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Gott – Heimat – Familie

Analyse: Seit 100 Tagen regiert in Ungarn der reaktionäre Fidesz mit einer Zweidrittel­mehrheit. Ziel des Bundes ist eine nationalistisch-klerikale Hegemonie

Von Sándor Horváth *

Die neue nationalpopulistisch-klerikale Regierung Ungarns, die im übrigen schon vor der offiziellen Amtseinführung stolz eine unbeschränkte absolutistische Alleinherrschaft ausübte, ist seit 100 Tagen an der Macht. Mit der Zweidrittelmehrheit von Fidesz (Bund Junger Demokraten/Ungarischer Bügerbund) im Parlament kann die Regierung ohne weiteres Verfassungsänderungen beschließen lassen. Diese Situation ist einmalig in Europa.

Dabei ist Fidesz bei den Parlamentswahlen im April dieses Jahres gerade einmal auf 52,7 Prozent der Stimmen gekommen, und nur das in den Augen internationaler Beobachter und Fachleute komplizierteste und undurchschaubarste Wahlsystem Europas hat dem Bund letztlich die Zweidrittelmehrheit eingebracht. Regierungs- und Fidesz-Chef Viktor Orbán sprach daher recht unpassend von einer »Revolution in den Wahllokalen«. Bereits auf der ersten Sitzung des neugewählten Abgeordnetenhauses ließ er ein »Politisches Manifest« beschließen, in welchem neben anderen Unsinnigkeiten festgestellt wird, daß »Ungarn, nach 46 Jahren Besatzung, Diktatur und zwei wirren Jahrzehnten des Übergangs, sein Recht und seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung« zurückerobert habe.

Damit hat Orbán seine fein differenzierte Geschichtsauffassung, nach der es – im Vergleich zu seiner Alleinherrschaft – gar keinen großen Unterschied zwischen Nazis, Stalinismus, »Gulaschkommunismus« und parlamentarischer Demokratie gibt, zum ungarischen Staatsprinzip erhoben. Mehr noch, Anfang Juli erschien im Ungarischen Gesetzblatt jener Regierungsbeschluß, nach dem dieser Unsinn ab sofort »in farbiger Ausführung, in würdiger Qualität, in mindestens 50x70 Zentimeter großem Rahmen auf einem gut sichtbaren Platz« in allen öffentlichen Einrichtungen des Landes ausgehängt werden muß. Ähnliches gab es in Ungarn seit den 50er Jahren nicht mehr.

Das Streben nach Machtkonzentration zeigte sich auch in der Gestaltung des neuen Regierungsapparats. Die Zahl der Ministerien wurde fast halbiert, es gibt nur noch acht. Außerdem entstanden mehrere Superportefeuilles, wie das Ministerium für nationale Ressourcen, das in anderen Teilen Europas Ministerium für Bildung, Sport, Kultur, Gesundheit, Soziales und Zukunft heißen würde. Oder das Ministerium für Rechtswesen, Minderheitspolitik und Regierungskommunikation und das ebenfalls durch Zusammenlegung entstandene gigantische Finanz- und Wirtschaftsministerium. In solchen Monsterressorts wird die fachliche Arbeit der Minister natürlich schwierig, also brauchte man ein wenig mehr Staatssekretäre, damit es auch einige Menschen gibt, die die Geschäfte des Landes führen. Am Ende sind es sage und schreibe knapp 100 geworden. Doch damit nicht genug. Allein im Finanz- und Wirtschaftsministerium sollen im Herbst 41 neue Abteilungsleiterposten geschaffen werden. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten ist halt Sparen angesagt.

