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Ungarn protestieren gegen Antisemitismus

Seltene Einigkeit von Regierungs- und Oppositionspolitikern *

Tausende Menschen haben am Sonntag (2. Dez.) in der ungarischen Hauptstadt Budapest gegen Antisemitismus demonstriert. Auslöser waren Äußerungen des Parlamentsabgeordneten Marton Gyöngyösi von der rechtsextremen Partei Jobbik (Die Besseren). Er hatte verlangt, die jüdischen Regierungs- und Parlamentsmitglieder zu »erfassen«.

Gyöngyösis Forderung nach der Erfassung jüdischer Mitglieder von Parlament und Regierung, die angesichts des Nahostkonflikts eine »Gefahr für die nationale Sicherheit « darstellten, löste in Ungarn einen Sturm der Empörung aus. Viele Menschen erinnerte das an die Registrierungen im Zweiten Weltkrieg, die der Deportation von über einer halben Million ungarischer Juden nach Auschwitz vorausgegangen waren. Tags darauf entschuldigte sich Gyöngyösi denn auch bei seinen »jüdischen Landsleuten « und erklärte, falsch verstanden worden zu sein. So habe er lediglich eine Liste von Bürgern mit ungarisch-israelischer Staatsbürgerschaft gefordert. Er fügte aber an, dass Ungarn sich Gedanken über »das zionistische Israel und jene machen sollte, die ihm auch hier dienen«.

Bei der Kundgebung am Sonntag, zu der das Bündnis NEM (Nein – Bewegung gegen Neonazis) aufgerufen hatte, trugen einige Demonstranten gelbe Sterne an ihrer Kleidung – in Erinnerung an die Judensterne der Nazizeit. Medienberichten zufolge waren rund 10 000 Menschen auf dem Kossuth- Platz vor dem Parlament versammelt.

Die rechts-konservative Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán hatte die Äußerungen Gyöngyösis erst mit Verzögerung verurteilt. Am Sonntag trat jedoch auch der Fraktionschef der Regierungspartei Fidesz (Ungarischer Bürgerbund), Antal Rogan, vor den Demonstranten auf. Er warnte, dass alle Völkermorde des 20. Jahrhunderts mit Listen begonnen hätten. »Niemandem sollte es erlaubt sein, die Würde anderer zu verletzten oder sie mit der Androhung von Listen zu stigmatisieren «, sagte Rogan. Er sei gekommen, weil er in einer solchen Situation nicht schweigen könne. »Ungarn verteidigt seine Bürger«, stellte er klar und kündigte an, mit seinen zwei Söhnen Auschwitz zu besuchen.

Während der Rede wandten allerdings zahlreiche Demonstranten Rogan aus Protest den Rücken zu. »Ihr habt Jobbik erschaffen «, rief einer der Kundgebungsteilnehmer. Andere fragten, warum Regierungschef Orbán nicht selbst gekommen sei. Der Fidesz wird von der Opposition Populismus und eine nationalistisch ausgerichtete Politik vorgeworfen.

Attila Mesterhazy, Chef der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP), kündigte an, dass seine Fraktion die parlamentarische Auslandskommission so lange boykottieren werde, wie Gyöngyösi noch deren Vizevorsitzender sei. Er forderte Viktor Orbán auf, im Parlament Stellung zu beziehen. Auch der ehemalige parteilose Premier Gordon Bajnai vom Oppositionsbündnis »Gemeinsam 2014« sprach sich gegen antisemitische Erscheinungen im öffentlichen Leben Ungarns aus.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 04. Dezember 2012


Reaktionäres Klima

Ungarn: Trotz breiten Protests gegen Antisemitismus keine Sanktionen gegen Jobbik-Abgeordneten

Von Tomasz Konicz **


Am vergangenen Sonntag haben Ungarns Opposition und Regierung gemeinsam an einer Demonstration gegen den um sich greifenden Antisemitismus teilgenommen und damit ein bislang beispielloses Zeichen gesetzt. Im Namen der rechten Regierungspartei Fidesz verurteilte Fraktionschef Antal Rogan vor Tausenden Demonstranten den jüngsten antisemitischen Vorfall im ungarischen Parlament; für die oppositionellen Sozialdemokraten sprach der Parteivorsitzende Attila Mesterhazy, das liberale Oppositionsbündnis »Gemeinsam 2014« war mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Gordon Bajnai vertreten.

