Ungarische Salamitaktik
Orbáns neue Außenpolitik? Budapest befindet sich im Clinch mit Washington und ist auch in Brüssel nicht allzu wohl gelitten. Da bietet sich Moskau als Alternative an
Von Sándor Horváth *
Nur fünf Tage nach den diesjährigen Gemeinderatswahlen am 12. Oktober schlug die Nachricht wie eine Bombe ins öffentliche Leben Ungarns ein. André Goodfriend, amerikanischer Geschäftsträger in Budapest – schon seit über einem Jahr gibt es keinen US-Botschafter bzw. keine -Botschafterin mehr in Ungarn –, teilte am 17. Oktober der Öffentlichkeit mit, dass »weniger als zehn« hochrangigen ungarischen Regierungsoffiziellen bzw. regierungsnahen Persönlichkeiten die Einreise in die USA wegen Korruption ab sofort verweigert wird. Völlig unerwartet kam dieser drastische Schritt nicht, diplomatische Vorwarnungen gab es genug. Hinter und vor den Kulissen, u. a. in einer Rede im Budapester Parlament, hatte Hillary Clinton als Außenministerin schon vor Jahren mit eindeutigen Worten das Missfallen der US-Regierung über den Demokratieabbau in Ungarn zum Ausdruck gebracht. Richtig in Schwung geriet die Sache aber erst nach der diesjährigen politischen Sommerpause. Schon vor dem NATO-Gipfel am 4. und 5. September wurde Orbán über informelle Kanäle von England her gewarnt, dass die Geduld bei den Amerikanern bald aufgebraucht sein könnte. Ein für jedermann vernehmbares Zeichen gab es dann erstmals am 18. September, als William Clinton über das Modell des autoritären Kapitalismus in China und Russland und dessen Auswirkungen auf den ungarischen Ministerpräsidenten sprach. Fünf Tage später geißelte dann US-Staatschef Barack Obama die ungarischen Zustände: »From Hungary to Egypt, endless regulations and overt intimidation increasingly target civil society.« (»Zahllose Reglementierungen und offene Einschüchterung treffen in steigendem Maße die Zivilgesellschaft von Ungarn bis Ägypten«). In der darauffolgenden Woche, am 2. November, hielt die für Europa zuständige Abteilungsleiterin im US-Außenministerium, Victoria Nuland, (sie hat das copyright für »Fuck the EU!«) eine Rede, die schon ordentlich hart klang. Mitteleuropa stehe erstmals nach der Wende 1990 wieder an der Frontlinie des Krieges »zur Verteidigung unserer Werte« und in einer eindeutigen Anspielung auf Viktor Orbán sprach sie von den »twin cancers of democratic backsliding and corruption« (»dem Zwillingskrebsgeschwür der Abkehr von der Demokratie und der Korruption«). Das hätte bei jedem diplomatisch halbwegs Gebildeten die Alarmglocken zum Läuten bringen müssen. Doch wenn Ungarns Ministerpräsident Orbán eine echte Schwäche hat, dann ist dies sicherlich der komplette Mangel an diplomatischer Begabung. Der Mann hält sich unverhüllt für den Größten, und dabei bedient er sich einer Sprache der Gewalt. Auf diese Weise ist es ihm längst gelungen, sich mit sämtlichen Nachbarländern zu zerstreiten. Nun sucht er schon seit einiger Zeit Verbündete unter ihm wesensverwandten autoritären Staatsführern.
Die Antworten des offiziellen Ungarns auf die jüngsten Attacken aus den USA waren nicht nur eintönig, sondern auch ziemlich dumm. Immer wieder hieß es, dass Washington Lügen über die in Wirklichkeit blühende ungarische Demokratie verbreite, und die Ungarn würden sich das verbitten, auch von den USA, da das Land der Magyaren im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder vieles für die Freiheit der Welt getan und immer wieder für diese gekämpft habe. Merkwürdigerweise ließen sich aber die Amerikaner dadurch nicht einschüchtern. Sie warteten noch die Gemeinderatswahlen ab, und gleich in der darauffolgenden Woche gaben sie das Einreiseverbot in der Öffentlichkeit bekannt. Namen, so teilte Geschäftsträger Goodfriend mit, könne er aus rechtlichen Gründen nicht nennen.
