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Vor der "Machtergreifung"

Am Wochenende wählen die Ungarn ein neues Parlament. Der rechte Fidesz-Bund und die neofaschistische Jobbik-Bewegung sehen sich jetzt schon als überlegene Sieger

Von Sándor Horváth *

Am 11. April tritt die Bevölkerung Ungarns zum sechsten Mal seit der Wende von 1990 an die Urnen, um ein neues Parlament und damit ihre neue Regierung zu wählen. Seit Jahren sagen alle Meinungsumfragen einen Erdrutschsieg der größten Oppositionspartei, des rechtskonservativen national-populistischen Bundes Junger Demokraten – Ungarischer Bürgerbund (Fidesz – MPSz) voraus, der mit einer Ein-Prozent-Partei, der fundamentalklerikalen Christdemokratischen Volkspartei, in einer Art Symbiose lebt. Dieses Bündnis könnte sogar, und das wäre eine Neuheit in der Geschichte der jungen Dritten Republik, eine Zweidrittelmehrheit erlangen. Die langjährige Taktik der mittlerweile gealterten Jungdemokraten scheint aufzugehen. Fidesz verläßt sich auf die Hilflosigkeit der regierenden Ungarischen Sozialistischen Partei (USP). Genauer gesagt, der Bund führt gegen diese Regierungspartei seit Jahren eine brutale Negativkampagne nach allen Regeln der Kunst der US-amerikanischen konservativen Republikaner. Fidesz hat, und dies entspringt einer ganz bewußten Strategie, nicht einmal ein eigenes Wahlprogramm. Der Parteienbund – und mit ihm das ganze Land – hält die Wahlen mit einer solchen Sicherheit für schon gelaufen, daß sein Vorsitzender und Ministerpräsidentschaftskandidat Viktor Orbán es sich erlauben kann, an keinerlei öffentlichen Diskussionen teilzunehmen, Fernsehen inbegriffen. Er kündigt an, sich auf eine Regierungsperiode von 15 bis 20 Jahren vorzubereiten.

Die Mitbewerber

Dementsprechend erscheint der Wahlkampf in erster Linie als Schlacht zwischen den Kleineren. Als die beiden »Kleingroßen« dürfen dabei die USP sowie der neue politische Star der ungarischen Parteienlandschaft gelten, die rechtsradikal-populistische Jobbik, die »Bewegung für ein besseres Ungarn«. Im Ungarischen vereint der Begriff »Jobbik« die zwei Bedeutungen »Der Bessere« und »Der Rechtere«. Der USP waren nach der Wende als Großpartei zunächst zwei Regierungsperioden vergönnt. Die haben die Sozialisten auch weidlich ausgenutzt. Sie haben das Land, Schulter an Schulter mit der Rechten und dem ehemaligen neoliberalen kleinen Koalitionspartner Bund Freier Demokraten (SZDSZ), in ein gesellschaftliches und wirtschaftliches Chaos geführt. Stets versuchten sie, neoliberale Reformen mit gewissen Minimalrücksichten auf die unteren Bevölkerungsschichten zu verbinden. Vor einem Jahr bildeten die Sozialisten dann eine Minderheitsregierung mit dem als Retter der Nation in der Krise zur Schau gestellten Ministerpräsidenten Gordon Bajnai. Dieser leitete umgehend ein rigoroses Kürzungsprogramm ein. Doch der schwerreiche Unternehmer nahm den Auftrag nur für das letzte Jahr vor den Wahlen an. Aktuell treten die Sozialisten mit dem weithin unbekannten und politisch gesichtslosen, erst 36jährigen ehemaligen Staatssekretär Attila Mesterházy an. Daß sie mit dieser Wahl zu einer Partei mit gerade noch mittlerer Stimmenanzahl schrumpfen werden, steht fest.

In einem vergleichbaren Maße möchte die rechtsradikale Jobbik wachsen. Zu diesem Zweck präsentiert sie sich derzeit, verglichen mit ihrem wahren Charakter, als einigermaßen gemäßigte Kraft. Die offen rassistische, antisemitische, romafeindliche, homophobe und radikal antikommunistische einstige Kleinpartei überraschte das Land bei den EU-Parlamentswahlen im Vorjahr mit satten 15 Prozent der Stimmen. Sie verfügt über eine offiziell verbotene, faktisch aber existierende Parteiarmee, die berüchtigte Ungarische Garde, die mit ihrer schwarzen, SS-ähnlichen Uniform den Horror der Nazizeit heraufbeschwört und wohl momentan eine in ganz Europa einmalige Erscheinung darstellt.

