Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Soldatenurlaub in der Ukraine?

Widersprüchliche Meldungen über russische Einsatzkräfte / Kreml will »Verluste« prüfen

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Russland gerät zunehmend unter Verdacht, Soldaten in der Ukraine einzusetzen. Unbewiesen ist noch der Einsatz regulärer Truppen.

Nicht irgendwo, sondern im russischen Staatsfernsehen ließ sich Alexander Sachartschenko, einer der Führer der »Donezker Volksrepublik« Mittwochabend einen Satz entlocken, der Kreml, Außenamt und Verteidigungsministerium in Erklärungsnotstand bringt. Nicht nur Freiwillige aus Russland, sagte der Rebellenführer, der dabei pikanterweise im Kampfdress russischer Luftlandeeinheiten mit blauem Barett posierte, kämpften auf Seiten der Separatisten. Auch Berufssoldaten, von denen einige eigens dazu Urlaub genommen hätten. Ohne sie würde man es schwer haben gegen die regulären ukrainischen Truppen.

Kurz zuvor hatten die Separatisten die Einnahme der südostukrainischen Hafenstadt Nowoasowsk bekannt geben. Sie liegt etwa 100 Kilometer von den Rebellenregionen entfernt. Bis zur russischen Grenze dagegen sind es nur zehn Kilometer. Eigentliches Ziel der »Offensive« ist nach Darstellung der Separatisten die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer. Dort tobten schon im Frühjahr erbitterte Kämpfe.

Moskau, so sagte der kritische russische Politikwissenschaftler Stanislaw Belkowski bereits damals, werde versuchen, mit Hilfe der prorussischen Milizen der Ukraine den gesamten Zugang zum Schwarzen und Asowschen Meer zu sperren. NATO-Kriegsschiffe könnten dann, sollte Kiew dem westlichen Militärbündnis beitreten, dort nicht stationiert werden. Vor allem aber bekämen sowohl die Krim als auch die von der Republik Moldau abgespaltene Dnjestr-Republik, die von der Ukraine umschlossen sind, durch diesen Korridor direkte Grenzen zu Russland.

Moskau, versicherte Außenminister Sergej Lawrow am Mittwoch erneut, habe kein Interesse an einem Zerfall der Ukraine. Auch OSZE-Beobachter im Krisengebiet haben bisher keine Verschiebung russischer Truppen auf ukrainisches Gebiet registriert. Nur die russischen Grenzschützer, erklärte OSZE-Missionschef Paul Picard, seien bewaffnet. Das würden die Dienstvorschriften jedoch ausdrücklich vorsehen.

Interventionsvorwürfe des Westens dementiert auch das russische Verteidigungsministerium. Wahr sei allerdings, dass sich zehn russische Fallschirmjäger beim Dienst an der Grenze versehentlich auf ukrainisches Gebiet »verlaufen« hätten. Sie hätten bei der Festnahme keinen Widerstand geleistet und würden inzwischen in Kiew vernommen. Dort wurden sie gedemütigt im Fernsehen präsentiert.

Die Festgenommenen – auf diesen Begriff legt Kiew großen Wert – seien keine Kriegsgefangenen, die Ukraine befinde sich mit Russland nicht im Kriegszustand. Kritische Öffentlichkeit in Russland sieht das anders und fühlt sich an die frühe Phase des Afghanistankrieges erinnert. Damals waren Kreml und Verteidigungsministerium noch krampfhaft bemüht, Verluste zu vertuschen.

Russische soziale Medien sind seit Tagen voll von Berichten über Dutzende in der Ukraine verletzter, vermisster und toter Soldaten. Zwei davon seien in Pskow in Nordwestrussland in aller Stille nur unter Teilnahme der engsten Angehörigen beigesetzt worden. Journalisten, die Details recherchieren wollten, bekamen Morddrohungen.

Mütter von Fallschirmjägern berichteten bei Radio »Echo Moskwy«, ihre Söhne hätten sie vergangene Woche letztmalig angerufen: Ihre Einheiten seien nach Süden verlegt, Kennzeichen ihrer Fahrzeuge übermalt worden. Das genaue Einsatzziel habe man ihnen nicht genannt, auch hätten Offiziere ihnen die Papiere und meist auch das Handy abgenommen.