Behandelt wie ein Paria
Die ungarische Regierung tut seitdem so, als hätte sie überhaupt keine Ahnung, von welchen Personen die Rede sei, und verlangt von den Amerikanern, sie sollten gefälligst ihre Beweise vorlegen, ansonsten könne Ungarn den Vorwürfen in keiner Weise nachgehen. Dabei übersieht sie freilich geflissentlich jene eindeutige ungarische Rechtsvorschrift, nach der aufgrund eines »begründeten Verdachts« verpflichtend eine Ermittlung eingeleitet werden muss. Die Replik der USA lautet, dass man sehr wohl im Besitz von konkreten Beweisen sei und darüber schon früher unter anderem mit dem ungarischen Außenminister Péter Szijjártó Gespräche geführt habe, und die ungarischen Zuständigen selbst, mit oder ohne die USA, ohnedies sehr wohl über alles Bescheid wüssten. Die ungarischen Medien halten es mittlerweile für sehr wahrscheinlich, dass es sich auch um mehrere hohe Beamte der Steuerbehörde handelt, unter ihnen die Chefin Ildikó Vida, außerdem Péter Heim, Vorstandsvorsitzender des der Regierungspartei Fidesz nahestestehenden Wirtschaftsforschungsinstitutes Századvég (Jahrhundertwende bzw. Fin de Siècle) und nicht zuletzt Árpád Habony, ein einflussreicher Vertrauter des ungarischen Ministerpräsidenten, der ohne Ausschreibung immense staatliche Summen bekommt bzw. verteilen darf. Landesweite Bekanntheit verschaffte sich Habony, als er 2006 bei einem Konflikt mit anderen Verkehrsteilnehmern aus seinem Auto stieg und ein älteres Paar tätlich angriff. Den Mann schlug er nieder, der Frau verpasste er einen Fußtritt in den Bauch. Der daraufhin zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilte Habony wurde im selben Jahr zum »persönlichen strategischen Hauptberater« von Viktor Orbán ernannt und füllt diese Funktion bis zum heutigen Tag aus.
Was sind aber die wahren Gründe des »unter Verbündeten« wohl einzigartig drastischen Vorgehens der US-Regierung gegenüber Ungarn? Die deutschsprachige Onlinetageszeitung für Ungarn, der Pester Lloyd, fasst die Erklärungen die in den Medien des Landes kursieren am 19.10. wie folgt zusammen. Die regierungsnahe Presse lege eine »Konspiration der Transatlantiker nahe, voran USA und Deutschland, die an Ungarn wegen dessen Drang zu russischen Positionen ein Exempel statuieren wollten.« Der in Ungarn längst wieder virulente Antisemitismus klingt dort auch an. Orbans Attacke auf unliebsame NGO's habe auch den aus Ungarn stammenden US-amerikanischen Investor George Soros getroffen, und der »alte ungarische Jude« habe daraufhin seine Kontakte in Washington bemüht, um der Budapester Regierung eins auszuwischen. Soros, schreibt die Zeitung, sei ohnedies der »heute gängige Code für ›jüdische Weltverschwörung‹«.
Unabhängige und oppositionsnahe Medien verfolgen einen anderen Ansatz, der der Wahrheit näher kommen dürfte: Ihnen zufolge entstammen die betroffenen Personen einem weitverstrickten internen Netzwerkes, dessen einzige Aufgabe es ist, ihre Funktionen und Positionierungen zu benutzen, um »interne Umsätze« zu generieren. Wie Quellen aus dem Wirtschaftsministerium erklärten, ging es hier konkret um mehrere regierungsseitig betriebene Ausschreibungen von EU-finanzierten Projekten in den Bereichen: Breitband- und Kabelnetzausbau, öffentliche Beleuchtungsanlagen, energetische Sanierung und andere, die sich auf mehrere Hundert Millionen Euro summierten. US-Firmen seien dabei nicht zum Zuge gekommen, woraufhin ihnen Mittelsmänner klar machten, dass bestimmte »Beraterunternehmen« einzuschalten seien, die jedoch nicht beraten, sondern nur Rechnungen stellen werden. Dazu später mehr.