Den Anlaß für diese Kundgebung bildeten die antisemitischen Ausfälle des außenpolitischen Sprechers der faschistischen Partei Jobbik, Márton Gyöngyösi, der am vergangenen Montag während einer Parlamentsdebatte zum jüngsten Gaza-Krieg die seiner Meinung nach israelfreundliche Haltung der ungarischen Regierung verurteilte. Gyöngyösi forderte deswegen die Erstellung einer Liste von ungarischen Bürgern und insbesondere Regierungsmitgliedern sowie Parlamentariern mit »jüdischer Abstammung«, die er als ein »nationales Sicherheitsrisiko« bezeichnete. Zuerst blieb der Skandal im Parlament – wo antisemitische Bemerkungen gang und gäbe sind – aus. Seitens der Regierung hieß es nur, daß solche Nachforschungen nichts mit dem Gaza-Konflikt zu tun hätten.

Erst nachdem Gyöngyösis Forderung zu ersten Protesten führte und international für Empörung sorgte, sah sich Fidesz offenbar genötigt, an der Demonstration gegen Antisemitismus teilzunehmen. Bezeichnend ist aber, daß weder der Fidesz-Chef und Premier Viktor Orban, noch Präsident Janos Ader zu den antisemitischen Umtrieben der Jobbik, mit denen die Konservativen um Wähler am rechten Rand konkurrieren, Stellung bezogen. Zudem verzichtete die mit einer komfortablen Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament ausgestattete Regierung darauf, Sanktionen gegen Gyöngyösi einzuleiten. Am Donnerstag setzte die Jobbik folglich ihre antisemitischen Hetztiraden munter fort: Der stellvertretende Parteivorsitzende Elod Novak forderte während einer Pressekonferenz die liberale Abgeordnete Katalin Ertsey auf, ihr Mandat niederzulegen, da sie ihre isrealisch-ungarische Doppelstaatsbürgerschaft nicht publik gemacht habe.

Fidesz hat mittels einer zielstrebigen schleichenden Faschisierung vieler Gesellschaftsbereiche aktiv zu der Herausbildung eines reaktionären öffentlichen Klimas beigetragen, im dem offene Judenhetze gedeihen kann. Mitte 2012 gingen die Rechtsausleger um Ministerpräsident Orban dazu über, in einer geschichtsrevisionistischen Offensive das Regime des zwischen 1920 und 1944 herrschenden Nazikollaborateurs Miklós Horthy zu rehabilitieren. Etliche antisemitische »Schriftsteller« aus jener Epoche wurden in den ungarischen Lehrplan aufgenommen, was schon damals zu diplomatischen Spannungen zwischen Ungarn und Israel führte.

Die Rechtsregierung um Orban nutzt ihre Parlamentsmehrheit, um diese autoritäre Wende irreversibel zu machen. Nach der Einführung restriktiver Pressegesetze wurde in der vergangenen Woche ein kompliziertes Registrierungsverfahren für Wahlen eingeführt. Künftig müssen sich die Bürger mindestens zwei Wochen vor einer Abstimmung offiziell »anmelden«, um an dieser teilnehmen zu können. Hiervon wird insbesondere die Fidesz profitieren, die mittels einer landesweit gut ausgebauten Organisationsstruktur ihre Stammwähler leicht zur »Anmeldung« mobilisieren kann.

Die Bundesregierung hält sich mit Kritik an dem autoritären Kurs Orbans auffallend zurück. Bei einem Treffen Mitte November attestierte Angela Merkel ihrem ungarischen Amtskollegen »Kompromißfähigkeit in rechtsstaatlichen Fragen«, wie es die Zeitung Die Welt formulierte, nachdem sie bei einem »offenen Gespräch« seine »Beweggründe« für die restriktiven Wahlrechts- und Pressegesetze erfahren habe. Dieser Großmut Merkels kann aber auch mit der Servilität in Zusammenhang stehen, die Orban gegenüber der Kanzlerin der europäischen Führungsmacht an den Tag legt: »Wenn es eine Person auf diesem Planeten gibt, die ich nicht zum Gegner haben möchte, dann ist das Angela Merkel«, beteuerte Orban im Gespräch mit dem Handelsblatt.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 04. Dezember 2012


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