind. Und die jungen Intellektuellen orientieren sich mehr in die grüne Richtung. Leider glaube ich, dass die ungarische Rechte eine lange und glänzende Zukunft hat.

In einem Interview haben Sie im Jahre 2012 gesagt, dass Ungarn kulturell zerstört ist. Was folgt in weiteren vier Jahren Fidesz-Regierung?

Auch die kleinen Gymnasial- und Museumsdirektoren wurden schon gefeuert und durch neue, rechte Leute ersetzt. Neue konservative Forschungsinstitute wurden gegründet, die Akademie der Wissenschaften ist ausgehungert, die Schulbücher wurden im nationalistischen Sinne umgeschrieben, die Medien sind zensiert. Man hat errechnet, dass oppositionelle Medien noch etwa zwei Prozent der Bevölkerung erreichen. Uns erwarten mehr Zentralisierung, mehr wirtschaftliche und politische Macht für Orbáns Partei, mehr neue Großbesitzer. Wenn die letzten drei unabhängigen Mitglieder des Verfassungsgerichts sterben oder pensioniert werden, verschwindet der letzte Rest von Gewaltenteilung. Das ist eine nationale Tragödie.

Jobbik ist jetzt die stärkste rechtsextreme Partei in der EU. Und in Ungarn ist die Rehabilitierung des Hitler-Verbündeten Miklós Horthy im Gange, sogar Denkmäler werden ihm errichtet.

Es gibt keine starre Grenze zwischen Rechtsextremisten und Rechtskonservativen, was die Vergangenheit betrifft, aber Orbán möchte nicht aus der EU austreten, er hat sogar einige sehr vorsichtige antifaschistische Sätze geäußert. Für Jobbik stimmen junge Arbeiter, die Partei hat ihren größten Erfolg in den ärmsten Gegenden des Landes mit großem Roma-Anteil und hoher Arbeitslosigkeit – etwa in Miskolc, wo sich die »weiße« Bevölkerung bedroht fühlt. Übrigens hat Jobbik im Wahlkampf keine antisemitischen Parolen benutzt, aber man weiß natürlich, wofür sie stehen. Auch sind sie jung und frei von Korruptionsskandalen. Natürlich sind nicht alle Leute, die für Jobbik stimmen, Faschisten. Da gibt es auch viele Proteststimmen.

Wie weit sind in der Bevölkerung antisemitische und romafeindliche Einstellungen verbreitet?

Etwa ein Drittel der Bevölkerung ist antisemitisch orientiert, eine klare Mehrheit ist es nicht, aber die Anti-Roma-Stimmung ist allgemein. Aus Umfragen weiß man, dass das selbst für die Mehrheit der Wähler der Sozialisten gilt.

Die Gründe? In der Marktwirtschaft gibt es auch eine Rivalität zwischen den Armen um die immer geringeren Sozialtransfers, und in jeder Krise werden die Empfänger von Sozialhilfe, die ethnisch »unrein« sind, gehasst. Auch gibt es heute in Ungarn Orte, wo der einzige Mensch mit einem Job der Bürgermeister ist, und der ist immer »weiß«.

Ist Viktor Orbán ein Produkt der hegemonistischen Ideologie des liberalen Kapitalismus, der in der EU dominant ist, oder ein ursprünglich ungarisches Phänomen?

Beides. Er ist sehr pragmatisch. Er hat die Stimmung gegen die EU benutzt, ist in der Praxis aber sehr vorsichtig. Im Hinblick darauf, dass für den Westen Stabilität der höchste Wert ist, glaube ich, dass man in der EU und den USA mit Orbán ganz gut auskommt, auch wenn man ihn nicht liebt. Hauptsache, es gibt hier kein Bosnien oder Griechenland.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. April 2014


Ungarns Wahl

Detlef D. Pries über Viktor Orbáns »stabile Regierung« ****

»Alle Zweifel, alle Sorgen sind zerstreut – wir haben gewonnen!« Ungarns Regierungschef Viktor Orbán tat am Wahlabend so, als hätte er je um seinen Sieg bangen müssen. Von Zweifeln – Selbstzweifeln gar – lässt sich der Mann doch ohnehin nie plagen. Seine Zweidrittelmehrheit im Parlament hatte schließlich vier Jahre Zeit, den Fidesz-Triumph von 2010 zu betonieren. Und sie nutzte die Chance schamlos, um Verfassung und Wahlrecht nach eigenen Wünschen zu gestalten, Medien und Justiz auf Linie zu bringen, die eigenen Parteigänger zu begünstigen und Gegner als »Feinde Ungarns« zu diffamieren. Nicht alles davon fand den Beifall der EU-Wächter, doch mit geringfügigen Korrekturen gab man sich in Brüssel stets zufrieden. Und während Orbán selbst das nutzte, um gegen das »Brüsseler Diktat« zu wettern, was bekanntlich auch anderswo bei Wählern verfängt, rechtfertigten ihn CDU/CSU-Freunde aus der Europäischen Volkspartei mit dem Hinweis auf das nun mal überwältigende Wahlergebnis. Auch diesmal gratulierte CSU-Mann Hans-Peter Friedrich »herzlich zum klaren Wahlsieg«, der Ungarn eine »stabile Regierung« sichere.

Immerhin, das Regierungslager verlor acht Prozentpunkte im Vergleich zu 2010. Vor der Wahl sagte Orbáns publizistischer Lautsprecher Zsolt Bayer voraus, im Falle eines Fidesz-Sieges werde die Partei »für mindestens 20 bis 30 Jahre über das Schicksal des Landes bestimmen«. Gelänge es der zersplitterten linken Opposition, sich glaubhaft zu erneuern, bliebe den Ungarn wenigstens dieses Schicksal erspart.

**** Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. April 2014


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