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"In Granit gemeißelt"

Ungarns Wähler unterliegen jetzt der Registrierungspflicht

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Die Umgestaltung des ungarischen Wahlgesetzes zugunsten der Regierungspartei Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) hat diese Woche im Parlament ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Nach zahlreichen manipulativen Änderungen des Wahlrechts wurde nun eine Registrierungspflicht für alle ungarischen Staatsbürger eingeführt.

Wer sich bis spätestens zwei Wochen vor den nächsten Wahlen zum ungarischen Parlament nicht eigenhändig für die Abstimmung registriert, darf in den folgenden vier Jahren, also weder bei den Kommunal- noch bei den EUWahlen, seine Stimme abgeben.

Diese Registrierungsidee war in Ungarn von Anfang an unpopulär. Nach der Umfrage des treffsichersten Meinungsforschungsinstituts Median sind 80 Prozent der Bevölkerung gegen eine solche Pflichtregistrierung, sogar die Mehrheit der Fidesz-Wähler.

Bislang hatte Fidesz daher immer wieder angekündigt, beim Verfassungsgerichtshof vorab eine Normenkontrolle einzuholen. Doch nun, fast könnte man meinen wie ein kleines Kind, das weiß, dass es Böses tut, haben die Abgeordneten der Regierungspartei mit ihrer Zweidrittelmehrheit hemmungslos das erst in diesem Jahr in Kraft getretene Grundgesetz gleich mit geändert, um das neue Wahlgesetz vor Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof zu schützen. Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass die im Alleingang von der Regierungsmehrheit beschlossene, mit den Worten des Ministerpräsidenten Viktor Orbán »in Granit gemeißelte« Verfassung geändert wurde, nur weil es den Augenblicksinteressen der Regierung zupass kam.

Abgeordnete der kleinsten Parlamentspartei, der grünen LMP (Eine Andere Politik ist Möglich), ließen nach der Abstimmung im Parlament am Montag dieser Woche minutenlang blaue Zettel von der Galerie herunterflattern. Das war eine Anspielung auf die Wahlen 1947, als eine Stimmabgabe außerhalb des Wohnsitzes unter Vorweisen eines blau gefärbten Namensregisterauszuges möglich war. Aktivisten der kommunistischen Partei sollen damals mit Hilfe dieser sogenannten »Blauzettel « im Durchschnitt 15 bis 20 Mal gewählt haben. Dadurch konnten sie an die Macht gelangen, und die stalinistische Ära in Ungarn nahm ihren Anfang.

Das Fidesz-Lager begründet die Einführung der verpflichtenden Vorregistrierung mit zwei Hauptargumenten. Das erste gehört zur Kategorie Bla-Bla: Die Registrierung stärke die Demokratie durch aktive Bürgerbeteiligung, erweitere den Kreis der Wahlteilnehmer, mache die Teilnahme an den Wahlen einfacher und alles billiger. Tatsächlich ist bei allen diesen Aussagen das Gegenteil wahr.

Die zweite Erklärungsvariante ist ein schönes Beispiel für den grenzenlosen Zynismus Orbáns und seiner Leute. Da ist einmal die geschichtswissenschaftlich gewiss einwandfreie Erörterung, dass nach dem Zweiten Weltkrieg der Weg zum quantitativen Wahlsystem beschritten worden sei und es nunmehr an der Zeit sei, ein qualitatives Wahlsystem einzuführen. Außerdem hat Lajos Kósa, eine der grauen Eminenzen des Fidesz, offen erklärt, dass es nicht richtig sei, wenn ungebildete Menschen, sprich Roma, zur Wahl gehen, und die Gesellschaft auch deshalb die verpflichtende Vorregistrierung brauche. Damit ist Fidesz ganz bei der rechtsradikal-faschistoiden Jobbik-Partei, die das Wahlrecht an den Nachweis des erfolgreichen Grundschulabschlusses binden möchte.

Die nächste Gesetzänderung ist auch schon absehbar. Der frühere Ministerpräsident, der parteilose Gordon Bajnai, der unlängst sein politisches Comeback in den Farben seiner Stiftung »Heimat und Fortschritt« ankündigte, bereitet Orbán und seinen Strategen offenkundig Kopfzerbrechen. Also ist zu hören, dass bereits eifrig an einem Gesetz gebastelt wird, das Vereine und Vereinigungen von den Wahlen ausschließt.

Mit diesem Streich kann Fidesz mehrere Fliegen mit einer Klappe treffen. Denn Milla (Eine Million für die ungarische Pressefreiheit), Solidarität (eine Art Gewerkschaft) und andere zivilgesellschaftliche Organisationen wollen in Gestalt eines Zusammenschlusses bei den nächsten Wahlen im Frühjahr 2014 gegen Fidesz antreten. Und weil ein Verbot eines solchen Zusammenschlusses eindeutig verfassungswidrig wäre, ist auch schon die nächste Änderung des in Granit gemeißelten ungarischen Grundgesetzes programmiert.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 01. November 2012


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