Die Mitgliederzahl von Jobbik ist seit den Europawahlen auf das Anderthalbfache angeschwollen. Ihre Popularität wächst ständig, nicht zuletzt, weil sie vielen Bürgerinnen und Bürgern als unbeschriebenes Blatt gilt und daher kein Korruptionsvorwurf an ihr zu haften scheint. Besonders aber schätzen die Sympathisanten, daß Jobbik, wie es häufig heißt, die Probleme offen anspricht. Einerseits zeigt die Partei mit dem Finger auf eine gezielt zusammengestellte Auswahl von Tatsachen, die Teilen der Bevölkerung das Leben zur Hölle machen. Die ungarischen Eliten seien durch und durch korrupt; Ungarn sei eine Kolonie. Die multinationalen Firmen hielten im Land alles unter ihrer Kontrolle, kämen nur wegen der billigen Arbeitskraft und der nur ihnen zustehenden Steuerbegünstigungen nach Ungarn, kümmerten sich nicht um arbeitsrechtliche Bestimmungen und schafften am Ende den Profit aus dem Land. Das Gesundheitswesen sei in einem katastrophalen Zustand usw.

Die andere Hälfte der Jobbik-Ideologie, darunter die »Zigeunerkriminalität« und die »Judenfrage«, die Rede von der »Holocaust-Leugnung als Meinungsfreiheit«, die Forderung nach »Wiederherstellung des geschichtlichen Großungarns« etc., zeugt von der Anfälligkeit der ungarischen Gesellschaft für rechtsextremes Gedankengut. Jobbik bekämpft natürlich ständig die Etikettierung als Nazipartei. Im Wahlkampf bemüht sie sich daher darum, sich keineswegs als extreme, »nationalradikale« Formation zu zeigen, aber nur wegen ihrer Absicht, das öffentliche Leben zu »säubern«, ins Kreuzfeuer der Kritik geraten sei. Die Zukunft der mittlerweile verbotenen Ungarischen Garde ist im Land kaum ein Thema, während Parteivorsitzender Gábor Vona öffentlich feststellt, daß die Garde exisitiert und auch in 20 Jahren noch exisitieren wird. Die Großpartei Fidesz, die die Parlamentswahlen gewinnen wird, arbeitet bereits jetzt in über 160 Kommunen auf Gemeinderats- und Bürgermeisterebene ganz formell mit Jobbik zusammen.

Unter den kleineren politischen Formationen ist als überraschender Neuankömmling die Partei »Eine andere Politik ist möglich – Humanistische Partei« (LMP) hervorzuheben. Ähnlich wie Jobbik landete die LMP bei den Europawahlen einen ihr nicht zugetrauten Erfolg. Die damals außerhalb der Hauptstadt Budapest praktisch unbekannte grün-alternativ-liberal gefärbte Intellektuellenpartei erreichte praktisch ohne Wahlwerbung landesweit über 2,5 Prozent der Stimmen. Dies kann als das derzeit einzige Zeichen dafür verstanden werden, daß es Ungarn gibt, die nach einer Alternative zum von der sogenannten Linken mit verursachten, unaufhaltsam erscheinenden Aufstieg der Rechten suchen. Das Programm dieser Partei richtet sich gegen die Korruptheit der Führungsriegen der großen Parteien und beruht auf einer kritisch-konstruktiven Haltung zur EU. Hinzu kommen Schwerpunkte wie Einhaltung der Klimaverträge und eine grüne Energiepolitik sowie die Forderung nach einer strengeren Regulierung der Märkte. In den Meinungsumfragen liegt die LMP zwischen einem und drei Prozent und würde wegen der Fünf-Prozent-Klausel nicht ins Parlament gelangen. Doch die Partei war schon einmal für eine Überraschung gut.