Die Verteilung der Ministerposten war auch etwas eigenartig. An der Spitze des Ministeriums für nationale Entwicklung soll ausgerechnet ein Medienmagnat das Land vor den »Oligarchen« retten. Der erzkonservative Chef der Fidesz-Satellitenpartei KDNP (Christlich-Demokratische Volkspartei) wiederum will als Minister für nationale Politik und Kirchenwesen das Land nach den päpstlichen Enzykliken des 19. und 20. Jahrhunderts leiten. Der neue Agrarminister hat bis dato in seinem nunmehrigen Aufgabengebiet keine Erfahrungen sammeln können, abgesehen davon, daß er einmal im Parlament einen Antrag zur Erleichterung der Organisation von Freiluftkochwettbewerben gestellt hatte.

Einige Quälgeister aus dem öffentlichen Leben haben eingeworfen, daß es nicht ganz zeitgemäß sei, Umwelt- oder Frauenministerium abzuschaffen. Doch diesen wurde entgegengehalten, daß in Zeiten, in denen Sparen angesagt sei, überflüssige Institutionen nichts zu verlieren hätten. Die Unzufriedenen konnten außerdem nicht ohne Meckern zur Kenntnis nehmen, daß für eine Frau im Kabinett kein Platz gefunden wurde. Wahrscheinlich haben die Päpste in den vergangenen Jahrhunderten über diese Problematik nicht ausführlich genug geschrieben.

Umbesetzung des Staatsapparats

Doch all dies war nur der Anfang. Kaum an der Macht, erklärte Orbán, die Erfahrung hätte gezeigt, daß in Ungarn öffentliche Diskussionen und Diskurse zu nichts führten, die »ständig herumkrittelnde, Hindernisse errichtende, unsichere« Einrichtung des demokratischen Diskurses versagt hätte und »im 21. Jahrhundert zu nichts nutze« sei. Deshalb seien rasche Entscheidungen das Gebot der Stunde. Und so ist es umgehend zur politischen Mode geworden, die Opposition mit Gesetzesvorlagen gerade einmal wenige Stunden vor der Abstimmung bekannt zu machen. Die Gesetze werden massenweise durchgepeitscht, 50 pro Woche sind keine Seltenheit, und dem Hohen Haus bleibt kaum mehr Zeit für nennenswerte Debatten. Es kam sogar vor, daß von einer Gesetzesvorlage nur der Titel mitgeteilt wurde, weil die neue Regierung in ihrer Änderungswut den genauen Text noch nicht ausgearbeitet hatte. Die parlamentarische Mehrheit hat das Gesetz problemlos verabschiedet. Dabei kümmern die Regierung und ihre Partei die durch lästige demokratische Regeln hervorgerufenen Zwänge immer weniger.

Ein schönes Beispiel dafür ist die Ernennung der neuen – regierungsnahen – Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs. Nachdem Fidesz in der alten Zeit als Opposition die Wahlen der Richter des Verfassungsgerichtshofs mehrere Jahre lang immer wieder blockiert und damit die Körperschaft an den Rand der Funktionsunfähigkeit getrieben hatte, durfte die Regierungspartei per Wahl jetzt gleich mehrere Richter nach ihrem Geschmack delegieren. Einer von ihnen ist der Rechtsgelehrte und ehemalige Staatsminister der ersten Orbán-Regierung der Amtsperiode 1998 bis 2002, István Stumpf, geworden, der sich seitdem nicht einmal als Wissenschaftler darum bemüht hatte, den Schein der Unabhängigkeit zu wahren. Auch ein anderer kleiner Schönheitsfehler zeigte sich bei seiner nunmehrigen Wahl. Stumpf kann nämlich keinerlei juristische Erfahrung aufweisen, obwohl das Gesetz eine 20jährige einschlägige Tätigkeit oder Professur vorschreibt. Die offizielle Antwort auf zaghafte Zwischenrufe lautete, daß Stumpf als Minister ohnehin genug Erfahrungen mit Gesetzen gesammelt habe und es außerdem nicht schade, wenn unter all den Juristen auch ein praktischer Geist sitze.

