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Die Mörder kamen spät – und hatten es eilig

Ladislaus Löb über den Holocaust in Ungarn und den Judenretter Rezsö Kasztner


Eine schier unglaubliche Geschichte erzählt Ladislaus Löb: die Rettung von 1669 Juden aus den Klauen des Judenmörders Adolf Eichmann. Gelungen ist dies Rezsö Kasztner. In seinem Buch »Geschäfte mit dem Teufel« (Böhlau, 277 S., 24,90 €) vereint Löb Kindheitserinnerungen mit einer Hommage an einen verkannten Helden. Mit dem emeritierten Germanistikprofessor von der University of Sussex in Brighton sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Karlen Vesper.

ND: Herr Professor Löb, Sie sind 1933 geboren worden – am 8. Mai.

Löb: Ja, um 12 Uhr mittags, in der Hauptstadt Siebenbürgens, ungarisch Kolozsvár, rumänisch Cluj, deutsch Klausenburg.

Das Jahr 1933 und der 8. Mai 1945 sind zwei nicht nur für deutsche Geschichte besondere Daten.

Sie markieren den Anfang und das Ende der Hitlerbarbarei.

Hat Ihnen die Datenkonstellation Ihres Geburtstages manchmal zu denken gegeben?

Ich bin kein Zahlenfetischist. Am 8. Mai 1945 wurde ich zwölf Jahre alt. Ich glaubte, die ganze Welt feiert meinen Geburtstag. Ich war gerettet, befand mich in der Schweiz, in Bex, in einem Heim der Jugend-Alijah, wo wir Kinder für die Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden. Wir haben Fußball gespielt. Und dann kam ein Erwachsener und hat gesagt: »Der Krieg ist vorbei.« Wir sagten: »Das ist schön.« Und spielten weiter. Der Fußball war uns in dem Moment wichtiger.

Haben Sie sich später wie viele Holocaust-Überlebende gefragt: Wieso blieb gerade ich am Leben?

Nein. Das ist eine Frage, die man einfach nicht beantworten kann. Meine Vernunft sagt mir: Ich habe Glück gehabt. An dem, was geschehen ist, war ich nicht schuld.

Dass Sie überlebten, verdankt sich zunächst dem Mut und Erfindungsreichtum Ihres Vaters.

Ja, obwohl er ein einfacher Mann war. Er war nicht gebildet, aber gescheit. Als es für uns Juden immer bedrohlicher wurde, vor allem nach der deutschen Besetzung Ungarns am 19. März 1944, hat er nicht untätig abgewartet, was geschehen wird, sondern Auswege, Schlupflöcher gesucht.

Meine Mutter ist gestorben, als ich neun war. Mein Vater ist im Ersten Weltkrieg von einem Dumdumgeschoss getroffen worden. Für uns sollte sich dies später als Segen erweisen. Nach dem Judengesetz von 1938 galt ein jüdischer Kriegsveteran mit 75-prozentiger Invalidität nicht mehr als Jude, musste nicht den Gelben Stern tragen und wurde nicht ghettoisiert. Mein Vater war 50-prozentig invalid. Im Mai 1944 mussten sich alle Juden aus Klausenburg und Umgebung, 18 000 Menschen, ins Ghetto begeben, in eine stillgelegte Ziegelfabrik. Von hier aus sollten wir nach Auschwitz deportiert werden. Mein Vater bestach einen Polizisten, ihn aus dem Ghetto zu lassen. Auf seinem Invaliditätsausweis hatte er aus der 50 eine 75 gemacht. In der Stadt fand er einen Beamten, der ihm eine offizielle Kopie des gefälschten Ausweises ausstellte. Auf der Kopie sahen die »75 Prozent« so koscher aus, als ob sie von Moses selbst stammten.

Aber Sie waren nicht auf ewig sicher. Nicht vor den deutschen Antisemiten.

Nein. Nach dem Einmarsch der Deutschen gingen auch aus Ungarn täglich Transporte nach Auschwitz. Mein Vater hielt Augen und Ohren offen und erfuhr so von einem jüdischen Rettungskomitee und einem gewissen Rezsö Kasztner, der mit der SS einen Handel über 380 Juden aus Klausenburg abgeschlossen habe. Ich weiß nicht, wie es meinem Vater gelang, er ergatterte den lebensrettenden Schein für uns, mit dem wir in diese Gruppe aufgenommen wurden.

Nach welchen Kriterien wurde ausgewählt?

Das ungarische jüdische Hilfs- und Rettungskomitte, der Wa'ada Esra we Hazala, dessen Vizepräsident Kasztner war, hatte sich geeinigt, jene zu favorisieren, die für die jüdischen Allgemeinheit wichtig waren, Ärzte, Anwälte, Professoren, Rabbis, aber auch Witwen und Waisen. Kasztner nannte die Auswahl eine »unbarmherzige Aufgabe«. Man konnte die einen nicht retten, ohne die anderen im Stich zu lassen. Das haben nach dem Krieg viele nicht verstanden.

Kasztners Gruppe zählte dann aber mehr als 380 Menschen.

