Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Orban und die "vierte Macht"

Der "Freiheitskampf" der ungarischen Regierung für saubere Medien nach ihrem Geschmack kollidiert mit der EU-Ratspräsidentschaft

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Der geschäftsführende belgische Ministerpräsident Yves Leterme hat am Donnerstag feierlich die EU-Ratspräsidentschaft an seinen ungarischen Amtskollegen Orbán übergeben. Ungarn hatte den Vorsitz in der Europäischen Union formell zu Jahresbeginn übernommen. Im Streit über das neue ungarische Mediengesetz hat die Regierung des Landes ein mögliches Einlenken angedeutet. Als Mitglied der Europäischen Union werde sein Land eine eventuelle Überprüfung des Gesetzes durch Brüssel akzeptieren, sagte Orban am Donnerstag (6. Jan.).

Lange hat es so ausgesehen, als würde die EU-Führung sich selbst treu bleiben und unnötige Störungseffekte gegenüber der beginnenden ungarischen Ratspräsidentschaft vermeiden, damit die Geschäfte des vereinigten Teils des Kontinents nicht stillstehen. Der britische »Observer« hat noch am 2. Januar in einem Artikel mit dem Titel »Wer will sich dem Hass in Ungarn entgegenstellen?« berichtet, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán habe hinter den Kulissen mit den EUTechnokraten eine Art Stillhalteabkommen ausgehandelt. Demnach wolle die EU nicht zu genau nachsehen, wie es um die Demokratie in Ungarn bestellt sei und Orbán erlauben, während der Ratspräsidentschaft den tollen Kerl zu spielen, solange dieser im Gegenzug in diesem Halbjahr Brüssel in wirklich wichtigen Fragen nicht ins Handwerk pfusche.

Doch nun scheint es, als ob sich die ungarische EU-Ratspräsidentschaft doch etwas holpriger gestalten könnte. Die sogenannte vierte Macht, nämlich die Presse in Ungarn wie im Ausland, lässt einfach nicht locker. In Ungarn erschienen am ersten Arbeitstag des neuen Jahres wichtige sozialdemokratische und liberale Tageszeitungen aus Protest mit weißen Titelseiten oder, so etwa die linksliberale Tageszeitung »Népszabadság«, einzig mit dem Spruchband »In Ungarn wurde die Pressefreiheit aufgehoben« in allen EU-Sprachen auf der Titelseite.

Auch international hagelt es von Seiten der Medien mittlerweile Kritik, und der Ruf nach einem Eingreifen durch die EU wird hier – anders als in den genannten ungarischen Zeitungen – ganz unverhohlen laut. All dies aber schien Orbán bislang wenig zu stören. Zumindest innenpolitisch kann er auf jeden Fall damit rechnen, dass das Wasser der nationalistischen Verteidiger der ungarischen Souveränität desto stärker auf seine politischen Mühlen strömt, je lauter von Seiten der politischen Gegner der Ruf nach EU-Intervention erschallt.

Dies hängt mit drei politischen Faktoren zusammen. Erstens hat Ungarn als wirtschaftlich und politisch schwächeres Land nicht erst zu EU-Zeiten, sondern während des ganzen 20. Jahrhunderts die Erfahrung machen müssen, dass die Souveränität des Landes nur auf dem Papier besteht. Zweitens rufen liberal-freiheitliche Kräfte tatsächlich immer wieder nach politischer und wirtschaftlicher Intervention von außen, um ihre innenpolitische Schwäche auszugleichen. Und drittens nutzen nationale und rechtsradikale Kräfte diese Probleme gekonnt dafür aus, ihre Angriffe auf die liberal-freiheitlichen politischen Gegner im eigenen Land als Kampf um ein freies Ungarntum zu verkaufen, das sich gegen eine internationale Verschwörung von Liberalen, Bolschewiken und Juden wehren kann und muss. Genau diese Mischung steckt auch in den jüngsten Angriffen auf EU, Konzerne und heimische Liberale und Linke in der regierungsnahen Presse (ND berichtete). Für eine linke Kritik von grenzüberschreitenden ungleichen ökonomischen und politischen Beziehungen bleibt in Ungarn unter diesen Bedingungen wenig Platz.

International die EU-Führung gerät in Sachen Mediengesetz mit alledem verstärkt unter Druck. Während es der Ständige EU-Ratspräsident Herman van Rompuy einen Tag nach der Verabschiedung des ungarischen Mediengesetzes nicht einmal der Mühe wert befand, die Angelegenheit in Budapest auch nur anzusprechen, klang EU-Kommissionspräsident José Manuel Durao Barroso zwei Tage vor seinem offiziellen Treffen mit Orbán anlässlich der offiziellen Übernahme der Ratspräsidentschaft am heutigen Freitag (7. Jan.) schon etwas anders. Er bezeichnete die Pressefreiheit als »heilig« und hat die »Zweifel« seiner Behörde an der Konformität des ungarischen Gesetzes mit dem EU-Recht bekräftigt. Ein Vertragsverletzungsverfahren ist aber, wie es aussieht, in weiter Ferne. Die EU verlangt erst einmal eine Übersetzung des Gesetzestextes, die die ungarische Regierung prompt geliefert hat.

Dabei kam es aber zu einigen kleinen Schönheitsfehlern. Die amtlichen Übersetzer haben nämlich wichtige Paragraphen ausgelassen, laut offizieller Begründung deswegen, weil diese Kürzungen das Verständnis des Gesetzes nicht beeinflussen und deshalb zu einem späteren Zeitpunkt nachgeliefert werden. Auf der Website des zuständigen Ministeriums kann sich der interessierte Leser in englischer Sprache auch jetzt noch nur über Prinzipien der sogenannten neuen »Medienverfassung« des Landes informieren, das Gesetz selber findet sich dort nicht.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Januar 2011


Zurück zur Ungarn-Seite

Zur Medien-Seite

Zur EU-Europa-Seite

Zurück zur Homepage