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Eine frömmelnde Nationalistenfibel wird Ungarns Verfassung

Parlament beschloss neues Grundgesetz mit Zweidrittelmehrheit der Regierungsparteien

Von Manfred Maurer *

Das ungarische Parlament hat am Montag eine neue Verfassung verabschiedet. 262 Abgeordnete stimmten dafür, 44 dagegen, ein Parlamentarier enthielt sich der Stimme. Die oppositionellen Sozialisten und die linke Umweltpartei LMP boykottierten die Abstimmung. Neben Regierungskritikern hatten sich auch die Europäische Union und die UNO besorgt über das Gesetzeswerk gezeigt.

Ziemlich genau ein Jahr nach dem Erdrutschsieg seiner konservativen Fidesz-Partei bei den Parlamentswahlen macht Ungarns Regierungschef Viktor Orban seine vielfach als Drohung empfundene Ankündigung wahr: Ungarn wird total umgekrempelt. Möglich macht das die Zweidrittelmehrheit, auf die sich Fidesz und ihr Koalitionspartner, die Christlich-Demokratische Volkspartei (KDNP), im Budapester Parlament stützen. Das Mediengesetz, dem nach massiven EU-Protesten zu Jahresbeginn einige wenige Giftzähne gezogen wurden, war nur der Anfang.

Jetzt kommt es richtig dick: Am Montag verabschiedete das Parlament eine neue Verfassung. Staatspräsident Pál Schmitt will sie nicht zufällig am Ostermontag unterschreiben. Denn das Grundgesetz hat viel mit Auferstehung zu tun. Es ist die in Worte gegossene Renaissance eines frömmelnden Nationalismus, der fatal an das Horthy-Regime erinnert. Der religiös verbrämte Magyaren-Chauvinismus des Hitler-Kollaborateurs Miklós Horthy quillt aus der Verfassung, an deren Formulierung ausgerechnet ein Abgeordneter des Europäischen Parlaments federführend beteiligt war: Jozsef Szajer, für die Fidesz Mitglied des EU-Parlaments, hat als Vorsitzender des ungarischen Verfassungsausschusses eigenen Angaben zufolge den größten Teil des Textes während seiner Dienstreisen auf dem iPad verfasst.

Außer dem Geburtswerkzeug ist an dieser Verfassung nichts modern. Nach der Lektüre der Präambel mit dem Titel »Glaubensbekenntnis der Nation« erwartet man auch nichts anderes mehr. Die beginnt mit dem Satz: »Gott segne den Ungarn.« Gut, auch während der Debatte über einen europäischen Verfassungsvertrag wurde von verschiedenen Seiten ein Gottesbezug oder ein Bekenntnis zu den christlichen Wurzeln Europas gefordert, doch niemals in dieser frömmlerischen Art und Weise. Und zur Religion kommt die Nation. So heißt es in der Präambel: »Wir sind stolz darauf, dass unser König, der Heilige Stefan, vor tausend Jahren den ungarischen Staat auf eine feste Grundlage gestellt hat und unsere Heimat zum Teil des christlichen Europa machte.« Danach wird noch einmal »die Kraft des Christentums bei der Bewahrung der Nation« anerkannt und das Versprechen abgegeben, »die geistige und seelische Einheit unserer in den Stürmen des vergangenen Jahrhunderts zerrissenen Nation zu bewahren«.

Der Kommentator des deutschsprachigen »Pester Lloyd« fällte ein vernichtendes Urteil: »Die Präambel ist vollkommener Nonsens mit einem gefährlich klerikal-nationalistischen Einschlag, der kein gutes Licht auf die Zukunftsfähigkeit des Landes und die Toleranz seiner Institutionen und Bürger wirft.«

Der national-religiöse Übereifer mag nicht jedermanns Sache sein, für sich genommen wären die Formulierungen der Präambel auch harmlos, fände ihr Geist nicht in den folgenden Paragrafen seinen Niederschlag. So schreibt die Verfassung auch das Prinzip fest, wonach die Familie aus Mann, Frau und Kind besteht. Die Ehe zwischen Mann und Frau wird »als Basis für das Überleben der Nation« bezeichnet. Ab 1. Januar 2012, wenn diese Verfassung in Kraft treten wird, müssen sich also Alleinerziehende, Nichtchristen, Homosexuelle und so weiter diskriminiert fühlen. Da grassiert ein Ausgrenzungsprinzip, das die Verfassung zu einem Fall für die EU machen müsste. Die vom »Pester Lloyd« formulierte Kritik ist jedenfalls ernst zu nehmen: »Es mag ja sein, dass Fidesz feuchte Träume von einer Welt voll monogamer Heteros mit drei Kindern, die Blumenkränze winden, hat, doch entspricht das nicht der Realität, mehr noch, es drängt andere Lebensentwürfe an den Rand und gefährdet sogar die rechtliche Gleichbehandlung als einen Grundsatz einer Demokratie.«

An den Bedenken ändert auch die pseudodemokratische Entstehungsgeschichte der Verfassung nichts. Acht Millionen Wahlberechtigte hatten einen Fragebogen zugeschickt bekommen, in dem sie ankreuzen konnten, was ihnen wichtig ist. So wurde gefragt, ob das neue Grundgesetz nur die Rechte der Bürger oder auch deren Pflichten verankern solle. Und ob die Staatsverschuldung Ungarns in der Verfassung begrenzt werden solle oder nicht. Inwiefern die in dieser »nationalen Konsultation« zum Ausdruck gebrachten Wünsche der Bürger tatsächlich berücksichtigt wurden, entzieht sich jeder Überprüfung. Ob sie überhaupt eine völlige Erneuerung der aus dem Jahr 1949 stammenden, aber nach 1989 reformierten Verfassung wollten, wurden die Ungarn erst gar nicht gefragt. Und sie werden auch nicht mehr gefragt. Eine Volksabstimmung wird es nicht geben.