Die absurde Wahl der neuen obersten Richter führt uns direkt zur höchsten Zielsetzung der aktuellen ungarischen Regierung. Mit dem Ziel, eine konservative, nationalistisch-klerikale Hegemonie durchzusetzen, werden systematisch alle unabhängigen Kontrollmechanismen und -institutionen und damit alle Bremswerke und Gleichgewichte der demokratischen Staatsverfassung ausgeschaltet oder lahmgelegt. Um die personellen Voraussetzungen zu schaffen, tauschte die neue Regierung seit ihrer Bestellung im Mai die Inhaber von Posten in staatlichen Einrichtungen bis hin zum dritten, mancherorts gar bis zum zehnten Führungsrang fast ausnahmslos aus. Dies betraf den Staatspräsidenten genauso wie die Pferderennplatzleitung, den Vorstand der Rettungsdienste, die gesamte Landeswahlbehörde, den Landesamtsarzt usw. Die Zahl der Neubesetzungen beläuft sich inzwischen auf mehrere hundert, wobei Berufserfahrung und Befähigungsnachweise eine geringere, politische Treue zu und alte Bekanntschaft mit Orbán eine große Rolle spielten.

Ein krasses Beispiel ist die Ernennung des neuen Rechnungshofpräsidenten, dessen Amt bisher stets von unabhängigen, allgemein anerkannten Fachmännern besetzt war. Jetzt aber erhielt ein in wirtschaftlichen Kreisen völlig unbekannter Abgeordneter aus der Provinz ohne entsprechenden Hintergrund das Amt. Und der frischgewählte Staatspräsident Pál Schmitt, der bei in- und ausländischen Kommentatoren als Hampelmann Orbáns gilt, hat sich sogar öffentlich dazu bekannt, daß er auf den Kern der verfassungsmäßigen Funktion und Pflicht seines Amtes verzichten will. Er kündigte an, daß er als Staatspräsident »weder als Gegengewicht noch als Bremse des Gesetzgebungsschwungs der Regierung« zu agieren beabsichtige.

Wie aber war es möglich, Hunderte gültige Arbeitsverträge von einem Tag auf den nächsten zu annullieren? Eine erfindungsreiche Regierung in Ungarn meistert Derartiges ohne besonderes gesellschaftliches Echo innerhalb einer Stunde. Als eines der ersten Gesetze der neuen Zeit beschloß das Parlament, daß alle Angestellten der öffentlichen Hand ab sofort fristlos und ohne Begründung entlassen werden dürfen. Damit Mißverständnisse erst gar nicht aufkamen, sah eine Zusatzverordnung die sage und schreibe 80prozentige Besteuerung von etwaigen Abfindungszahlungen vor. Noch im Laufe dieses Jahres will Orbán außer dem schon ergatterten Staatspräsidenten- und Rechnungshofpräsidentenposten, der Richterschaft des Verfassungsgerichtshofs und der Landeswahlbehörde auch die Ober- und Landesstaatsanwaltschaften neu besetzen. Und falls es jemanden deuchte, daß Orbán aus Versehen wenigstens die Rechtsprechung unangetastet ließe, hat dieser interessierte Geist nur bedingt recht: Die Gerichte befinden sich in Ungarn seit einem Jahrzehnt unverhohlen in rechtskonservativen Händen.

Insgesamt setzt Orbán mit alledem einen schönen alten Brauch der ungarischen politischen Elite der Dritten Republik fort. Seit 1990 ist bei jedem Regierungswechsel, egal ob rechte oder sogenannte linke Parteien an die Macht kamen, die Zahl der aus den Führungspositionen Entlassenen ständig gewachsen. Auf diese Weise ist man jetzt bei Zuständen angelangt, die denen eines Einparteienstaates durchaus vergleichbar sind. Die meisten Ungarn jedenfalls kennen sich bestens mit dem aus.