Des weiteren stehen die zwei ehemaligen großen ungarischen Systemwechselparteien, das Ungarische Demokratische Forum und der Bund Freier Demokraten, im Wahlkampf. Beide sind in der Wählergunst so weit gesunken, daß sie ums politische Überleben kämpfen. Die Verzweiflung über ihren ständigen Popularitätsverlust hat die ehemaligen Erzgegner mittlerweile dahin gebracht, ein Bündnis miteinander zu schließen. Gemeinsamer Ministerpräsidentschaftskandidat ist der ehemalige Finanzminister Lajos Bokros, der bis heute für ein erstes großes neoliberales Streichkonzept der 1990er Jahre, das »Bokros-Paket«, bekannt ist. Er kann seine neoliberalen Pläne nicht lassen. Die Renten von heute durchschnittlich 250 Euro möchte er aus »Liebe zum Staatshaushalt« weiter senken, und das Mindesteinkommen von 270 Euro soll ab sofort besteuert werden, damit, so Bokros, das Selbstbewußtsein der Steuerzahler und ihr Interesse für die Staatsgeschäfte wachse. Die Wirkung dieser und anderer Ideen blieb nicht aus. Das neoliberale Wahlbündnis wird, wenn es gut geht, nicht mehr als ein Prozent der Stimmen erhalten.

Geringe Lebensqualität

Ungarn war 1990 ein Star unter den Systemwechselstaaten und aus kapitalistischer Sicht zum Erfolg verurteilt. Das heutige Bild ist erschreckend. Das Bildungssystem schneidet im OECD-Vergleich miserabel ab, denn die gesellschaftliche Stellung eines Menschen bei seiner Geburt hat in Ungarn den vergleichsweise größten Einfluß auf seine schulischen Aufstiegsmöglichkeiten. Sieben Prozent der Bevölkerung leben dauerhaft in tiefer Armut, ein weitaus größerer Prozentsatz fällt immer wieder unter die Armutsgrenze oder ist permanent armutsgefährdet. Die Beschäftigungsrate erreicht kaum die 57-Prozent-Marke; Ungarn bildet damit das europäische Schlußlicht. Die Lohnkosten liegen in Ungarn bei durchschnittlich sieben Euro pro Arbeitsstunde, im benachbarten Österreich sind sie viermal so hoch. Insbesondere junge Menschen sehen keinerlei Sinn darin, arbeiten zu gehen, wenn sie dafür doch nur einen Lohn in Höhe eines Taschengeldes erhalten. Die Lebenserwartung der ungarischen Bevölkerung liegt acht Jahre unter dem westeuropäischen Durchschnitt. Betrachtet man die Roma getrennt von der übrigen Bevölkerung Ungarns, liegt ihre Lebenserwartung zehn Jahre unterhalb der der Ungarn. In vielen Regionen sind 80 Prozent der Roma arbeitslos, und sie werden darüber hinaus mit Mord und durch bürgerkriegsähnliche Zustände bedroht. Der Rechtsstaat und die Polizei funktionieren immer weniger. Nach offiziellen Schätzungen macht die nicht erfaßte Wirtschaftsleistung einschließlich Schwarzarbeit 15 bis 30 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus. Die Städte ersticken in Smog und Schmutz, das Land ist überflutet mit nicht gekennzeichneten, ungesunden Lebensmitteln von dubioser Herkunft.

Wie ist es dazu gekommen, daß die sonst als berechnend geltenden Ungarn, laut einer UN-Untersuchung derzeit eine der am pessimistischsten eingestellten Bevölkerungen der Welt, sich gar nicht mehr um Wahlprogramme und den gesunden Menschenverstand kümmern? Warum folgen sie bei den bevorstehenden Wahlen den einfachsten Instinkten?

Rechte Richter

Eine besondere Rolle spielen dabei die Eliten. Hier mag der vom Parlament gewählte parteilose Staatspräsident László Sólyom als ein wichtiges Beispiel dienen. Er hat im August 2005 die Posi­tion des ersten Mannes im Staate mit massiver Hilfe vom Fidesz und durch eine vorschriftswidrige Wahl im ungarischen Abgeordnetenhaus erlangt. Der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichtshofes nennt sich einen Verfechter der Menschenrechte, doch ist dem gerade dann nicht so, wenn es um die Schwachen geht. Sólyom hat sich geweigert, ein Gesetz gegen Gewalt in der Familie gegenzuzeichnen, das es erlaubt hätte, gewalttätige Personen aus der gemeinsam genutzten Wohnung zu verweisen. Er begründete seine Ablehnung damit, daß das Gesetz die freie Wahl des Aufenthaltsortes in unverhältnismäßiger Weise beschränke und dem Prinzip der Bewegungsfreiheit widerspreche. Nicht weniger skurril waren seine Argumente gegen das Verbot diskriminierender Hetze gegen Minderheiten, das das Parlament ohnehin nur in aufgeweichter Form beschlossen hatte. Hier sah Sólyom das Selbstbestimmungsrecht des Individuums gefährdet und befürchtete uferlose Prozesse im Falle des Inkrafttretens des Gesetzes. Sólyom macht also im neutralen höchsten Amt im Staat seit Jahren mit Hilfe juristischer Spitzfindigkeiten und Absurditäten Fidesz-Politik. Und als sich die mörderischen Attacken gegen Roma mehrten, zögerte er lange Zeit, obwohl von Spitzenvertretern der Minderheit und anderen Politikern dazu aufgefordert, auch nur ein Wort zu verlieren.

