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Viktor Orbáns wahrer Systemwechsel

Ungarns Regierung flüchtet sich in Geschichtsrevisionismus

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Nachdem der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán durch ein Ultimatum von EU und Internationalem Währungsfonds in zentralen Fragen seiner Politik zum Rückzieher gezwungen worden ist, versucht er neue politisch-taktische Wege einzuschlagen. Unter anderem äußert sich das in der unübersehbaren Wucherung einer Art Symbolpolitik.

Eine Welle von Umbenennungen öffentlicher Straßen und Plätze überschwemmt Ungarn, vor allem die Hauptstadt Budapest. In einer ersten Etappe waren 26 Bezeichnungen betroffen. Der zentrale Verkehrsknotenpunkt von Buda wurde vom Moszkva-Platz (Moskauer Platz) zum Széll-Kálman-Platz umgetauft. Kálmán Széll war einer der reaktionärsten Innenminister der ungarischen Geschichte. Aus dem Platz der Republik wurde der Johannes-Paul-II.-Platz. Widerstandskämpfer des Zweiten Weltkriegs, die auch nur entfernt mit der politischen Linken zu tun hatten, wurden von den Straßenschildern getilgt.

Das Umschreiben der Vergangenheit ist für die ungarische Bevölkerung freilich nichts Neues, es geschieht seit Langem alle ein bis zwei Jahrzehnte, auch wenn es sehr viel Geld kostet: Neue Personalausweise, Straßentafeln, Stadtpläne, Kopfbogen und Briefumschläge belasten Ämter und Unternehmen. Die offizielle Begründung der jüngsten Neuerungswelle lautet: »In historischen Zeiten werden öffentliche Plätze in der Regel umbenannt, und der eigentliche Systemwechsel wird derzeit unter Viktor Orbán endgültig vollbracht.«

Aufregung löste jedoch die Aufstellung einer Skulptur des ungarischen »Reichsverwesers« Miklós Horthy in der südwestungarischen Kleinstadt Kereki aus. Horthy war 1920 vom ungarischen Parlament für die »Übergangszeit« bis zur Wiedererlangung der Krone durch die Habsburger als Stellvertreter des Kaisers bestellt worden. Er ordnete unter anderem die blutigste Treibjagd auf Kommunisten in der ungarischen Geschichte an und erklärte während des Zweiten Weltkriegs den USA und der Sowjetunion den Krieg. So marschierte parallel mit der deutschen Wehrmacht auch die ungarische Armee in sowjetisches Gebiet ein. Horthy sah außerdem als Hitlers letzter Verbündeter zu, wie binnen weniger Wochen 400 000 ungarische Juden aus dem ganzen Land nach Auschwitz deportiert wurden. Erst als die Budapester jüdische Bevölkerung an die Reihe kam, schritt er ein. Die Budapester Juden hielt Horthy für assimilierter als die aus der Provinz.

Zwei Tage nach der feierlichen Enthüllung in Kereki wurde die Statue von einem Anwalt namens Péter Dániel mit roter Farbe begossen. Dafür droht ihm nun eine Gefängnisstrafe und von Seiten der rechtsradikalen Gruppierung Goj-Rocker - »goj« ist ein jüdischer Begriff für Nichtjuden - eine nicht genauer dargelegte radikalere Lösung: »Diese Notsituation werden wir schneller bereinigen als das Gericht.« Horthy-Gedenktafeln und -Statuen sind auch andernorts geplant, in Gyömrő bei Budapest wurde der »Freiheitsplatz« bereits in »Horthy-Platz« umbenannt.

Eine weitere Burleske entwickelte sich um die geplanten Umbettung der sterblichen Überreste des 1953 in Spanien verschiedenen faschistischen ungarischsprachigen Schriftstellers József Nyírő. Das Begräbnis soll nämlich in Rumänien stattfinden, weil Nyírő Siebenbürger war. Die Zeremonie, bereits für Pfingsten vorgesehen, war gemeinsam vom Budapester Parlamentsamt und einer Stiftung für die siebenbürgische Stadt Odorheiu Secuiesc, ungarisch Székelyudvarhely, vorbereitet worden. Das Begräbnis musste jedoch verschoben werden, weil die rumänischen Behörden ihre Erlaubnis zurückzogen und »sportlich aussehende« Herren den Friedhof in Székelyudvarhely bewachten. Wenig später bezeichnete Ungarns Parlamentspräsident László Kövér, der in Sachen rumänischer Wahlkampf als Privatperson in Székelyudvarhely unterwegs war, das Verhalten der Rumänen als »unzivilisiert und barbarisch«. Der rumänische Ministerpräsident Victor Ponta erklärte daraufhin, Rumänien unterstütze es nicht, dass antirumänische und antisemitische Persönlichkeiten, die mit dem Faschismus sympathisierten, öffentlich gefeiert werden. Man erwarte eine Entschuldigung und mehr Zurückhaltung ungarischer Privatreisender im rumänischen Wahlkampf. Die Budapester Regierung verwahrte sich umgehend gegen die »Politisierung« einer Angelegenheit der Pietät.

Die rumänische Polizei hatte den Vertreter der Budapester Organisatoren übrigens auf seinem Weg nach Székelyudvarhely kontrolliert und in seinem Gepäck eine leere Urne gefunden. Wo sich Nyírős Asche befindet, ist bis heute unklar.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 12. Juni 2012


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