Neues Wahl- und Mediengesetz

Die Regierung Orbán ist auch in anderer Hinsicht ganz auf Langzeitmacht ausgerichtet. Innerhalb von zwei Monaten haben die Abgeordneten der Regierungspartei sechsmal die aus 77 Paragraphen bestehende Verfassung geändert. Zum Vergleich: Kenia wird gerne als kurioses Beispiel diskutiert, wo die Konstitution seit 1963 17mal geändert wurde. Auch sonst hat das Orbán-Parlament von der nicht nur für Verfassungsänderungen nötigen Zweidrittelmehrheit schon Gebrauch gemacht. Das Wahlgesetz für die Anfang Oktober wieder anstehenden Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen veränderte Fidesz im Alleingang so, daß kleinere Parteien kaum mehr eine Chance haben, überhaupt anzutreten und nach der Wahl ausschließlich die größten Parteien das Sagen haben werden. Entsprechend der Neuregelung kann es zum Beispiel geschehen, daß eine Partei mit 40 Prozent der Stimmen 70 Prozent der Abgeordnetenplätze bekommt, während die kleinere ungeachtet der fortbestehenden Fünfprozenthürde tatsächlich zwölf Prozent für einen einzigen Sitz benötigen kann. Gesellschaftliche Organisationen haben so gut wie keine Chancen. Sie benötigen, im Gegensatz zu den Parteien, von vornherein zehn oder im Falle koalierten Vorgehens gleich 15 Prozent, um in die Gemeinderäte zu gelangen. Das neugestaltete Wahlsystem wird Fidesz nach dem heutigen Stand der Dinge die Alleinregierung auch auf kommunaler Ebene ermöglichen.

Ein weiterer Skandal ist das neue Mediengesetz, das unter Ausschluß der Öffentlichkeit ausgearbeitet wurde. Es wird von in- und ausländischen Kritikern als »strengste Inhaltsregelung der westlichen Welt« bezeichnet und ist bereits vom Internationalen Journalistenverband heftig angegriffen worden. Es schreibt nicht nur vor, worüber alle Medien– also öffentliche und private Rundfunkanstalten, Fernsehen, die Presse und übrigens auch das völlig unkontrollierbare Internet – berichten sollen(!), nämlich über staatlich »wichtige Ereignisse«. Es führt auch den Begriff des »Antwortrechts« ein, das alle Medien verpflichtet, nicht nur sachlich falsche Angaben richtigzustellen, sondern im Falle der »Verletzung der Ehre oder von Persönlichkeitsrechten« (verschwiegen: eines Politikers) einer angemessenen Antwort Platz oder Sendezeit zu sichern. Das Gesetz verzichtet erstmals in der Geschichte der postsozialistischen ungarischen Demokratie auf den Begriff »freie Meinungsäußerung«. Es verfügt, daß das Eigentümergremium mit der wirtschaftlichen Kontrollkommission der öffentlichen Sender zusammengelegt wird, damit die Parteidirektiven ohne Zögern verwirklicht werden können. Die neue Behörde vergibt die Frequenzen für die elektronischen Medien und ist selbstverständlich mehr als massiv mit Fidesz-Leuten besetzt. Der Vorsitzende erhält sein Amt gleich für neun Jahre – Berlusconi läßt grüßen. Als nächster Schritt wurde bereits angekündigt, die Medien in der neuen Verfassung am Geist der Dreifaltigkeit »Gott-Heimat-Familie« auszurichten.

Geplänkel mit dem IWF

Zweifellos ist all das ein Manöver zur Ablenkung vom weitaus größten Problem des Landes. Denn in Sachen Wirtschaft scheint die Orbán-Regierung keine zündenden Ideen zu haben. Zwar brachte Fidesz vor den Wahlen im April das Stimmvolk mit der Behauptung hinter sich, daß die neue Regierung automatisch auch die Aufwertung des Forint bringen und sich die Schuldenlast des Landes damit verringern werde. Doch das Gegenteil ist rasch eingetreten. Taktisch unkluge Verhandlungen mit der ausländischen Finanzwelt, unüberlegte und dilettantische Aussagen führender Politiker, Ideenlosigkeit und ein hastiger Hürdenlauf zwischen Versprochenem und Möglichem ließen den Kurs der Landeswährung purzeln.