Der Verfassungsgerichtshof zeichnet sich ebenfalls durch nicht immer nachvollziehbare juristische Auffassungen und politische Interventionen aus. Als die ungarische Regierung eine Arztbesuchsgebühr und einen Beitrag zum Tagespflegesatz bei Krankenhausaufenthalten einführen wollte, initiierte Fidesz-Chef Orbán einen Volksentscheid gegen die relevanten Gesetze. Diese Volksabstimmung wurde vor dem Verfassungsgerichtshof angefochten, weil laut Grundgesetz eine Volksbefragung, die Fragen des Staatshaushaltes berührt, nicht zulässig ist. Doch das Verfassungsgericht vertrat überraschend die Auffassung, daß diese Art von Gebühren Budgetfragen nicht berühre. Der unerklärliche und eindeutig grundgesetzwidrige Entscheid der obersten Hüter der Verfassung kann kaum anders als Kniefall vor dem schon damals mächtigsten Politiker des Landes gewertet werden.

Auch die Tätigkeit anderer ungarischer Gerichtshöfe zeugt von einer eher politisch rechts orientierten Gesinnung der Richterschaft. Roma erhalten für die gleichen Delikte in der Regel deutlich höhere Strafen als andere Verurteilte. Aufsehen erregten mehrere Urteile im Zusammenhang mit dem Holocaust: Der Sohn eines Häftlings des Todeslagers Dachau klagte vergeblich auf Rückgabe des von den ungarischen Nationalsozialisten beschlagnahmten und bei einer ungarischen Sparkasse liegenden Geldes seines Vaters. Laut Urteil verletzten die zwischen 1939 und 1945 verabschiedeten rassendiskriminierenden Gesetze zwar die Menschenrechte und standen im Gegensatz zu den üblichen Moralauffassungen. Doch könnten wegen der damals bestehenden Verbindlichkeit dieser Gesetze geschlossene zivilrechtliche Verträge nicht als unmoralisch betrachtet werden.

Ein anderer aufsehenerregender Fall ist der eines ehemaligen Polizeigendarms des ungarischen NS-Regimes der Pfeilkreuzler. Der Mann, der seinerzeit bei der versuchten Verhaftung des wohl bekanntesten ungarischen Widerstandskämpfers, Endre Ságvári, bei der es zur Ermordung des Kommunisten kam, mitgewirkt hatte, wurde jüngst von ungarischen Gerichten rehabilitiert. Nach der richterlichen Begründung hat der Pfeilkreuzler rechtmäßig gehandelt, weil laut 1944 geltendem Gesetz eine Straftat beging, wer eine Bewegung oder Organisation zum gewalttätigen Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung anregte oder leitete. Demnach handelte die ungarische Nazipolizei 1944 rechtmäßig, und der Gesetzesbrecher war Ságvári, weil er deren gesetzmäßigem Vorgehen Widerstand entgegensetzte. Das höchste Gericht kam somit zu der wegweisenden Rechtsauffassung, daß jemand, der sich von der Nazipolizei nicht verhaften und in den sicheren Tod schicken lassen wollte und deshalb Widerstand gegen die Festnahme leistete, der eigentlich verurteilungswürdige Täter sei.

