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Kein Kniefall vor der Medienpäpstin

Widerstand gegen Ungarns Oberzensorin

Von Roland Mischke, Budapest *

Annamária Szalai heißt die neue ungarische Chefzensorin. In den 1990er Jahren hat sie eine Sex-Postille geleitet, nun gibt sie sich als sittenstrenge Zensorin. Die Zeitung »Népszabadság« hat ihr den Kampf angesagt.

Annamária Szalai? Bis vor kurzem wussten die meisten Ungarn mit dem Namen nichts anzufangen. Jetzt ist er in aller Munde. Die korpulente 49-Jährige mit dem Pony, der wuchtigen Nase und dem Vorstehgebiss ist seit August Präsidentin der Medienbehörde. Pünktlich zum neuen Jahr – dem Starttag von Ungarns EU-Ratspräsidentschaft für sechs Monate – hatte ihre Behörde umfassende Kompetenzen zur Zensur der Medien erhalten. Doch Szalai stößt dabei gleich zu Beginn im neuen Amt auf zwei Hürden. Zum einen hat ihr die Tageszeitung »Népszabadság«, die dem Zürcher Ringier-Konzern gehört, den Kampf angesagt. Zum anderen kam am Freitag EU-Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso nach Budapest, um über die Bedenken der EU gegen das Maulkorbgesetz für die Landesmedien zu sprechen.

Szalai hat so viel Macht wie keine andere Frau in Viktor Orbans Männerpartei Fidesz, die in Ungarn allein regiert. Gleich für neun Jahre hat der Premier sie berufen, sie ist seine enge Vertraute. Auf die einstige Grundschullehrerin für Musik in Zalaegerszeg, einer Komitatshauptstadt im Landeswesten, konnte er sich stets verlassen. Kam es einmal hart auf hart für die Rechtskonservativen, wurde Szalai als Geheimwaffe an die Front geworfen. Verbal hat sie manchen Konkurrenten in der Fidesz schon das Fürchten gelehrt.

Die Dame sieht sich als Statthalterin christlicher Familienwerte, machte aber zu Beginn der 1990er Jahre Station als Chefredakteurin der Sex-Postille »Miami Press«. Das Magazin erschien allerdings nur in wenigen Ausgaben. Seit 2002 ist Szalai Parteiarbeiterin bei Fidesz. In ihrem neu eingerichteten Amt als Chefin der »Nationalen Medien- und Infokommunikationsbehörde« (NMHH) kann sie nach eigenem Gusto Strafen verhängen, bei denen bis zu sechsstellige Summen gezahlt werden müssen – in Euro.

Befindet die Oberzensorin, dass es einer Zeitung, einem Magazin, einem Hörfunk- oder TV-Sender und selbst Internet-Portalen an »ausgewogener Berichterstattung« mangelt, können sie und die anderen vier Leute des Medienrats zur Tat schreiten – ohne parlamentarischen Beschluss. Nirgendwo in Europa, nicht einmal in autoritär regierten asiatischen Staaten gibt es eine Behörde mit solcher Allmacht. Offiziell sorgt die NMHH für Konsumenten- und Wettbewerbsschutz im Mediensektor, schreibt Sendefrequenzen aus, »beobachtet Medieninhalte«, wie im Gesetz der Kontrollvorgang umschrieben wird. Sie darf aber jederzeit ins bis dato freie mediale Geschehen eingreifen.

Die ungarische Regierung behauptet, die öffentlich-rechtlichen Medien des Landes damit stärken zu wollen; das Mediengesetz von 1996 habe die privaten Medien bevorteilt. Gepocht wird auch auf einen wirkungsvolleren Kinder- und Jugendschutz; zum ersten Mal gebe es, so heißt es, in Ungarn eine echte juristische Handhabe gegen pornografische Inhalte. Szalai als Verteidigerin christlicher Werte erklärte, Kinder müssten vor Gewalt und sexuellen Exzessen in den Medien gewarnt werden.

Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die zuständige Brüsseler EU-Behörde geschlafen hat. Dunja Mijatovic, Repräsentantin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), hatte schon im Juni darauf hingewiesen, dass das geplante Gesetz zu einer Unterordnung der Medien »unter politische Entscheidungen führen« könne. Das würde den Medienpluralismus »ernstlich einschränken« und könne »leicht für politische Ziele missbraucht« werden. Die EU-Funktionäre wussten also schon vor mehr als einem halben Jahr, dass das ungarische Mediengesetz den OSZE-Standards für Medienfreiheit nicht entsprechen würde. Aber sie intervenierten nicht in Budapest. Tatsächlich ist es seit diesem Jahr möglich, dass Szalai Geldstrafen verhängen kann wegen »Verunglimpfung der ungarischen Regierung«.

Die Tageszeitung »Népszabadság« (»Freiheit des Volkes«), bis zur Wende Organ der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei und noch immer eines der auflagenstärksten Blätter im Lande, hat den Kampf mit der Behörde aufgenommen. Am ersten Tag des Jahres stand auf ihrer Titelseite: »In Ungarn wurde die Pressefreiheit aufgehoben«, und das nicht nur in der Landessprache, sondern in allen Sprachen der EU. Nun ist man gespannt, wie Szalai auf diese Breitseite reagiert. Im Gegensatz zu anderen ungarischen Medien muss »Népszabadság« auch eine hohe Strafe jedoch nicht so sehr fürchten – zu zahlen hätte der Eigentümer, der Schweizer Verlag Ringier.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Januar 2011


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