Kiew vor kaltem Winter
Das Problem der Energiebeschaffung in der Ukraine wird größer – und weitet sich zu einer Währungskrise aus
Von Reinhard Lauterbach *
Es begann im Juli: Erst in Kiew, dann auch in anderen ukrainischen Großstädten wurde die zentrale Warmwasserversorgung abgeschaltet. Das konnte – und sollte – erst niemandem weiter auffallen, denn es ist in der Ukraine ebenso wie in Rußland seit Jahrzehnten üblich, daß im Hochsommer das warme Wasser für Wartungsarbeiten an den Netzen für zwei bis drei Wochen abgestellt wird. Daran sind die Menschen gewöhnt, und weil viele die Zeit ohnehin auf der Datscha verbringen, sind die Auswirkungen begrenzt.
Diesmal aber wird das warme Naß aus der Leitung länger auf sich warten lassen. Denn die Abschaltung wurde nicht mit der Netzwartung begründet – im Gegenteil, Vertreter städtischer Wasserwerke warnten sogar vor Korrosion der Netze bei längerem Stillstand. Es geht vielmehr darum, Gas zu sparen. Denn die Ukraine steht in der kommenden kalten Jahreszeit vor einer schlechten Versorgungslage bei Energierohstoffen. Die Kohleproduktion des Donbass ist durch den Bürgerkrieg zumindest stark eingeschränkt, und was das Erdgas angeht, so liefert Rußland seit Juni nur noch diejenigen Mengen, die im Transit nach Westeuropa weitergeleitet werden. Der Grund sind nach Angaben Rußlands unbeglichene ukrainische Schulden in Höhe von 5 Milliarden US-Dollar. Darüber hinaus hat die ukrainische Seite bei den Verhandlungen im Frühjahr auf eine riskante Strategie gesetzt: Kiew hatte sämtliche Kompromißangebote der russischen Seite zurückgewiesen, in der Hoffnung, seine westlichen Schutzpatrone oder internationale Schiedsgerichte würden für das Land noch günstigere Konditionen herausschlagen. Eine Hoffnung, die sich bisher nicht bestätigt hat; der EU ist letztlich das eigene Hemd näher als der ukrainische Rock, und die Schiedsgerichtsverfahren können Jahre dauern.
Dreiste Kalkulation
In seiner Not ist Kiew inzwischen bereit, einen der wenigen für den Staatshaushalt lukrativen Bestandteile seiner Volkswirtschaft teilweise aus der Hand zu geben: das Gastransportsystem. Die mehreren tausend Kilometer Pipeline könnten zu bis zu 49 Prozent an Konsortien aus der EU und den USA gehen, bot Premierminister Arseni Jazenjuk vor einigen Wochen an. Eine Kehrtwende der bisherigen ukrainischen Position, das Leitungsnetz als Unterpfand nationaler Souveränität zu betrachten. Angesichts des erheblichen Sanierungsbedarfs der Leitungen und des hohen Konfliktpotentials mit Rußland hat das Kiewer Angebot zumindest in Europa bisher keinen großen Zuspruch gefunden. Zumal auch in Brüssel bekannt ist, daß Kiew sich in diesem Jahr noch weniger als bei früheren Gaskrisen scheuen wird, Gas zu stehlen, das es nicht bezahlen kann.
Diesmal ist Kiews Kalkulation noch dreister: Die EU soll das Gas nicht mehr an der eigenen Grenze zur Ukraine kaufen, sondern an der ukrainischen Grenze zu Rußland. Damit müßte die EU den ukrainischen Gasklau entweder auf die eigene Kappe nehmen oder gleich entsprechend größere Mengen bei Gasprom abnehmen. Beides liefe de facto darauf hinaus, daß die EU die Gasrechnung der Ukraine übernimmt. Angesichts dieser Rahmenbedingungen ist wenig erstaunlich, was ukrainische Politiker in diesen Tagen enttäuscht feststellen: Auch die sogenannten Reverse-Flow-Lieferungen von russischem Gas über unbenutzte Leitungen aus den östlichen EU-Staaten an die Ukraine werden nur gegen Vorkasse stattfinden, also zu denselben Konditionen, die auch Gasprom Kiew abverlangt. Und die Slowakei, über deren Territorium diese Rücklieferungen im wesentlichen verlaufen sollen, mußte von Brüssel nachdrücklich aufgefordert werden, dieser Lösung zuzustimmen. Zwar begann in diesen Tagen in bescheidenem Umfang der Testbetrieb einer zuletzt stilliegenden und für die Rückpumpaktion reaktivierten Pipeline vom slowakischen Vojany nach Uschgorod im äußersten Südwesten der Ukraine. Doch die volle Leistung soll die Röhre erst im kommenden Frühjahr erreichen; für den nächsten Winter löst sie das Problem also nicht.
Fehlende Devise
Eines hat die heranreifende Gaskrise in der Ukraine schon jetzt bewirkt: der Devisenmarkt des Landes ist aus dem Gleichgewicht gebracht. Der Kurs der Landeswährung Griwna gegenüber dem US-Dollar erreicht fast täglich neue Tiefststände; seit Jahresbeginn sank er ihm gegenüber um etwa 70 Prozent. Den Grund verrieten ukrainische Banker vor ein paar Tagen der Presse, weil sie ihre eigenen Geschäfte bedroht sahen: die staatliche Gasimportgesellschaft Naftogas kauft offenbar US-Dollar zusammen, wo immer sie sie kriegen kann. Vor einigen Wochen hatte die Regierung das Stammkapital des Unternehmens um 63 Milliarden Griwna (entspricht etwa 4,8 Milliarden US-Dollar) erhöht, und zwar in Staatsanleihen, die die Regierung in Inlandswährung gegeben hatte. Die damit verbundene Auflage für Naftogas: Reserven von fünf Milliarden US-Dollar aufzubauen. Jene Summe, die die Ukraine Rußland schuldet und im Frühjahr mit stolzer Geste nicht bezahlen wollte. Man richtet sich wohl im stillen darauf ein, daß diese Position nicht durchzuhalten sein wird.
Die ukrainische Nationalbank aber kann und will diese Devisen nicht zur Verfügung stellen. Sie entsprechen einem Drittel ihrer Reserven, die ohnehin jeden Monat um eine Milliarde US-Dollar abnehmen. Außerdem sind diese bereits zur Rückzahlung alter Kredite an den Internationalen Währungsfonds verpfändet. Naftogas bleibt also nur die Option, sich die Devisen auf dem Interbankenmarkt zu beschaffen, und zwar im Tausch gegen eben jene Griwna-Staatsanleihen, die die Regierung dem Unternehmen überschrieben hat. Kiew spekuliert also gegen die eigene Währung und drückt den Banken Anleihen mit der eingebauten Option der Entwertung auf, und Naftogas verpulvert sein gerade erst aufgestocktes Eigenkapital zur Bezahlung von Altschulden. Kurz gesagt: Die Ukraine lebt von der Substanz.
* Aus: junge Welt, Donnerstag 21. August 2014
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