Ministerpräsident Orbán sieht heute, nachdem er sich auf seinem politischen Weg vom radikalen Liberalen zum radikalen christlichen Nationalisten gewandelt hatte, die Ursachen aller Übel, mit denen sein Land geschlagen ist, in der durch die Globalisierung verlorenen Unabhängigkeit der Nationalstaaten. War diese Sicht der Dinge in Ungarn vor Orbáns Machtübernahme vor vier Jahren noch ungewöhnlich, so ist seine zweite Seite, das völlige Fehlen von Selbstreflexion, wiederum ganz und gar magyarisch. Ungarische Geschichtsbücher behaupteten schon immer und unabhängig von der jeweiligen politischen Ordnung, dass das Land sein schweres Schicksal stets ausländischen Mächten zu verdanken gehabt hat. Demnach waren unter anderem die Mongolen und die Osmanen, die Habsburger und die Deutschen und natürlich auch die »Russen« das Problem, nie die Ungarn selbst. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass Ungarn in allen wesentlichen Kriegen bis zum Schluss an der Seite der Aggressoren stand. Die jüngst vollzogene Errichtung eines Denkmals in der Budapester Innenstadt zum Gedenken an den Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Ungarn vor 70 Jahren ist nur das jüngste Beispiel für diese historische Verdrängung. Die Schuld immer den anderen in die Schuhe zu schieben, und das eigene »Wir« immer als das Gute und das unschuldige Opfer darzustellen, das passt ganz und gar zu Orbáns nationalistischer, ja irredentistischen Weltanschauung und Geschichtsauffassung eines »Großungarns«, der es an jeder Selbstkritik fehlt.
Ideale Brutstätte der Korruption
Nun ist ein solches Verhältnis zur Wirklichkeit natürlich eine ideale Brutstätte der Korruption, die ja dort zu blühen pflegt, wo es kaum Mechanismen der (Selbst-)Kontrolle gibt. Alle wichtigen und weniger wichtigen Posten im Lande, derer die neue ungarische »Staatspartei« irgendwie habhaft werden konnte, vom Verfassungsgerichtshof bis zum Kulturbetrieb, wurden in den vergangenen vier Jahren mit regierungstreuen Kadern besetzt. Und dementsprechend kann Ungarn als Land der staatlich gelenkten Korruption charakterisiert werden. Unternehmer, die Regierungsaufträge bekommen, müssten 40 bis 50 Prozent der Subventionen »ins Ministerium« zurückfließen lassen, sagte der in New York lebende ungarische Korruptionsforscher Dávid Jancsics jüngst in einem Zeitschrifteninterview, nachdem er Hunderte von Korruptionsfällen untersucht hatte. Nach Ansicht einer ganzen Reihe von unabhängigen Politologen, Soziologen, Wirtschaftsfachleuten und Korruptionsforschern ist Ungarn seit der Machtübernahme von Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) und KDNP (Christlich-Demokratische Volkspartei) 2010 in eine qualitativ neue Epoche der Korruptionsgeschichte eingetreten. Die Situation sei wesentlich schlimmer als in den Nachbarländern, und zwar wegen der Zweidrittelmehrheit von Fidesz und KDNP im Parlament. Alle Gesetze können ohne Kontrolle modifiziert werden, und viele Institutionen wurden, so der ungarische Jargon zur Bezeichnung der unmittelbaren politischen Lenkung unter Umgehung des Rechts, auf »Handsteuerungsmodus« umgestellt. Das Orbán-Regime hat keinerlei Interesse an geordneten Zuständen, das zeigt die Geschichte des ehemaligen Steuerfachmanns der ungarischen zentralen Steuerbehörde, András Horváth. Er ist einem gigantischen grenzübergreifenden Mehrwertsteuerbetrugssystem unter Mitwirkung von Beamten auf die Schliche gekommen, wodurch nach seinen Schätzungen, die von der Europäischen Kommission geteilt werden, dem ungarischen Fiskus ein Schaden von jährlich bis zu 5,5 Milliarden Euro entsteht. Nach langen vergeblichen Versuchen, im Inneren des Apparates auf die Angelegenheit »aufmerksam zu machen« sowie unbeantworteten Briefen an die »allerhöchste Regierungsebene« wandte sich Horváth schließlich Ende vorigen Jahres an die Öffentlichkeit und meldete die Tatbestände auch den zuständigen Organen der EU-Kommission und des EU-Parlaments. Die Folge war vorhersehbar: von tiefgehenden Ermittlungen gegen die mutmaßlichen Betrüger und die Fidesz-nahen Kader der zentralen Steuerbehörde, laut Horváth mindestens hundert Personen, kann keine Rede sein. Vielmehr wurden gegen ihn selbst gleich mehrere Verfahren eingeleitet, unter anderem wegen Geheimnisverrates, Verleumdung und Amtsmissbrauchs. Von alledem erfuhr er durch die Presse. Von den gegen ihn ermittelnden Behörden bekam er lediglich eine Benachrichtigung, die aus einem einzigen Satz bestand, nämlich dass eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet wurde, eine Begründung gab es nicht. Außerdem verlor er seinen Job, sein Haus wurde durchsucht, etc.