Die fehlende Sympathie der internationalen Finanzmärkte für die potentiell unberechenbare antiliberale Regierung tat ein übriges, um immer neue Tiefstände zu erreichen. Im Juni kündigte Orbán im Parlament ein 29-Punkte-Wirtschaftsprogramm als »Rettungsaktion« an. Die Rede ist darin von einer Flattax von 16 Prozent, einer Bankensteuer, die jährlich 700 Millionen Euro einbringen soll, der steuerfreien Schnapsproduktion für alle Obstbaumbesitzer, der Einführung eines Höchsteinkommens (ohne Zulagen) von 7200 Euro monatlich im öffentlichen Sektor – das ungarische Durchschnittseinkommen liegt um die 400 Euro.

Für außenstehende Beobachter bietet sich auf dem Schlachtfeld ungarische Wirtschaft ein amüsantes Schauspiel. Auf der einen Seite steht die neoliberal-gefühllose Unerbittlichkeit des IWF. Auf der anderen Seite stolziert und strauchelt Orbán mit einer eines Lech Kaczynski würdigen nationalistischen Arroganz, als habe er in seinem nicht erst heute zutage getretenen, auch für ungarische Verhältnisse extrem unverhohlenen Machthunger noch nicht begriffen, daß er nicht in der ganzen Welt über eine Zweidrittelmehrheit verfügt. Das Ergebnis: Abgebrochene Verhandlungen mit dem IWF und der EU, Verschiebung des Beschlusses über von der sozialdemokratischen Vorgängerregierung für Oktober dieses Jahres ausgehandelte IWF- und EU-Kredite. Für die Übergangszeit haben Orbáns Wirtschaftsfachleute ein paar Tricks parat. Staatliche Unternehmen müssen 360 Millionen Euro, also ein Viertel des noch zurückzuschraubenden Haushaltsdefizits, in die Staatskasse einzahlen, gleichzeitig wird der öffentliche Zugang zu den Daten dieser Firmen verboten, und die Ausgaben der Staatsunternehmen erscheinen ab sofort nicht mehr unter den Belastungen des Etats.

Daß Orbán eine Wirtschaftspolitik machen möchte, die auf Belebung der Binnenwirtschaft insbesondere durch Unterstützung der »nationalen mittelständischen Unternehmen« abzielt, steht außer Frage. Klar ist auch, daß eine Förderung der Kaufkraft der Mehrheitsbevölkerung etwa durch lohnpolitische Maßnahmen nicht auf dem Programm steht und daß soziale Leistungen die Mittelschichten und das Kleinbürgertum bevorzugen werden. Die »einfachen« Menschen und all jene, die dem Bild der ordentlichen ungarischen Familie nicht entsprechen, werden sich dagegen wohl strengen Respektabilitätstests unterziehen müssen, wenn sie eine Chance haben wollen, in den Genuß der sozialen Segnungen der Orbàn-Regierung zu kommen.

Inwieweit und wie diese Absichten in die Praxis umgesetzt werden, ist noch weitgehend unklar. Experten meinen, daß Orbán die zum frühestmöglichen Zeitpunkt ausgeschriebene Gemeinderatswahl abwarten will, um dann wirtschaftspolitisch zur Tat zu schreiten. »Experten« aus den Mainstreammedien gehen davon aus, daß er dann, wenn nicht dem IWF, so wenigstens der EU entgegenkommen wird. Die europäische Linke beobachtet gespannt, ob und welche Art von Widerstand die rechte Regierung eines kleinen und armen EU-Landes gegen die Diktatur neoliberaler und Finanzinteressen leisten wird. Die ungarische Linke erwartet sich von der Orbán-Regierung schlicht und einfach nichts Positives für das Land, auch nicht in wirtschaftspolitischer Hinsicht.

