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"Flüchtlinge berichten von Mißhandlungen"

In Ungarn landen 40 Prozent aller Asylsuchenden im Gefängnis. Obdachlose werden diskriminiert. Gespräch mit Marc Speer *


Marc Speer lebt in Budapest. Er ist Experte für Asylbedingungen in Ungarn und Vorstandsmitglied des gemeinnützigen Vereins bordermonitoring.eu

Sie leben in Ungarn, wo die rechte Regierungspartei Fidesz eine problematische Asylgesetzgebung verabschiedet hat. Die noch rechtere Jobbik macht auf der Straße Stimmung gegen Asylsuchende. Bei den Europawahlen haben beide ihren Stimmanteil noch vergrößern können. Welche Folgen hat das für Flüchtlinge?

2010, gleich nach dem Wahlsieg der Fidesz, wurde die »grundsätzliche Inhaftierung« von Asylsuchenden eingeführt: Damals wurden alle ausnahmslos in Gefängnisse gesteckt. Mittlerweile hat sich das geändert; es werden noch bis zu 40 Prozent eingesperrt.

Zur Geschichte der rechtsextremen Jobbik: Sie agitiert seit langem gegen Roma, ähnlich wie nun gegen Asylsuchende. Sie hat im vergangenen Jahr zwei Fackelmärsche vor dem Flüchtlingslager in Debrecen veranstaltet. Vor zwei Wochen hat Jobbik gegen eine Kundgebung der ungarischen Flüchtlingsunterstützungsgruppe »Migszol« demonstriert.

Unter Berufung auf Mediziner behauptet die Partei, Asylsuchende könnten gefährliche Krankheiten verbreiten. Flüchtlinge seien ohnehin meist Kriminelle: In Balassagyarmat gab es einen Vergewaltigungsvorwurf, der sich im nachhinein als unzutreffend herausgestellt hat. Die Jobbik hat dennoch damit Politik gemacht: Als längst klar war, daß die Anschuldigungen aus der Luft gegriffen waren, demonstrierte sie trotzdem vor dem dortigen Lager. Letzteres ist übrigens »halboffen«. Nachts dürfen die Flüchtlinge nicht hinaus.

Gibt es in ungarischen Gefängnissen Folter?

Flüchtlinge berichten aus der Haft, entweder selbst von Wärtern mißhandelt worden zu sein oder es bei anderen mitbekommen zu haben. Kürzlich haben einige berichtet, in einem Sanitätsraum in der Hafteinrichtung in Debrecen malträtiert worden zu sein, dort gibt es leider keine Videoüberwachung. Vor einiger Zeit mußten Asylsuchende zum Beispiel stets bitten, auf Toilette gehen zu dürfen – was Wärter mitunter verweigern. Mißhandlungen haben auch damit zu tun: Dort arbeiten relativ schlecht ausgebildete Leute, die obendrein nur wenig Gehalt beziehen. In einigen Fällen gab es Ermittlungen, die sind aber im Sand verlaufen. In totalitären Gefängnissystemen gibt es auch keine unabhängigen Zeugen. Dem kommt Ungarn schon sehr nahe. Gerichtsfest ist kaum etwas nachzuweisen.

Weil es schwer ist, heute einen Job zu finden, können viele ihre Miete nicht zahlen und landen auf der Straße. Ungarn ist das einzige europäische Land, das die Bestrafung von Obdachlosigkeit in seiner Verfassung erwähnt. Wer also im Freien schläft, kann zu einer Geldbuße in Höhe von bis zu 500 Euro verurteilt werden. Nichtzahlung bedeutet Gefängnis. Dabei gibt es folgendes Paradox: Die vorhandenen Notunterkünfte sind meist überfüllt, Obdachlose werden also in die Straffälligkeit gezwungen.

Gibt es Zwangsarbeit?

Es gibt die Möglichkeit, daß der Staat Obdachlose und damit auch Flüchtlinge zur gemeinnützigen Arbeit verpflichtet. In Budapest heißt das beispielsweise: Straße kehren, Müll im Park aufsammeln; auf dem Lande: im Wald arbeiten, Gras mähen, Äste schneiden etc. Dafür gibt es einen Lohn von 170 Euro monatlich, wovon kein Mensch leben kann. Wer nicht arbeitet, bekommt gar nichts.

Wie geht es den nach der Dub­lin-II-Regelung von Deutschland nach Ungarn zurückgeschickten Flüchtlingen? Diese Vorschrift besagt ja, daß der erste Staat, den ein Flüchtling in EU-Europa betritt, für dessen Asylverfahren zuständig ist.

Einige landen im Gefängnis, andere auf der Straße. Es gibt kaum Hilfsangebote. Wer keine Adresse nachweisen kann, hat zudem kaum Zugang zur staatlichen Gesundheitsversorgung.

Wer hat es in der Hand, diese Situation zu ändern?

Wir fordern das deutsche Innenministerium auf, aufgrund der menschenunwürdigen Zustände für Ungarn einen generellen Abschiebestopp zu verfügen. 2013 wurden knapp 200 Flüchtlinge dorthin abgeschoben, aktuell ist die Zahl der Übernahmeersuchen nach der Dublin-Verordnung von Deutschland an Ungarn drastisch gestiegen. Zugleich fordern wir die ungarische Fidesz-Regierung dringend dazu auf, die Bedingungen zu verbessern.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Dienstag 10. Juni 2014


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