All das wäre für die Machthaber im heutigen gesellschaftlich gelähmten Ungarn erst einmal nicht gefährlich, jedenfalls solange nicht die Interessen von mächtigen Firmen und Ländern berührt sind. Doch eben das ist nun geschehen. Laut dem Internetportal atlatszo.hu (durchsichtig.hu), eine Art ungarisches Wikileaks, haben regierungsnahe Personen von zwei US-amerikanischen multinationalen Firmen Schmiergelder verlangt. Beide Firmen sind Kunden eines ungarischen Getreidehandelsunternehmens, das auch in den oben erwähnten Mehrwertsteuerbetrug involviert ist, doch die Untersuchungen gegen dieses Unternehmen wurden auf »Weisung von oben« eingestellt. Die US-Firmen hätten 6,5 Millionen Euro zahlen sollen, das Geld wäre für »Forschungs- und Analyseaufträge« auf das Konto einer regierungsnahen Stiftung zu überweisen gewesen. Als Gegenzug wurden den Firmen »Steuererleichterungen« versprochen. Außerdem wurde ihnen angeboten, dass die Steuerbehörde ihren Konkurrenzfirmen Strafen in Milliardenhöhe erteilen werde. Die beiden US-Unternehmen jedoch zeigten sich von diesem Superdeal weniger angetan, und daraufhin begann das ungarische Steueramt sie zu gängeln. Nun sahen sie die Zeit gekommen, sich an die US-Behörden zu wenden, dass alle ungarischen Medien davon ausgehen, Führungskräfte des ungarischen Finanzamtes würden auf der US-amerikanischen Einreiseverbotsliste stehen. Es passt gut zu den Informationen des Portals. Horváth meint überdies, man hätte europäische Firmen genauso zu korrumpieren versucht, diese erstatteten aber weder in Ungarn noch in ihren Heimatländern Anzeige, haben also die ungarischen »Sonderumstände« akzeptiert.
Russland zugewandt
Ein zweites Motiv für die Schaffung der Einreiseverbotsliste könnte ganz anderer Art sein: Es könnte einen Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt geben. Unmittelbar nach der Besetzung der Krim durch Russland verkündete Ministerpräsident Orbán, dass nun doch auch der ungarischen Minderheit in der Ukraine vermehrte Autonomie zustehen müsse. Die Reaktion in den Nachbarstaaten Ungarns, in denen ungarische Minderheiten leben, kann man sich leicht ausmalen. Mehr als ergrimmt war auch Polen, ansonsten traditionell Ungarns innigster Freund unter den osteuropäischen Staaten. Dieses enge Verhältnis hat tiefgehende Wurzeln, ist doch auch Polen, ganz ähnlich wie Ungarn, nicht eben immun gegen Nationalismus, Klerikalismus und Antisemitismus. Der damalige polnische Ministerpräsident Donald Tusk (2007-2011), ein Verfechter der ukrainischen Einheit und Souveränität, verstand die Aussage Orbáns als Verrat und als »Schuss ins Knie der europäischen Gemeinschaft«. Orbán hat, davon ungerührt, die Angelegenheit seither des öfteren thematisiert, das letzte Mal in einem Rundfunkinterview, in dem er exakt am 22. September, als Gasprom-Chef Alexej Miller einen Kurzbesuch in Budapest absolvierte, Autonomie für Ungarn in der Karpato-Ukraine forderte. Zwei Tage später sperrte Budapest ohne Ankündigung oder Warnung gegenüber den Betroffenen die Gashilfslieferungen in die Ukraine.
