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Die Erben Horthys

Bernhard Odehnal über die rechte Gefahr, Antiziganismus und Antisemitismus in Osteuropa *


Bernhard Odehnal, Jg. 1966, studierte Slawistik und arbeitet als Korrespondent in Osteuropa für diverse österreichische Zeitungen. Auf der Leipziger Buchmesse stellte er sein gemeinsam mit Gregor Mayer verfasstes Buch »Aufmarsch. Die rechte Gefahr aus Osteuropa« (Residenz Verlag, 297 S., geb., 21,90 €) vor. Karlen Vesper sprach für das Neue Deutschland (ND) mit dem Journalisten.



ND: Sie diagnostizieren eine bedrohliche rechte Gefahr in Osteuropa. Woher kommt diese?

Odehnal: Das hat mit dem Verlust von Identitäten nach 1989 zu tun. Und mit der Angst vor dem großen neuen Europa. Man befürchtet, die eigene Stimme zu verlieren, geschluckt zu werden. Das ist vor allem stark bei den Slowaken zu registrieren, die sich als Nation wieder neu finden mussten, deren Staat 1993 neu entstanden ist.

Aber die EU-Kommissare sind doch keine Metternichs und Josephs, die nur im Interesse des Kernlandes respektive der Kernländer des Imperiums denken und handeln? Oder doch?

Wir müssen nicht so weit zurückgehen. Zuerst war da natürlich das Trauma jahrhundertelanger Habsburger-Herrschaft. In Tschechien und in der Slowakei wirkt auch das Jahr 1948 nach, der Sturz der Beneš-Regierung und die Etablierung eines kommunistischen Systems durch den »großen Bruder« im Osten. Bei den Tschechen kommt die Besetzung des Landes 1939 durch die Nazis hinzu; den Slowaken war ein Marionettenregime von Hitlers Gnaden aufgedrängt worden. Diese Völker waren also in den letzten Jahrhunderten fast durchgehend fremd bestimmt. Da ist die Angst vor neuerlichen Souveränitätsverlusten verständlich. Deshalb haben wir hier, aber auch in Ungarn und Bulgarien, eine starke Rückbesinnung auf nationale Identitäten. Und diese Tendenz wissen rechte Parteien für sich zu nutzen.

Heißt das, die rechte Gefahr nährt sich vornehmlich von negativen historischen Erfahrungen? Keine sozialen Ursachen?

Doch. Die moralische Krise ist nur eine Seite der Medaille. Unsere östlichen Nachbarn betreffend sind wir einer Illusion aufgesessen. Wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten immer nur auf das dortige Wirtschaftswachstum geschaut. Die Kurve wies nach oben. Unser Trugschluss war: Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es auch den Menschen gut. Doch dem ist nicht so. Der Neoliberalismus, einhergehend mit Privatisierungen auch im öffentlichen Sektor, zeitigte gravierende soziale Folgen.

Bis vor etwa zwei Jahren ging es der Mehrheit der Osteuropäer noch gut. Die Mittelschicht wurde stärker bzw. hat sich erst etablieren können. Die Menschen in den osteuropäischen Ländern wollten auch nach westlichen Standards leben, ein eigenes Haus besitzen und ein großes Auto fahren. All das hat das neue Europa ihnen versprochen, und diese Versprechen wurden auch großteils eingehalten. Und jetzt brach die Wirtschaftskrise über sie herein, und sie erkannten, sie sind nicht gefeit vor neuen Einbrüchen. Die westlichen Firmen, die Arbeitsplätze gebracht oder gesichert haben, ziehen auf einmal wieder weiter, bauen ihre Fabriken ab und in China wieder auf. Die Angst vor sozialem Abstieg grassiert. Eine starke Verunsicherung macht sich breit. Autoritäre Sehnsüchte wachsen. In Zeiten der Unsicherheit fischen die Rechten.

Mit dem alten Feindbild, »Sündenbock Jude«?

Primär richtet sich die rechte Propaganda gegen die Roma.

Tradierter Antiziganismus?

Auch, aber nicht nur. Es gibt auch einen neuen Antiziganismus, der sehr viel mit der heutigen sozialen Lage der Roma zu tun hat. In den letzten Jahren sind wieder Ghettos entstanden. Im Sozialismus hat man das »Romaproblem« gelöst, in dem man ihnen Neubauwohnungen zugewiesen und sie in Jobs gebracht hat. Diese Jobs sind nach der Wende als erste verloren gegangen, denn sie waren in der alten Industrie angesiedelt, die großteils verschwand. Plötzlich standen die Roma wieder auf der Straße.