Nicht nur in der Wirtschaftsdiplomatie benimmt sich die Orbán-Regierung außerhalb der ungarischen Grenzen wie ein Elefant im Porzellanladen. Das allererste Gesetz, welches das neue Parlament verabschiedet hat, bietet allen im Ausland lebenden »Ungarn«, faktisch also in erster Linie den ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten, die magyarische Staatsbürgerschaft an. Parallel dazu wurde der 4. Juni, das Datum des in Fidesz-Kreisen gerne so genannten »Unheilsfriedens« von Trianon im Jahre 1920, als Ungarn zwei Drittel seiner ehemaligen Territorien abgeben mußte, zum »Tag des nationalen Zusammenhaltes« ausgerufen. Damit wurden die großungarischen Ambitionen der neuen Machthaber für alle Welt unmißverständlich zum Ausdruck gebracht. Die ohnehin mehr als kühlen Beziehungen zur Slowakei erstarrten.

Ansonsten macht die ungarische Außenpolitik erst einmal Sommerpause. Orbán hat seine für ihn weniger wichtigen Termine entweder verschoben (Angela Merkel) oder überhaupt abgesagt (Visegrád-Treffen der mitteleuropäischen Staaten). Ein in den vergangenen 20 Jahren praktizierte Tradition wird fortgeführt. Unter den rechten Regierungen mehren sich die Spannungen in den internationalen Beziehungen, und zwar besonders in denen zu Nachbarländern. Der historische Chauvinismus des ungarischen Herrenstaates läßt immer wieder grüßen. Nur auf dem Sommersitz des Papstes war Orbán. Im italienischen Castel Gandolfo versammelte sich erstmals über fünf Tage ein Netzwerk »christlicher Regierender«, um zwischen christlich orientierten Staatschefs und anderen Politikern sowie offiziellen Vertretern des Vatikans »ethische Antworten auf die aktuellen Herausforderungen« zu finden, sprich, den Einfluß der Kirche auf die Politik und Gesetzgebung dieser Länder zu vergrößern.

Alleinherrscher Orbán

Wenn nun jemand glaubt, daß die politischen Entwicklungen so etwas wie Zweifel bei der ungarischen Bevölkerung hervorrufen könnten, täuscht er sich gewaltig. Orbán und Fidesz sind populärer denn je. Nach dem langjährigen Chaos sozialliberaler Regierung dürstet das Land nach einer energischen Führungspersönlichkeit. Eben deshalb gab man ja Fidesz seine scheinbar unermeßliche Macht. Die neue Regierung soll möglichst ungehindert machen, was sie will. Weil in Ungarn das Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie schwach ausgeprägt ist und laut Erhebungen das Renommee der rechtsstaatlichen Institutionen immer schwächer wird, kann Orbán als Alleinherrscher zur Zeit nach Gutdünken schalten und walten. Je härter er agiert, desto besser. Eigene Mitverantwortung für die bestehende Lage zu erkennen, ist der Gesellschaft, wie immer, noch zu früh.

Doch das letzte Wort wird vom Schauplatz Wirtschaft kommen. Und dort sind Orbáns Spielräume nicht größer als die anderer Politiker im neoliberalen Zeitalter, wenn er auch vielleicht versuchen wird, diese stärker zu nutzen. Geht es den Menschen nicht bald besser, wird das unbegrenzte Vertrauen der Fidesz-Anhängerschaft schwinden.

Darüber, wie die Regierung zu ihren Entscheidungen gelangt, wird kein Historiker der Zukunft eine angemessene Primärquelle finden. Seit es in Ungarn selbstverantwortliche Regierungen gibt, also seit 1848, wurde über deren Sitzungen Protokoll geführt. Damit ist es jetzt vorbei. Lediglich eine unter 50jährige Geheimhaltungspflicht gestellte »Zusammenfassung« wird niedergeschrieben. In der Geschichte Ungarns geschieht dies zum zweiten Mal. In beiden Fällen heißt der Regierungschef Viktor Orbán.

* Sándor Horváth ist freier Journalist und Musiker. Er lebt in Budapest und Berlin

Aus: junge Welt, 6. September 2010



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