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Ungarn und die Grundwerte der EU

Massive Kritik an der Regierung Orbán im Europäischen Parlament

Von Zsuzsanna Horváth, Budapest *

Nach der Entscheidung der EU-Kommission vom Dienstag, gegen Budapest in drei Punkten ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, diskutierte am Mittwoch das Europäische Parlament in Straßburg die Lage in Ungarn. In der Kritik stehen vor allem die Beschneidung der Unabhängigkeit der Zentralbank, der Datenschutzbehörde sowie der Justiz.

In der Sitzung des Europäischen Parlaments erklärte der Vertreter der dänischen Ratspräsidentschaft, dass Kopenhagen die Vorgehensweise der Kommission voll unterstütze. Kommissionspräsident José Manuel Barroso unterstrich, dass es bei dem Vertragsverletzungsverfahren nicht nur um rein rechtliche Aspekte gehe. Vielmehr sorge sich die Kommission auch um den »Geist des Abkommens« und die europäischen Grundwerte. Zudem habe man von der ungarischen Regierung bereits umfassende Auskunft über weitere Gesetze verlangt und werde nicht zögern, wenn nötig neuerlich strenge Maßnahmen zu ergreifen. Solange Budapest die kritisierten Regelungen nicht deutlich verändere, werde die Europäische Union nicht über ein neues Kreditabkommen verhandeln.

Der ungarische Premier Viktor Orbán, der an der Sitzung des Parlaments teilnahm, erklärte, sein Land schütze alle Minderheiten und habe »die kommunistische Verfassung von 1949 endlich durch ein neues Grundgesetz ersetzt«. Keiner der vorgebrachten Einwände richte sich gegen dieses Grundgesetz selbst. Nach dieser Positionierung entbrannte eine hitzige Debatte. Grüne, Sozialdemokraten und Liberale übten heftige Kritik nicht nur an der Politik der Regierung Orbán, sondern auch an der Fraktion der konservativen Europäischen Volkspartei, die sich aus parteipolitischen Gründen opportunistisch verhalte. Der EU-Kommission selbst wurde vorgeworfen, lange Zeit nicht nachdrücklich genug gegen Budapest vorgegangen zu sein.

Natürlich wurden in Straßburg die »europäischen Werte« bemüht, die für einen nicht geringen Teil der Abgeordneten den Antikommunismus einschließen. Orbán, der sein neues Grundgesetz als Abrechnung mit dem stalinistischen Rechtssystem pries, war sich mit all jenen einig, die ihn aufforderten, »den Werten des osteuropäischen Freiheitskampfs von 1989 treu zu bleiben«, statt die Demokratie in Ungarn mit Füßen zu treten. Den Zusammenhang zwischen sozialer Krise und Verarmung einerseits und Anti-EU-Populismus in Ungarn andererseits betonte nur die Rednerin der Vereinigten Linken. Grünen-Vertreter Daniel Cohn-Bendit erwähnte zumindest, dass sich außer Juden und Minderheiten wie den Roma inzwischen in Ungarn auch Obdachlose vor Repressalien und Übergriffen fürchten.

Unterdessen haben Orbán und Barroso bereits ein Treffen für kommende Woche vereinbart, bei dem es um die von der Kommission geforderten Änderungen gehen soll. Orbán hofft auf eine rasche Einigung, die es erlaubt, das Vertragsverletzungsverfahren abzuwenden, um auf diese Weise so schnell wie möglich zu Kreditverhandlungen zu kommen. Ungarn ist dringend auf neue Kredite angewiesen. Um die Gespräche vorzubereiten, reist derzeit der Budapester Minister Tamás Fellegi durch Europa und die USA. Nach einem Treffen mit Christine Lagarde, der Chefin des Internationalen Währungsfonds, meinte diese, der IWF wolle zunächst »greifbare« Schritte sehen, dass sich die ungarische Regierung einer Politik der »makroökonomischen Stabilität« verpflichtet fühle.

Derzeit befasst sich das Spitzengremium des IWF mit dem Kontrollbericht über die jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen in Ungarn, nachdem Budapest im Sommer vergangenen Jahres auf weitere Finanzhilfen des Währungsfonds verzichtet hatte. Lagarde erklärte außerdem, dass die »Unterstützung der europäischen Autoritäten und Institutionen« eine entscheidende Voraussetzung sei, die vor dem Beginn von Verhandlungen über ein neues Kreditarrangement zu erfüllen sei.

Damit schließt sich der Kreis. Denn diese Unterstützung gibt es eben nur, wenn sich Ungarn den im Vertragsverletzungsverfahren erhobenen Forderungen beugt. Die internationalen Institutionen sind auf dem besten Weg, Ungarn den Erhalt oder die Wiederherstellung eines EU-konformen Institutionensystems abzupressen. In einem Punkt allerdings ist man sich mit der ungarischen Regierung einig - dass weiter auf Kosten der Bevölkerung gespart werden soll.

* Aus: neues deutschland, 20. Januar 2012


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