Die oppositionellen Sozialisten (MSZP) warnten vergeblich vor einer »Diktatur«, die nicht mit Panzern, sondern mit Paragrafen abgesichert werde. Die Opposition spielt im Ungarn Viktor Orbans keine Rolle mehr. Umfragen zufolge würde Fidesz bei Wahlen auch heute wieder die Zweidrittelmehrheit holen. Die meisten Magyaren scheinen die restaurativen Züge dieser Regierung nicht zu stören. Oder sie haben das Spiel noch nicht durchschaut.

* Aus: Neues Deutschland, 19. April 2011


Verfassungsputsch

Ungarn: Parlament in Budapest verabschiedet nationalistisches neues Grundgesetz, das an faschistische Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts anknüpft

Von Arnold Schölzel **


Das ungarische Parlament verabschiedete am Montag eine neue Verfassung. Die Abgeordneten nahmen die Vorlage mit der Zweidrittel-Mehrheit der rechtskonservativen Fidesz-Partei von Regierungs­chef Viktor Orbán an; 262 Abgeordnete stimmten für, 44 gegen sie, einer enthielt sich. Ein EU-Mitgliedsland gibt sich damit einen rechtlichen Rahmen, in dem nationalistische, ethnische und religiöse Gesichtspunkte bestimmend sind. Nach eigenem Bekunden knüpfen die Urheber des Textes an die Zeit der faschistischen Diktatur (1920–1945) des »Reichsverwesers« Miklós Horthy (1868–1957) an. Er führte in Ungarn bereits 1920 ein erstes antisemitisches Gesetz ein.

»Wir haben einen historischen Moment erlebt«, erklärte Parlamentspräsident László Kövér nach der Abstimmung. »Der Text erkennt das Christentum als Grundlage unserer Zivilisation an und garantiert die moralische Freiheit«, fügte er hinzu. Nach der Abstimmung rief er die anwesenden Parlamentarier zum Singen der Nationalhymne auf. Vor dem Parlament in Budapest hatten erst am Samstag Tausende Menschen gegen die neue Verfassung demonstriert.

Die Annahme des Gesetzestextes galt bereits im Vorfeld als sicher, weil die Fidesz-Partei im Parlament über die dafür nötige Zweidrittel-Mehrheit verfügt. Die Vorlage war von ihr im Alleingang ausgearbeitet worden. Die oppositionellen Sozialisten und die linke Umweltpartei LMP boykottierten die Abstimmung. Die neofaschistische Jobbik-Partei votierte gegen die neue Verfassung.

Orbán hatte die Überarbeitung der Verfassung demagogisch damit begründet, daß der bisherige Text aus dem Jahr 1949 stamme. Tatsächlich wurde er bereits im Jahr 1989 weitgehend abgeändert. Der neue Text muß noch von Staatspräsident Pál Schmitt, einer Marionette Orbáns, unterzeichnet werden, Termin ist voraussichtlich Ostermontag. Am 1. Januar 2012 soll die Verfassung in Kraft treten.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon forderte Ungarn unmittelbar vor der Abstimmung auf, sich von internationalen Institutionen beraten zu lassen. Es gebe international Besorgnis über die Verfassung, erklärte er in Budapest. Die Regierung solle innerhalb Ungarns sowie vom Europäischen Rat und den Vereinten Nationen Empfehlungen einholen. Sie müsse sicherstellen, daß alle relevanten internationalen Vereinbarungen eingehalten würden.

Nach Ansicht von Kritikern beschneidet die neue Verfassung die Bürgerrechte und baut die Macht Orbáns unzulässig aus. Er beherrscht nach Umbildung des ungarischen Verfassungsgerichts, der Einführung eines restriktiven Mediengesetzes und der Installierung Schmitts als Staatspräsidenten de facto alle Machtstränge des Landes. Nichtregierungsorganisationen kritisierten, daß die Verfassung von einer starken »christlich-rechten Ideologie« geprägt sei, die Atheisten, Homosexuelle und Alleinerziehende benachteilige. So wird in der Präambel auf Gott und das Christentum verwiesen, das die Nation eine. Die politische Nation ist demnach identisch mit der ethnischen, d.h. nicht-ungarische Minderheiten des Landes werden als Ungarn bezeichnet. Bürger von Nachbarstaaten mit ungarischer Herkunft erhalten in Ungarn Wahlrecht. Ein neu eingerichteter Haushaltsrat der Zentralbank erhält das Recht, das Parlament aufzulösen, wenn der Haushalt nicht entsprechend den Normen der neuen Verfassung verabschiedet wurde, d.h. Orbán kann über diese Institution Neuwahlen herbeiführen, auch wenn er bei den Wahlen 2014 verlieren sollte. Die Opposition wertete das als »Verfassungsputsch«.

** Aus: junge Welt, 19. April 2011


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