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Orbán in der Opferrolle

70 Jahre Nazibesatzung: Rechte Regierung relativiert Mitverantwortung Ungarns

Von Ben Mendelson *

In Ungarn tobt zehn Tage nach der Wiederwahl von Premier Viktor Orbán der Streit um das Gedenken an die Zeit der NS-Besatzung. Während die nationalkonservative Regierung ein Denkmal eröffnen will, fordert die Opposition, das Vorhaben umgehend fallenzulassen. Indes kursieren erste Gerüchte über das neue Kabinett, das in wenigen Wochen stehen soll.

Der Erzengel Gabriel, der im Zentrum des neuen Denkmals das unschuldige Ungarn symbolisiert, spreizt seine Arme gen Himmel und sieht von dort den attackierenden Reichsadler. Kein Zweifel: Wer das bereits fertiggestellte Denkmal zur Erinnerung an die deutsche Besatzung Ungarns im Zweiten Weltkrieg sieht, erkennt, wieso der wiedergewählten Fidesz-Regierung Geschichtsrevisionismus vorgeworfen wird. Sie hatte erst im Dezember angekündigt, mit der Planung des Großprojektes zu beginnen. Schon zwei Tage nach ihrer Wiederwahl begann sie mit dem Bau.

Laut Adam Kerpel-Fronius, wissenschaftlicher Mitarbeiter der deutschen »Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas«, bleibe deshalb der Eindruck, »daß die Regierung ohne Einbezug von Experten und ohne eine gesellschaftliche Debatte eine Entscheidung getroffen hat«. Die Bildsprache des Denkmals sei »sehr kitschig« und wolle symbolisch vermitteln, »daß Ungarn ein komplett unschuldiges Opfer des deutschen nationalsozialistischen Aggressors war«, so Kerpel-Fronius. Dabei war die Achsenmacht selbst am Zweiten Weltkrieg beteiligt. Ungarn deportierte auch vor der Besatzung Tausende Juden. Und, wie Kerpel-Fronius auf Nachfrage im Interview mit der unabhängig-kritischen Onlinezeitung Pester Lloyd betonte: »Die deutsche Besatzung bedeutete nicht die Auflösung des ungarischen Staates.« Die rund 200 Mitarbeiter des »Eichmann-Kommandos« der deutschen Wehrmacht hätten es »rein logistisch« unmöglich »ohne die aktive Mitwirkung der ungarischen Behörden« geschafft, »Hunderttausende Juden in Ghettos zu pferchen, zu enteignen und sie dann zu deportieren«.

Als die Regierung Orbán schon wenige Tage nach ihrer Wiederwahl am 6. April mit dem Bau des Besatzungsdenkmals begann, protestierten laut Pester Lloyd Hunderte linke und liberale Oppositionspolitiker, Opfer- und Antifagruppen sowie Bürgerrechtler. Sie bauten den Bauzaun um das Denkmal ab, besetzten es und forderten den Stopp der Arbeiten sowie eine Befragung der Bevölkerung. Das Gedenken an die Besatzung, das allen Opfern gelten soll, sei von der Regierung nur initiiert worden, um im Kampf gegen Antisemitismus einen Alibischritt zu gehen, so die Kritiker. Doch ungeachtet dessen sollen die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Nazibesatzung Ungarns am heutigen Mittwoch offiziell beginnen. Zum Auftakt soll auch das Denkmal eingeweiht werden.

Bence Rétvári, Staatssekretär des amtierenden Justizministers Tibor Navracsics (beide Fidesz), wetterte zuvor noch gegen »organisierte Linksextremisten«, die bloß nicht versuchen sollten, die Straßen unsicher zu machen und »Haß zu streuen«, indem sie gegen das Denkmal protestierten. Vizepremier Navracsics wird aktuell als Nachfolger für den bisherigen Außenminister János Martonyi gehandelt, dessen Ausscheiden aus der Regierung als sicher gilt. Wer dann in das frei werdende Justizministerium wechseln würde, entscheidet sich demnach wohl zwischen zwei Personen: Fidesz-Fraktionschef Antal Rogán und János Lázár, derzeit Staatsminister im Amt des Ministerpräsidenten. Lázár forderte zuletzt, die Todesstrafe wieder einzuführen, wie dies auch die neofaschistische Jobbik getan hatte. Rogáns Vermögenserklärung vor dem Parlament ist noch immer widersprüchlich, bis kurz vor der Wahl hatte er noch angegeben, nur zur Hälfte Besitzer einer Luxuswohnung im Budapester Zentrum zu sein. Wie sich nun herausstellte, war die Wohnung allerdings deutlich größer als angegeben und gehört ihm allein.

In wenigen Wochen wird das Kabinett offiziell feststehen – »und dem alten sehr ähnlich sein«, so der Pester Lloyd. Es werde noch effizienter auf Orbán zugeschnitten: Gehorsam, Treue und »ein gewisses Verkaufstalent« seien die besten Voraussetzungen für einen Platz im neuen Kabinett.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 16. April 2014


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