Ja, es drängten immer mehr hinzu; einige haben gegen hohe Bestechungsgelder Schutzpässe erworben, andere kamen durch ihre Hartnäckigkeit mit auf diese »Arche Noah«, wie Kasztner seine Gruppe nannte.

Nur, diese Arche Noah »segelte« dann nach Bergen-Belsen.

Am 30. Juni 1944 wurden wir von SS-Männern zum Bahnhof Budapest-Rákosrendezö getrieben. In Viehwaggons gepfercht, waren wir neun Tage unterwegs. Ich lernte, dass aus gemeinsamen Unglück nicht unbedingt Mitgefühl für und Rücksicht auf andere erwächst. Man schimpfte und stritt sich, kämpfte um einen Platz an den Belüftungsklappen.

In Bergen-Belsen angekommen, wurden wir in einen gesonderten Teil des Lagers gebracht, wo wir registriert wurden. Kasztner hatte uns eingeschärft, dass wir uns als Juden ungarischer Nationalität ausgeben. Als solche hatte er uns Eichmann abgepresst. In Wirklichkeit waren mehr als ein Drittel eigentlich keine Ungarn. Die aus Siebenbürgen fühlten sich als Rumänen. Und manche hatten mehrere Staatsbürgerschaften.

In Folge der Grenzverschiebungen nach dem Ersten Weltkrieg und mit Beginn des Zweiten.

Als ich eingeschult wurde, gehörten wir zu Rumänien, noch vor Ende meines ersten Schuljahres zu Ungarn. Im Vertrag von Trianon von 1920 hatte Ungarn, das auf der Seite Deutschlands und Österreichs im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, zwei Drittel seines Territoriums verloren. Durch Hitler bekam es zwischen 1938 und 1941 einen großen Teil zurück.

Wie lange mussten Sie in Bergen-Belsen ausharren?

Fünf Monate. Da die SS uns als eine kostbare Ware betrachtete, wurden wir besser behandelt als die anderen Häftlinge. Hunger und Krankheiten plagten aber auch uns. Im August 1944 konnten die ersten 318 aus unserer Gruppe und im Dezember wir übrigen 1351 Juden in die rettende Schweiz ausreisen.

Dem Retter wurde später aber nicht gedankt.

Wir dankten ihm. Andere nicht. Er war sehr enttäuscht, als er 1947 nach Palästina ging und, statt als Held gefeiert zu werden, mit Verleumdungen konfrontiert wurde: Er habe mit den Nazis kollaboriert und sich selbst bereichert. Dabei hatte er, als er nach Palästina kam, überhaupt kein Geld. Verwandte und Freunde mieteten ihm eine Einzimmerwohnung in Tel Aviv.

Wer erhob die Vorwürfe?

Sie kamen von Überlebenden, die ihre Angehörigen verloren hatten. Kasztner habe Gott gespielt, in dem er aus Hunderttausenden ein paar Hundert ausgewählt hatte. Der Vorwurf verkennt den begrenzten Handlungsraum, den er und seine Mitstreiter hatten. Auffallend ist auch nicht, wie viele von Kasztners Verwandten überlebten, sondern wie wenige.

Verwahrte er sich dagegen?

Er hat in einem konkreten Fall einen Verleumdungsprozess angestrengt, der sich jedoch gegen ihn verkehrte. Der Richter nannte ihn einen Verräter, der seine Seele dem Satan verkauft habe. 1958 rehabilitierte das Oberste Gericht zwar Kasztner, aber er hat das nicht mehr erlebt. Am 3. März 1957 war er vor seiner Wohnung in Tel Aviv von drei Fanatikern angeschossen worden, zwölf Tage später starb er. Das ist besonders tragisch, wenn man bedenkt, dass Kurt Becher, Eichmanns rechte Hand in Budapest und unbarmherziger Verhandlungspartner von Kasztner, der immer mehr Geld, Schmuck, Treibstoff oder Lastwagen im Tausch für die Juden forderte, unbehelligt 1995 als Multimillionär in Hamburg verstarb.

Es hat mal jemand gesagt: »Was Kasztner getan hat, war nicht weniger heroisch als mit der Waffe in der Hand im Warschauer Ghetto zu kämpfen.« Das stimmt.

Sie sprachen von Kasztners Mitstreitern. Wer waren diese?

Vor allem der Präsident von Wa'ada, Otto Komoly, sowie die Mitarbeiter Joel und Hansi Brand und Endre Biss. Ihre Beziehungen zueinander waren oft sehr gespannt, aber gemeinsam erreichten sie viel. Sie alle riskierten viel. Komoly rettete noch etwa 5000 jüdische Kinder, ehe er am 1. Januar 1945 vom ungarischen Geheimdienst verhaftet worden und seitdem spurlos verschwunden ist.

Eine ähnliche Tragödie wie die von Raoul Wallenberg?

An die hunderttausend Juden verdanken ihm ihr Leben und er starb dann in sowjetischer Haft. Es gab aber noch weitere Judenretter: Der Schweizer Konsul in Budapest, Charles Lutz, soll an die 60 000, der Delegierte des Roten Kreuzes in Ungarn, Friedrich Born, bis zu 150 000 Juden gerettet haben.

