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Gnadenstoß für die Demokratie in Ungarn

Seit 1. April ist die abermals geänderte Verfassung in Kraft

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Am 1. April traten die kürzlich beschlossenen Änderungen der ungarischen Verfassung in Kraft. Eine Woche zuvor war die vierte Änderung des Grundgesetzes im staatlichen Mitteilungsblatt »Magyar Közlöny« veröffentlich worden.

Der ungarische Staatspräsident János Áder hatte bereits am 13. März, als die westliche Welt auf den weißen Rauch aus dem Kamin der Sixtinischen Kapelle starrte, im staatlichen Fernsehen mit knappen Worten mitgeteilt, dass er die zwei Tage zuvor von der Zweidrittelmehrheit des regierenden Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) verabschiedete vierte Modifizierung des ungarischen Grundgesetzes unterschreiben werde. Dabei hatte sich die letzte Hoffnung vieler Menschen zunächst auf den Präsidenten gerichtet. Er hätte die neuerliche Umgestaltung des erst im vorigen Jahr in Kraft getretenen, 25 Seiten starken Grundgesetzes noch verhindern können.

Áders Vorgänger, der seinerzeit ebenfalls mit Fidesz-Stimmen gekürte Staatspräsident László Solyom, hatte in einem umfänglichen juristischen Essay dargelegt, dass der Präsident laut Verfassung Änderungen des Grundgesetzes nicht nur absegnen müsse, sondern dass er auch die Aufgabe habe, die Demokratie zu schützen. Der entsprechende Passus des Grundgesetzes schreibt tatsächlich vor, dass der Präsident »über das demokratische Funktionieren des Staatswesens zu wachen« hat. Solyom forderte Áder direkt auf, unter Berufung auf diese Klausel die Gegenzeichnung zu verweigern.

Mit der Ankündigung Áders war diese Milchmädchenillusion verflogen. Die Illusion nämlich, dass eine von Ministerpräsident Viktor Orbán ins Amt gehievte Fidesz-Führungskraft eher seinen verfassungsmäßigen Pflichten treu bleiben würde als seinem Parteichef.

Mit der Verfassungsänderung werden unter anderem die Befugnisse des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) brutal beschnitten. Beispielsweise darf er neue Gesetze inhaltlich nicht mehr prüfen. Er darf sich auch auf seine früheren Urteile nicht mehr berufen, womit er seiner eigenen Vergangenheit und Rechtsprechung beraubt ist. Die Obdachlosigkeit ist verfassungsmäßig kriminalisiert. Homosexuelle, aber auch unverheiratete Partnerschaften und die in solchem Rahmen lebenden Kinder werden nicht mehr als Familie anerkannt. Studierende müssen entweder horrende Studiengebühren zahlen oder sie müssen nach ihrem Studium doppelt so lange, wie sie studiert haben, im Lande bleiben. Als Alternative müssten sie die Gebühren nachzahlen. Welche Glaubensgemeinschaft als Kirche anerkannt wird, bestimmen die Politiker. Wahlwerbung darf nur in vom Staat kontrollierten Medien gesendet werden, Plakatieren ist verboten. Das Schrifttum der nationalen Gewerkschaftskonföderation, der Jugendorganisation und anderer Institutionen aus der Zeit des Staatssozialismus wird verstaatlicht. Die ehemalige Staatspartei »und alle anderen Organisationen, die gegründet wurden, um dieser im Lichte der kommunistischen Ideologie zu dienen, waren sündige bzw. kriminelle Organisationen, deren Führer eine niemals endende Verantwortung tragen« für das alte System, den »Betrug an der Nation« usw. Die Verletzung der »Würde der Nation« kann gerichtlich verfolgt werden. Die Liste könnte fortgesetzt werden.

Was all das in der Praxis heißen wird, sollen einige Beispiele zeigen. Ein Waisenkind, das beispielsweise von der Tante erzogen wird, hat keine verfassungsmäßigen Familienrechte mehr. Es ist möglich geworden, gegen kritische Künstler gerichtlich vorzugehen. Der Kirchenstatus kann nun juristisch sogar der katholischen oder jüdischen Religionsgemeinschaft entzogen werden. Studienabsolventen, die sich gegebenenfalls mit Walen oder mit Polarforschung beschäftigen wollen, können ihren zukünftigen Beruf ernsthaft nicht mehr ausüben. Die parlamentarische Legislaturperiode kann auf 10, 15 oder gar 40 Jahre verlängert werden, weil - obwohl dies eindeutig gegen den Geist der ungarischen Verfassung wäre - das Verfassungsgericht den Inhalt eines Gesetzes ja nicht mehr prüfen darf. Und so weiter und so fort.

Als Staatspräsident Áder verkündete, dass es seine »eindeutige verfassungsmäßige Pflicht« sei, »die Verfassungsänderung zu unterschreiben und zu verkünden«, hatte er wohl seine Verpflichtungen als Wächter der Demokratie übersehen und damit eindeutig vom Kern der verfassungsmäßigen Funktion seines Amtes Abstand genommen. Im Ergebnis steht Ungarn seit dem 1. April mit einem als Grundgesetz verspotteten Flickwerk da, das Ergebnis einer permanenten Gelegenheitsgesetzgebung ist und in dem es von Widersprüchen nur so wimmelt, die der Verfassungsgerichtshof jetzt nicht mehr auflösen darf.

Ein Fidesz-Staatssekretär vermeldete dieser Tage im Radio, dass die neue Verfassung auf jeden Fall demokratisch sei, weil sie ja auf demokratischem Wege zustande gekommen ist. Das ist kein Aprilscherz.

Zur Abrundung des Bildes kann auch diese Meldung dienen: Der staatliche ungarische Fernsehsender Duna-TV hat neue Mitarbeiter gefunden. Die Firma heißt Dextramedia und erregte vor zwei Jahren großes Aufsehen. In dem von ihr betriebenen Internet-TV, genannt N1TV, wurde des Geburtstages Hitlers in der Nachrichtensendung unter anderen mit folgenden Worten gedacht: »Seine Partei hat 1933 bei den demokratischen Wahlen einen überwältigenden Sieg errungen. Er hat in kürzester Zeit das zugrunde gerichtete, ins Elend gestürzte Deutschland auf die Beine gestellt, wo ein beispielloser wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, moralischer und kultureller Aufschwung seinen Anfang nahm. Als Folge des Zweiten Weltkrieges bewirkte der Sieg der angelsächsischen und bolschewistischen Verbündeten den Sturz des deutschen Volkes und seines Führers. Das Andenken des vielleicht bekanntesten Politikers der Welt ist seitdem erstrangiger Zielpunkt der Hexenjagd der siegreichen Großmächte.« Viktor Orbán und sein Team haben also endlich die richtigen Medienfachleute für ihre sogenannte Revolution gefunden.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 2. April 2013


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