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Ungarns neue Romapartei gibt nicht auf

Trotz eines enttäuschenden Wahlergebnisses will die MCP zur »kraftvollen Stimme« aller Gedemütigten und Unterdrückten im Land werden

Von Vivian Szelinsky *

Erstmals hat sich beim jüngsten Urnengang in Ungarn mit der Magyarországi Cigány Párt (MCP)eine neue Roma-Partei zur Wahl gestellt.

Die Fidesz-Partei des rechtsnationalen Ministerpräsidenten Viktor Orban wird nahezu sicher wieder eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament haben. Wie die Wahlbehörde nach Auszählung der Briefwahlstimmen in Budapest mitteilte, gibt es in einigen umkämpften Wahlkreisen keine Änderung der Mandatsverteilung. Fidesz hat demnach 133 Parlamentssitze und mit 66,8 Prozent der Mandate das Quorum für die Zweidrittelmehrheit knapp übersprungen.

Erstmals war bei den Wahlen am 6. April die Magyarországi Cigány Párt (MCP) angetreten. Sie hat rund 9000 Mitglieder, an ihrer Spitze steht der Bürgerrechtler Aladár Horváth. Schon einmal war er Parlamentsabgeordneter – 1990 bis 1994 für den liberalen Bund Freier Demokraten (SZDSZ). Lange lehnte er die Gründung einer Partei auf ethnischer Grundlage ab, doch die Erfahrung lehrte Horváth: Keine andere Partei unterstützt die Roma, obwohl sich die regierende Partei Fidesz rühmt, in der Person Livia Jarokas die einzige Roma-Abgeordnete im Europäischen Parlament zu stellen.

In Ungarn leben rund 700 000 Roma, viele von ihnen in erbärmlichen Verhältnissen. Tiefe Armut, andauernde Diskriminierung und Absonderung von der ungarischen Mehrheitsgesellschaft prägen ihren Alltag. In ihren Wohnsiedlungen sind fenster- und türenlose Hütten ohne Strom und Wasser Standard. Ihre Chancen auf eine Berufsausbildung, einen sicheren Arbeitsplatz, angemessene Gesundheitsversorgung und auf Akzeptanz in der ungarischen Bevölkerung sind katastrophal. So lebt die Mehrheit der Roma, so wachsen sie auf, so prägt sich das Bild von ihnen: »Eigentlich wollen sie es ja nicht anders – so kriminell, dreckig und faul wie sie sind.« Kaum einer, der nicht irgendeine schreckliche Geschichte zu erzählen hat, der nichts über die »Machenschaften der Roma-Clans« wüsste. Das ist in Ungarn so wie in Rumänien, Deutschland oder anderswo in Europa. Kenntnisse über RomaKulturen sind so gut wie nicht vorhanden.

Dazu kommen in Ungarn Angriffe von Rechtsextremisten gegen Roma. Besonders gefährlich sind die gewaltbereite »Neue Garde«, die unter ihrem alten Namen »Ungarische Garde« verboten worden war, und die mit ihr verbündete Partei Jobbik. Durch deren Hetze gegen die »Zigeunerkriminalität« hat sich der kulturell tief sitzende und niemals hinterfragte Antiziganismus in der ungarischen Gesellschaft radikalisiert. Die »Neue Garde« propagiert eine rassistische, antisemitische und antiziganistische Ideologie, oft unter dem Schutz von Medien, staatlichen Behörden, Jobbik-Parlamentariern und, nicht zuletzt, einem Großteil der ungarischen Mehrheitsbevölkerung. Selbst Akademiker unterstützen sie.

Auf fruchtbaren Boden treffen die Hetztiraden der »Neuen Garde« vor allem in den ärmeren Regionen Nordostungarns. Nach einer Serie von Morden an Roma in den Jahren 2008 und 2009 blieb die Lage höchst gefährlich. Nächtliche Überfälle, Tyrannei und Bedrohung durch sogenannte Bürgerwehren gehören für viele Roma immer noch zum traurigen Alltag.

All dies veranlasste Horváth und seine Parteimitglieder dazu, politisch mitmischen zu wollen. Sie wollen gegen den alltäglichen Antiziganismus, gegen Diskriminierung, Armut und prekäre Lebensverhältnisse angehen. Das Wahlergebnis von 0,18 Prozent – etwa so viele Stimmen wie die Partei Mitglieder hat – blieb jedoch enttäuschend, wenn man die beängstigenden 20,5 Prozent für Jobbik dagegen hält. Auch wenn das magere Resultat zum Teil durch das Wahlsystem zu erklären ist. Viele Roma gingen nicht wählen oder verhalfen gar der rechtspopulistischen Fidesz zu ihren 44,4 Prozent.

Die deutsch-ungarische Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky erklärt das so: »Die Medien sind, besonders auf dem Lande, gleichgeschaltet, einen Internetzugang können sich Roma vielfach aus finanziellen Gründen nicht leisten. Die persönliche Überzeugungskraft von Politikern spielte in diesem Wahlkampf eine sehr große Rolle. Infolge der permanenten Ausgrenzung haben Versprechungen wie ›Ihr gehört auch zum Magyarentum‹ eine äußerst große mobilisierende Wirkung.« Andere Quellen sprechen auch von Bestechung der Roma durch Fidesz.

Dabei macht die MCP in ihrem Wahlprogramm deutlich, dass die Roma eine politische und gesellschaftliche Interessenvertretung brauchen. Und sie will nicht nur Roma ansprechen, sondern »die sanfte, aber kraftvolle Stimme aller Menschen in Ungarn sein, die gedemütigt und unterdrückt sind«.

Das wird indes schwer werden ohne politisch helfende Instanzen, Antidiskriminierungsgesetze, die politische Ächtung hetzerischer Medienberichterstattung, die Beendigung staatlicher Segregationspolitik, ohne eine kritisch sich selbst hinterfragende ungarische Mehrheitsbevölkerung – und, nicht zuletzt, ohne eine Europäische Union, die ihrer Aufgabe gerecht wird, Minderheiten in Europa zu schützen. Aber die MCP will nicht aufgeben.

* Aus: neues deutschland, Montag, 14. April 2014


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