Der Wohlstand der Mittelschicht ist auf Kosten der Roma gewachsen. Das sieht man z. B. in Prag, in jenen Quartieren, wo die Roma billige Wohnungen hatten. Plötzlich wurde es – ähnlich wie im Prenzlauer Berg in Ostberlin – schick, in diesen Vierteln zu wohnen. Private Immobilienfirmen haben Häuser und Grundstücke aufgekauft. Als erste wurden die Roma exmittiert. Diese hat man dann nach Nordböhmen in Plattenbauten verfrachtet, so in die Kleinstadt Litvínov am Fuße des Erzgebirges. In diesen Plattenbauten gab es früher eine gemischte Mieterschaft. Das hat dort einigermaßen funktioniert. Aber mit dem Zustrom von Roma, vor allem verarmter aus der Slowakei, die schließlich bis zu 80 Prozent der Mieter ausmachten, kippte das soziale Gleichgewicht.

Was die Rechten nutzten.

Ja, sie sind dorthin marschiert und haben den Alteingesessenen verkündet: »Wir helfen euch.« Die Leute dort hatten das Gefühl: Da kommt jemand, der schaut und kümmert sich um uns. Die Regierung hat ja weggeschaut.

Und wie ging die Sache aus?

Es endete in einer Straßenschlacht. Am 17. November 2008, am »Tag des Kampfes für Freiheit und Demokratie«, Feiertag in Tschechien in Erinnerung an die große Demonstration 1989, marschierten 1000 Rechtsextreme in Litvínov ein. 1000 Polizisten traten ihnen entgegen. Die Zeitungen schrieben von bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Erst jetzt begann sich die Regierung in Prag für das Problem zu interessieren. Die katastrophale Botschaft für die Bevölkerung war: Es müssen erst die Rechten kommen und Druck machen, ehe etwas passiert.

Auch in Ungarn ziehen die Rechten gern provozierend durch Roma-Viertel.

Und nicht nur das, es kommt zu Übergriffen. In Tatár-szentgyörgy, einer Kleinstadt, wurde in der Nacht vom 22. zum 23. Februar 2009 ein Brandsatz auf das Haus einer Roma-Familie geworfen. Dabei kamen der 27-jährige Familienvater und sein fünfjähriger Sohn um. Dieser Doppelmord war Teil einer rassistischen Verfolgungsserie, der insgesamt sechs Roma zum Opfer fielen.

Die ungarische Rechte ist vor allem wegen ihres militanten Antisemitismus berüchtigt.

Ja, während der Antiziganismus in allen Ländern gleich stark ist, ist der Antisemitismus unterschiedlich ausgeprägt. In Tschechien gibt es keinen starken Antisemitismus. Ganz anders ist es in der Slowakei und vor allem in Ungarn.

Die rechtsextreme ungarische Partei Jobbik bedient sich ganz offen antisemitischer Klischees. Damit hat sie bei den Europawahlen im vergangenen Jahr 15 Prozent der Stimmen erlangt und drei Abgeordnete ins EU-Parlament entsenden können. Man geht davon aus, dass sie bei den bevorstehenden Parlamentswahlen in Ungarn 20 Prozent auf sich vereinigt Laut Umfragen könnten sie in Ostungarn sogar 30 Prozent erlangen.

Jobbik gibt eine Wochenzeitung namens »Barikad« heraus. Jüngst war auf deren Titelseite eine Fotomontage abgebildet, die den Heiligen Gellért, Stadtpatron von Budapest, zeigte. In der rechten Hand hielt er statt des Kreuzes die Menora, den siebenarmigen jüdischen Leuchter, und darunter stand: »Wollen wir das? Budapest erwache!« Das ist offen antisemitisch und eine unverkennbare Anknüpfung an die Losung der Nazis: »Deutschland erwache!«

Gibt es denn keinen Paragrafen der Völkerverhetzung?