Offen für Rassismus

Ein Blick auf die Arbeit der Polizei leitet zum Allgemeinzustand der Gesellschaft hinüber. Vor fast genau einem Jahr wurde das Haus einer Roma-Familie angezündet und der aus dem brennenden Haus flüchtende Vater mit seinem fünfjährigen Sohn erschossen. Die Polizei begann erst acht Stunden nach den Morden mit der Sicherung des Tatorts – als die meisten Spuren schon verwischt worden waren. Zuvor hatten ein Streifenpolizist und ein Beamter der Spurensicherung durch ihr Herumwerken am Tatort Hinweise auf die Täter vernichtet, ohne sonst irgend etwas zu unternehmen. Am nächsten Morgen schließlich verständigten Nachbarn die Polizei über im Schnee gefundene Patronen. Nun erst gab die Polizei öffentlich überhaupt zu, daß am Tatort Schüsse gefallen waren. Die Feuerwehr ihrerseits behauptete, das Feuer sei möglicherweise durch einen Kurzschluß ausgelöst worden. Der diensthabende Arzt hat als Todesursache Rauchvergiftung festgestellt, die Schußwunden seien ihm nicht aufgefallen. Das alles geschah ein Jahr nach Beginn der Anschlags- und Mordserie gegen die ungarischen Roma. Während solche Hinrichtungen gleichsam im Monatstakt weitergingen, ließ die Polizei verlauten, daß bei den Taten nicht unbedingt rassistische Motive im Spiel sein müßten. Die Liste ähnlicher Zynismen bei der Reaktion auf Attentate gegen Roma ließe sich beliebig erweitern.

Laut einer internationalen Untersuchung stieg in den vergangenen acht Jahren unter der Bevölkerung Europas die Neigung zu rechtsextremen Ansichten in der Ukraine und in Ungarn am stärksten. Im Balkanland haben sich die entsprechenden Umfragewerte verdoppelt. Es liegt damit nach der Ukraine und Bulgarien auf dem dritten Platz in der Liste der europäischen Spitzenreiter des Rechtsextremismus. Laut Erhebungen ungarischer Soziologen sind über 80 Prozent der Bevölkerung mehr oder weniger offen rassistisch eingestellt. Mit der Feststellung, es gebe auch anständige Zigeuner, doch die Mehrheit sei unredlich, waren zum Beispiel 82 Prozent der Befragten einverstanden. Zwei Drittel der Bevölkerung sind der Meinung, daß Juden im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl einen zu großen Einfluß im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben besitzen.

Mit Macht nicht zimperlich

Aller Wahrscheinlichkeit nach kommt mit den Wahlen eine schöne neue Welt auf Ungarn zu, wenn Fidesz, womöglich in Kooperation mit der Jobbik, eine Zweidrittelmehrheit erreicht. Fidesz hält nämlich die derzeit geltende Verfassung des Landes für, so wörtlich, stalinistisch, und fordert ein stärker präsidiales System sowie das Wahlrecht für mehrere Millionen außerhalb der ungarischen Staatsgrenzen lebende Ungarn. Viele dieser vom Fidesz so bezeichneten Volksungarn sind höchst nationalistisch eingestellt. Falls die Rechte in Ungarn bei den Wahlen am kommenden Sonntag tatsächlich eine Zweidrittelmehrheit erreicht, kann sie derartige Reformprojekte mit Leichtigkeit umsetzen.

Daß Fidesz auch sonst mit der Macht nicht zimperlich umgeht, weiß man seit ihrer Regierungszeit vor einem Jahrzehnt. Damals wurde kein einziger parlamentarischer Untersuchungsausschuß zugelassen, das Parlament trat nur jede dritte Woche für ein paar Tage zusammen, und eine große Korruptionswelle überflutete das Land. Nun kündigen die Jungdemokraten für die Zeit nach der von ihnen explizit so genannten Machtergreifung an, die derzeitige Regierung und dazugehörige Eliten schonungslos zur Verantwortung zu ziehen, weil die Zukunft nicht ohne Abrechnung beginnen könne. Doch schlug Kanzleranwärter Orbán in einer seiner Reden, ganz im Stil paternalistischer Drohung, auch versöhnlichere Töne an. Fidesz werde nach dem Regierungswechsel eine einheitliche Nationalstrategie verfolgen. Darin sei, falls sie eine nationale Wende vollziehe, auch für die Linke Platz. Allerdings seien die Chancen hierfür, so Orbán weiter wörtlich, wegen der genetischen oder eher historischen Gegebenheiten der Linken, minimal. So wird wohl die geistige Hebung der Nation nach Fidesz’ Willen den neuen Machthabern alleine zufallen. Steuersenkungen für Unternehmer in den ersten vier Jahren der neuen Zeit gehören zu den wenigen Maßnahmen, die Orbán öffentlich angekündigt hat. Ob er die wohl auf Unternehmer rein ungarischen Blutes beschränken wird?

* Sándor Horváth ist freier Journalist und Musiker. Er lebt in Budapest und Berlin.

Aus: junge Welt, 8. April 2010



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