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Sie wollen die Geschichte umschreiben

Ungarinnen berichteten über ihr Land, "in dem der Antisemitismus von Tag zu Tag schlimmer wird"

Von Ingrid Heinisch *

Eli Wiesel kündigte vor zwei Wochen an, den Großkreuzverdienstorden Ungarns zurückzugeben. Mit einem Staat, wo neue Denkmäler für den Hitlerverbündeten Miklos Horthy errichtet werden, wolle er nichts zu tun haben. Eine Veranstaltung des Internationalen Auschwitz Komitees in Berlin machte die Entwicklung in diesem Land deutlich.

In der Gedenkstätte Deutscher Widerstand ist bis September die Ausstellung »…zusammenbleiben « zu betrachten. Sie beschreibt das Schicksal ungarischer Jüdinnen während des Holocausts und hat bisher eine ungeheuer große Besucherresonanz gefunden. Zu der dortigen Veranstaltung des Internationalen Auschwitz Komitees reisten die Ausstellungsmacherin Katalin Pesci-Pollmer und Eva Rac, eine ungarische Überlebende des Holocausts, an. Pfeilkreuzler, Mitglieder der ungarischen faschistischen Partei, hatten Eva als Zwölfjährige im November 1944 mit anderen Kindern in die Donau getrieben: Um Kugeln zu sparen, wurden jeweils drei Kinder zusammengebunden und nur eines erschossen. Eva konnte sich freistrampeln und überlebte mit schweren Erfrierungen.

Eva Rac ist eine ungewöhnlich kleine, zierliche Frau, sie wirkt heute schwach und krank. Warum sie dieses Trauma immer wieder zulässt, indem sie darüber berichtet? »Weil ich in einem Land lebe, in dem der Antisemitismus von Tag zu Tag schlimmer wird, und ich nicht weiß, ob und wann auf Worte Taten folgen werden.«

Taten hat Katalin Pesci schon erlebt: Bis vor einem Jahr war sie Leiterin der Bildungsabteilung des Holocaust-Memorials in Budapest. Dort sollte ihre Ausstellung ebenfalls gezeigt werden. Doch Katalin Pesci wurde entlassen, die Leitung des Museums wurde umgestaltet, angeblich aus Strukturzwängen, doch in Wirklichkeit ist ihre Ausstellung dort nicht mehr erwünscht. Auch die Hauptausstellung soll gänzlich verändert werden, »sie wollen die Geschichte umschreiben. Kein Ungar soll Schuld am Holocaust der ungarischen Juden getragen haben«.

Innerhalb von vier Monaten wurden 1944 in Auschwitz 400 000 Juden aus Ungarn vernichtet. Der Abtransport aus ihrer Heimat war perfekt organisiert, mithilfe ungarischer »Soldaten, Polizisten, paramilitärischer Einheiten und ihrer Nachbarn«, weiß Katalin Pesci. All das wolle in Ungarn heute niemand mehr wahrhaben. Stattdessen berufe man sich sogar auf einen »Holocaust« an den Ungarn, nach dem Vertrag von Trianon 1920, als Ungarn zwei Drittel seiner Fläche und ein Drittel seiner Bevölkerung einbüßte. Dieses Ereignis werde heute wieder zum nationalen Trauma stilisiert. Der Hass richte sich auf alles Fremde, die EU und Amerika, aber auch auf die Juden, die Ungarn im Ausland anschwärzten, und im Innern vor allem auf die Roma.

Deren Situation beschreibt Katalin Pesci als weitaus schlimmer, als die der ungarischen Juden, die meist gebildet sind und in den Großstädten leben. Die Roma aber leben in Dörfern, in denen es keine Arbeit gibt. Sie sind arm und ihre Lage ist hoffnungslos. Die Regierung schürt die Vorurteile, indem sie etwa ein Gesetz zur Schulpflicht erlassen hat, das die Polizei ermächtigt, mit Gewalt vorzugehen. Zugleich schließe die Regierung in den Sommermonaten die Dorfschulen, sodass die Romakinder dort kein Mittagessen mehr bekommen, oft ihre einzige Mahlzeit am Tag. Die ungarischen Medien berichteten über all das nur einseitig, sie seien durch die neuen Mediengesetze völlig unter der Kontrolle der Regierung. Und so gehe es in Ungarn um weit mehr als die Rechte der Roma oder der Juden.

Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, erinnerte in diesem Zusammenhang an die Worte einer anderen ungarischen Überlebenden, Eva Szemes: »Behütet die Republik «, hatte sie gesagt, als sie nach der wichtigsten Lehre von Auschwitz gefragt wurde. Dies sei das Vermächtnis der Überlebenden.

In Ungarn wird es gerade mit Füßen getreten. Auf einen Aufschrei dagegen aus der Europäischen Union wartet Katalin Pesci bisher vergebens. Sie forderte deshalb alle Anwesenden auf, mit ihren Mitteln gegen das Unrecht in Ungarn vorzugehen, an ungarische Medien, die Botschaft oder die Regierung zu schreiben und gegen das Unrecht dort zu protestieren.

Ihre Ausstellung wird statt im Holocaust-Memorial im jüdischen Kulturzentrum, einer Einrichtung des Staates Israels, in Budapest gezeigt werden. Vor zwei Jahren hat sie in Israel 40 ungarische Zionistinnen interviewt. Die Auswertung des Materials in Ungarn lässt auf sich warten. Im Holocaust-Memorial hat entgegen früheren Absprachen niemand mehr Interesse.

* Aus: neues deutschland, Montag, 9. Juli 2012


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