Es gibt Verhetzungsparagrafen, aber niemanden, der diese auch wirklich durchsetzt. Die Ungarische Garde ist formal verboten, und doch kann sie bei Veranstaltungen der Jobbik aufmarschieren. Die Leugnung des Holocaust wurde erst vor vier Wochen per Verordnung unter Strafe gestellt.

Ungarns Konservative haben in Jobbik jetzt einen ernsthaften Konkurrenten bei den Wahlen.

Ja. Das ist das klassische Problem des Zauberlehrlings. Die Konservativen haben mit Jobbik operiert, und erst jetzt, wo sie zu einer Konkurrenz werden, geht Viktor Orbán etwas auf Distanz und versucht, vom rechten Rand wegzukommen und wieder mehr in die Mitte zu stoßen. Seine FIDESZ wird bei den Wahlen im April sicherlich die Mehrheit bekommen. Die Frage ist nur, werden die Konservativen eine Zweidrittelmehrheit erlangen, um die von ihnen angestrebten Verfassungsänderungen durchzusetzen? Wenn nicht, werden sie die Jobbik brauchen. Und die wollen das ganze politische System umkrempeln.

Wie stark wirkt noch die historische Altlast nach – der Horthy-Faschismus und die Pfeilkreuzler?

Sehr stark. Das fängt mit der Symbolik an, mit den Uniformen. Die formal verbotene und doch weiterhin öffentlich auftretende Garde trägt die alten schwarz-weißen Uniformen und die alte ungarische Fahne. Man bezieht sich unverhohlen auf faschistische Zeit.

Beängstigend ist vor allem auch, dass die Konservativen sich nicht mit der faschistischen Vergangenheit ernsthaft auseinandersetzen. Orbán hatte kurz vor seiner Abwahl 2002 eine mit mehreren Milliarden Forint ausgestattete multimediale Totalitarismus-Gedenkstätte in Budapest einrichten lassen. Das »Haus des Terrors« behandelt zu 90 Prozent die kommunistische und nur zu zehn Prozent die faschistische Herrschaft und verwischt absichtlich die Unterschiede. Die Botschaft ist: »Wir waren Opfer zweier Diktaturen.« Zudem von außen aufgezwungen: von Deutschland und der UdSSR.

Hinzu kommt in Ungarn das ungebrochene Trauma von Trianon. Dieser Friedensvertrag von 1920 war Teil des Vertragswerkes, das den Ersten Weltkrieg formal beendete. Ungarn, das auf der Seite der Entente gekämpft hatte, verlor zwei Drittel seines Territoriums. Das ist unvergessen und wird von den Rechten immer wieder beschworen.

Ähnlich wie in Deutschland der »Schandfrieden von Versailles« beschworen worden war?

Ja, aber wenn man heute in Deutschland Jugendliche nach dem Versailler Vertrag fragt oder in Österreich junge Leute nach Saint-Germain 1919, wird man keine großen Emotionen auslösen. In Ungarn jedoch kennt jeder Trianon. Die Leute rennen mit T-Shirts rum, auf denen die Umrisse von Großungarn zu sehen sind und der Slogan »Nem, nem shoha!« Jeder in Ungarn weiß, was mit diesem »Nie, nie wieder« gemeint ist.

Budapest wollte den Auslandungarn auch schon die ungarische Staatsbürgerschaft geben, das ist am Referendum gescheitert – wegen zu niedriger Wahlbeteiligung. Man wird es jetzt wieder versuchen. Jobbik wird darauf drängen. Das löst in den Nachbarländern große Sorge aus. Der ungarische Nationalismus befördert den dortigen Nationalismus. Da braut sich ein starker Konflikt zusammen.

Was kann Europa tun?

Sanktionen sind nicht der richtige Weg. Sie stärken immer die Isolationisten und Nationalisten. Im Moment ist es ganz wichtig, dass man überhaupt nach Osteuropa schaut, viel mehr den Dialog sucht, die Osteuropäer stärker einbindet. Die Menschen dort wissen zwar, sie gehören jetzt zur EU, aber fühlen sich nicht ganz dazu gehörig. Sie glauben, sie würden als der östliche Rand nicht für voll, nicht ernst genommen Das löst Frustrationen aus. EU-Politiker sollten sich dort öfters sehen lassen und die konstruktiven Kräfte unterstützen. Um so den Rechten den Boden für ihre nationalistische und rassistische Propaganda zu entziehen.

* Aus: Neues Deutschland, 8. April 2010


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