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Gyurcsány hofft auf stille Koalitionäre

Ungarn wird jetzt von einem Minderheitskabinett mit zweifelhaften Aussichten regiert

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Seit dem 1. Mai regiert in Ungarn eine sozialdemokratische Minderheitsregierung. Der liberale Bund Freier Demokraten (SzDSz) ist, wie vor einem Monat angekündigt, fahrplangemäß aus der Koalition ausgetreten.

Grund des Austritts der Freidemokraten war die Amtsenthebung ihrer Gesundheitsministerin Ágnes Horváth nach dem für die Regierung niederschmetternden Volksentscheid über die eben erst eingeführten Arztbesuchs- und Krankenhausgebühren. Der sozialistische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány hatte die Entlassung Horváths ohne Absprache mit dem SzDSz verfügt und sich darauf berufen, dass Reformen ohne die Unterstützung der Gesellschaft eben doch nicht durchführbar seien.

Minderheitsregierungen hat es in Ungarn bisher nicht gegeben. Doch nicht alleine deshalb ist das Schicksal dieser Regierung unvorhersehbar. In den vergangenen 18 Jahren hat sich im Parlament am Budapester Donauufer keinerlei Konsenstradition entwickelt. Im Gegenteil, die Parteien haben im Laufe der Jahre einen zunehmend konfrontativen Kurs gesteuert. Dies gilt in besonderem Maße für die gegenwärtige große Oppositionspartei, den rechtspopulistischen Fidesz (Bund Junger Demokraten). Unter der Führung des ehemaligen Regierungschefs Viktor Orbán konzentriert sich die Partei seit einiger Zeit auf eine höchst kindisch-lächerliche Politik des Symbolischen. Dabei rutschen die Rechtspopulisten manchmal sogar unter das Niveau ihres italienischen Freundes Silvio Berlusconi. So verlassen die Fidesz-Abgeordneten seit zwei Jahren jedes Mal, wenn der sozialistische Ministerpräsident das Wort ergreift, kollektiv den Saal mit der Begründung, dass Ferenc Gyurcsány ein Lügner und seine parlamentarische Macht folglich illegitim sei.

Aber auch die aus der Regierung ausgetretenen Freidemokraten sind seit längerer Zeit auf Konfrontationskurs. Es war und ist in erster Linie ihre rasant schwindende Popularität, die sie veranlasst, demonstrativ auf ihr eigenes Profil zu pochen. In der in Ungarn vorherrschenden politischen Kultur ist ihnen dabei kein anderer Weg in den Sinn gekommen, als immer wieder innerkoalitionäre Spannungen anzuzetteln. Die Sozialisten haben die ihnen dabei zugedachte Rolle allzu oft wie ein gefügiges Schaf gespielt.

Das Ungarische Demokratische Forum (MDF), die erste große Regierungspartei nach der Wende von 1990, die bei den letzten Wahlen die Fünfprozenthürde nur mit knapper Not genommen hatte, lässt derzeit verlauten, dass sie mit den Sozialisten weder jetzt noch in Zukunft zusammenarbeiten wolle. Und die fünfte parlamentarische Kraft, die erzkonservative Christdemokratische Volkspartei, darf als zwergenhafte Marionette des Fidesz betrachtet werden.

Eigentlich kann unter diesen Umständen mit einer stabilen Minderheitsregierung der Sozialistischen Partei (MSzP) nicht gerechnet werden. Ein jähes Ende des Minderheitsregierens mag jederzeit ins Haus stehen. Allerdings wäre eine vorgezogene Parlamentswahl ausschließlich im Interesse des Fidesz, der bei Wahlen derzeit womöglich sogar im Alleingang eine Zweidrittelmehrheit erreichen könnte. Für den Bund Freier Demokraten, die treibende Kraft der gestoppten unpopulären neoliberalen Gesundheitsreformen, wären baldige Wahlen mit Sicherheit eine Katastrophe. Das ehemalige Flaggschiff des vor 20 Jahren begonnenen Systemwechsels geht den Weg vieler zentralund osteuropäischer Schicksalsgefährten und scheint kurz davor zu stehen, in der politischen Versenkung zu verschwinden. Nach einstimmiger Meinung aller seriösen Forschungsinstitute könnte der SzDSz derzeit maximal mit 1,5 Prozent der Wählerstimmen rechnen. Auch das MDF spekuliert ganz gewiss nicht dringlich auf einen vorgezogenen Wahlkampf, und die Sozialisten befinden sich auf einem historischen Tiefpunkt ihrer Popularität.

Aus diesem Grund, und weil in der Hauptstadt Budapest der freidemokratische Oberbürgermeister Gábor Demszky die Unterstützung der Sozialisten benötigt, hofft Gyurcsány auf stille Unterstützung durch den ehemaligen Koalitionspartner. Doch bleibt abzuwarten, ob bei allen Beteiligten die politische Vernunft des parlamentarischen Stillhaltens oder die tief sitzende, in der gegebenen Situation zerstörerische Streit- und Kampfeslust die Oberhand gewinnt.

Wie Premier Gyurcsány schon unmittelbar nach dem Volksentscheid angekündigt hatte, möchte er den neuen Regierungskurs etwas stärker nach links orientieren. Am 1. Mai, Festtag der Arbeit und der Linken, tat er sein neues zweijähriges Regierungsprogramm kund. Er versprach, dass in diesem Jahr Löhne und Pensionen endlich wachsen werden. Als wichtigste Aufgabe nannte er das Schaffen von Arbeitsplätzen. Die Ungarn konnten sich am Festtag der Arbeit ganz als Bürger und Bürgerinnen der Europäischen Union fühlen. Gyurcsánys Rhetorik unterschied sich in nichts von den Reden jedes beliebigen durschnittlichen Regierungschefs in der Union.

* Aus: Neues Deutschland, 3. Mai 2008


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