Kasztner widerlegt die Behauptung, die Juden hätten sich wie Lämmer zur Schlachtbank führen lassen. Woher kam diese?

Von Juden in Palästina, die ohnmächtig ansehen mussten, was mit den Ihren in Europa geschah. Sie fragten sich: »Warum wehren sie sich nicht wie wir hier in Palästina mit der Waffe in der Hand?« Ohnmacht macht ein schlechtes Gewissen. Und die eigene Ohnmacht wird auf andere projiziert.

Der Vorwurf der Feigheit und Kollaboration ereilte auch die Judenräte. War ihre Zusammenarbeit mit den Besatzern und Mördern wirklich Kollaboration?

Je nach dem, wie man Kollaboration definiert. Die Judenräte mussten Befehlen gehorchen. Und sie haben im guten Glauben gehandelt. Letztlich waren sie dennoch ein Instrument der Mörder. Nach einem Bombenangriff mussten sie z. B. von einem Tag auf den anderen 5000 Wohnungen räumen, die eigenen Leute rausjagen.

Und auch wenn die Mitglieder der Judenräte gewisse Privilegien genossen, waren auch sie letztlich nicht vor den Mördern sicher.

Sie befanden sich in einer äußerst prekären Situation. Da war natürlich Angst vor Repressalien, wenn sie den Gehorsam verweigerten. Da war die Hoffnung, durch Willfährigkeit die Deportationen abzuwenden oder zu verzögern. Und in Ungarn kam noch ein großer tragischer Irrtum hinzu: Man glaubte, was den Juden anderswo passierte, könne im zivilisierten Ungarn nicht geschehen. Zumal sich die Juden hier als assimilierte und patriotische Ungarn verstanden. Sie glaubten, Horthy und die ungarische Elite würden sie vor den Nazis beschützen. Eichmanns Judenkommando in Ungarn zählte 150 bis 200 Mann. Ohne die Hilfe von Ungarn wäre die Mordmaschinerie nicht so reibungslos gelaufen.

Der Antisemitismus war und ist heute wieder in Ungarn stark.

'Ich war etwa sechs, als ein ungarischer Junge an unserem Haus vorbeimarschierte und gröhlte: »Saujuden, Stinkjuden, nach Palästina mit euch.« Heute marschieren die Rechten in Ungarn mit Uniformen, ähnlich den faschistischen Pfeilkreuzlern, sogar ins Parlament ein. Und niemand tut etwas dagegen. Das ängstigt mich.

Und die Rechtsradikalen in Deutschland auch?

Nicht so sehr. In Deutschland fühle ich mich sicher. Hier sagt man auch nicht, man sei das erste Opfer von Hitler gewesen, wie die Österreicher es behaupten.

Aber rassebiologische und geschichtsrevisionistische Äußerungen sind hier sogar von Vertretern der Elite zu hören.

Ich glaube, Deutschland verfügt über genug starke demokratische Einrichtungen, Schlimmes zu verhindern.

Warum sind Sie nach dem Krieg nicht nach Palästina gegangen?

Als ich fahren sollte, hatte mein Vater noch keine Einreisebewilligung von der britischen Mandatsmacht bekommen. Nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht hatten, wollten wir uns nicht trennen. So blieben wir in der Schweiz. 1963 ging ich nach England, während mein Vater eine Israelin geheiratet hat und nach Haifa zog.

Und Sie wollten nicht nach Israel übersiedeln?

Nein. (Schmunzelt.) Da leben zu viele Juden. Und Juden können einem manchmal sehr auf den Nerv gehen.

Sie fühlen sich aber Israel verbunden?

Natürlich. Ich finde es auch nicht schön, was in Gaza passiert. Aber gerade die Engländer haben kein Recht, die Israelis zu verurteilen. Sie sind doch mit schuld am Konflikt. Sie haben in der Balfour-Deklaration von 1917 das von Arabern besiedelte Land den Zionisten versprochen. Mich stört aber, dass gerade im akademischen Milieu viele anti-israelisch sind. Alles, was Israel macht, ist per se schlecht. So einfach ist das nicht.

US-Außenministerin Hillary Clinton war gerade in Israel. Eine neue Verhandlungsrunde begann mit der EU. Glauben Sie an Frieden in Nahost in absehbarer Zeit.

Nein.

Warum so pessimistisch?

Mein Verstand rät mir, pessimistisch zu sein. Aber das Herz ist unvernünftig. Ich freue mich über jeden noch so kleinen Fortschritt in den Verhandlungen wie auch im Verhältnis zwischen den Isrsaelis und Palästinenser.

Warum haben Sie Deutsch studiert? Die Sprache der Mörder.

Ich hatte als Kind, so merkwürdig das klingen mag, ein positives Deutschlandbild. Und habe es noch heute. Deutschland ist für mich das Land der Dichter und Denker, nicht der Richter und Henker. Ich weiß, das ist ein Idealbild. Aber ich lasse es mir von einem Hitler oder Eichmann nicht beschmutzen.

* Aus: Neues Deutschland, 24. September 2010


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