Orbáns unverkennbare Annäherung an Putin, die seit längerer Zeit andauert und immer intensiver wird, ist den USA ohne Zweifel ein Dorn im Auge. Diesbezüglich drückte sich ein anonymer Informant der Wochenzeitung HVG (Heti Világgazdaság – Weltwirtschaftswoche) aus Fidesz-Kreisen folgendermaßen aus: »Es sind zu viele Sachen in den« von ungarischer Seite betriebenen »russischen Mix hineingekommen«. Problematisch sei zum Beispiel, dass der Ausbau des ungarischen Atomkraftwerkes Paks ohne Ausschreibung und Befragung des Budapester Parlaments an Russland vergeben wurde, noch dazu unter äußerst nachteiligen Bedingungen für Ungarn. Orbán sei der vehementeste Kritiker der Sanktionen gegen Russland und zeige sich partout nicht einverstanden mit den ukrainischen Friedensregelungen. Ungarn baue außerdem die umstrittene »South Stream«-Erdgaspipeline, die eine weitere Bindung ans russische Erdgas mit sich bringt. Klar ist mit alledem, dass Orbán versucht, die ausschließliche Abhängigkeit vom Westen aufzugeben mittels einer Annäherung an Russland, in der Erwartung, größere außen- und wirtschaftspolitische Handlungsspielräume zu erringen.
Aus der EU herausschleichen
Die ungarische Politikerkaste betrachtet es als selbstverständlich, dass die jüngst eskalierten Konflikte mit den USA in Wahrheit durch die »zu engen Verbindungen« mit Russland ausgelöst worden sind, allerdings konnte man von einer »hochrangigen Regierungsquelle« in der HVG lesen, dass die führenden Köpfe der Orbán-Regierung eben darüber nicht außerordentlich besorgt seien. Der Ministerpräsident achte in erster Linie auf Angela Merkel, und weil sich die deutsche Kanzlerin bis jetzt öffentlich nicht geäußert hat, bestehe in den Augen der ungarischen Führung kein Anlass zur Sorge. Ministerpräsident Orbán wolle, so heißt es, mit den Amerikanern ebenso verhandeln, wie er es auch mit der EU halte: In unwichtigen Punkten wolle er mit spektakulären Gesten auftreten, um in den für ihn wesentlichen Dingen sein Recht durchsetzen zu können. Ein erster solcher Versuch ist aber bereits schiefgegangen. Außenminister Szijjártó flog drei Tage nach der Verkündung der Einreiseverbotsliste nach Washington, wo er allerdings nur von einer viertrangigen Vertreterin des Außenministeriums, eben von der oben erwähnten Victoria Nuland, empfangen wurde, die lediglich Abteilungsleiterin ist. Eine größere Erniedrigung ist kaum denkbar. Allerdings war es eben auch ein riesiger politischer Fehler, gerade Szijjártó in einer Affäre, bei der es um Korruption geht, in die Vereinigten Staaten zu schicken. Denn gerade der wird seit September von den ungarischen Medien als prominentester Korruptionsverdächtigter gehandelt wird. Dessen Reichtum steht in keinem Verhältnis zu seinem Einkommen. So hat er im vorigen Jahr, obwohl er nach seiner eigenen Mitteilung immer nur als Politiker gearbeitet hat, von seinem Zehn-Millionen-Forint-Gehalt gleich 15 Millionen neu zusammengespart. Er ist vor zwölf Jahren als einer der ergebensten Anhänger Viktor Orbáns in die ungarische Politik eingetreten und seither ist sein Vermögen von 16.000 Euro auf über 325.000 Euro angestiegen. Außerdem war seine diesbezügliche Offenbarung, die er als Politiker vorlegen muss, etwas lückenhaft. So vergaß er zu erwähnen, Journalisten haben das dann herausgefunden, dass er neben seinen drei Luxushäusern auch ein viertes hat, welches das Vier- bis Fünffache des Durchschnittspreises eines Hauses in Ungarn gekostet hat.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dieser neuerliche Tiefpunkt der Beziehungen zwischen Ungarn und den USA Orbán noch weiter in die Arme östlicher Mächte treiben könnte. Viele Politiker seiner Partei, die er jahrzehntelang auf antirussischen und antichinesischen Kurs dressiert hatte, »schauen«, wie der ehemalige ungarische Botschafter in Washington, András Simonyi, es ausdrückte, »den Entwicklungen mit offenem Mund zu, sind unzufrieden mit der Situation, können aber nichts machen«. Jedenfalls äußerte László Kövér, ungarischer Parlamentspräsident und einer der engsten Vertrauten Viktor Orbáns, am Nationalfeiertag, dem 23. Oktober, dass es, sollte die Kritik an Ungarn innerhalb der EU nicht aufhören, es »lohnend wäre« darüber nachzudenken, wie man »sich aus der EU schön langsam und vorsichtig herausschleichen« könne.
* Aus: junge Welt, Mittwoch, 12. November 2014
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