Inzwischen habe auch der Stab der im zentralrussischen Kostroma stationierten Fallschirmjägerdivision »Verluste« bei den Kämpfen in der Ukraine eingeräumt, hieß es. Entsprechende Informationen, so Kremlsprecher Dmitri Peskow, würden »sorgfältig« geprüft.

* Aus: neues deutschland, Freitag 29. August 2014


Russenalarm in Kiew

Ukrainischer Präsident Poroschenko meldet »Invasion«. Moskau und Widerstandsbewegung im Donbass dementieren. Armee in Auflösung

Von Reinhard Lauterbach **


Die ukrainische Regierung hat Rußland vorgeworfen, mit regulären Truppen die Grenze überschritten zu haben. Präsident Petro Poroschenko veröffentlichte am Donnerstag auf seiner Webseite die Aussage, es habe »eine Verlegung russischer Truppen auf das Gebiet der Ukraine« gegeben. Sie hätten im Süden des Donbass die Belagerung ukrainischer Einheiten bei Ilowajsk verstärkt. Bei einem dramatisch inszenierten Auftritt auf dem Kiewer Flughafen sagte er eine geplante Reise in die Türkei ab und sprach von einer »Invasion«. Bereits am Mittwoch hatten Kommandeure ukrainischer Freiwilligenbataillone behauptet, der jüngste Vorstoß der Aufständischen zum Asowschen Meer sei das Werk russischer Truppen. Direkte Beweise in Form von Bildern der angeblichen russischen Truppen lieferte Kiew bisher nicht. Die in die grenznahe Küstenstadt Nowoasowsk eingedrungenen Panzer trugen nach Aussagen von Augenzeugen Fahnen der »Volksrepublik Donezk«. Deren »Ministerpräsident« Olexander Sachar­tschenko räumte ein, daß Russen auf seiten der Aufständischen kämpfen. Es seien aber keine regulären Truppen, sondern Freiwillige und – sofern es Soldaten seien – solche, die ihren Urlaub »statt am Strand an der Seite ihrer russischen Brüder« verbrächten.

Rußland hat auf allen Ebenen die Vorwürfe Poroschenkos über das angebliche Eindringen seiner Truppen dementiert. Moskaus Botschafter bei der OSZE, Andrej Kelin, sprach von »mythischen Kolonnen«, die niemand gesehen habe, weil es sie nicht gebe. Das stets stramm antirussische Außenministerium Litauens verurteilte dagegen die »offenkundige Invasion« Rußlands und ging damit sogar noch über die Wortwahl Poroschenkos hinaus. Der ukrainische Botschafter bei der EU forderte diese auf, die Lage in der Ukraine zu einem der Themen ihres am Wochenende stattfindenden Gipfeltreffens zu machen. Ministerpräsident Arseni Jazenjuk rief die »westlichen Partner« Kiews auf, jetzt noch entschiedener sämtliche Vermögensgegenstände Rußlands zu blockieren.

Die verbale Eskalation seitens des offiziellen Kiew kommt zu einem Zeitpunkt, in dem neben der militärischen auch die innenpolitische Lage für die herrschenden Oligarchen schlecht ist. Mit dem inzwischen auch von Kiew eingeräumten Fall von Nowoasowsk kontrollieren die Aufständischen die gesamte Südgrenze des Donbass zu Rußland. Die Einkesselung starker ukrainischer Truppen vor Ilowajsk führt im übrigen zu politischen Turbulenzen in Kiew. Dort demonstrierten am Donnerstag etwa 1000 Nationalisten vor dem Generalstab. Sie forderten, die Eingeschlossenen unverzüglich zu befreien. Ein Vertreter der Demonstranten erhielt auf die Frage, wann die Hilfe komme, vom Generalstab die Antwort, die dritte Mobilisierungswelle sei im Gang. Die Antwort der Demonstranten war bitteres Gelächter.

Träfe die Aussage des Militärvertreters zu, hätte die ukrainische Armee praktisch keine Reserven mehr. Das wäre angesichts der anhaltenden Auflösungserscheinungen plausibel. Ein ganzes Bataillon der Territorialverteidigung ist kürzlich von der Front desertiert und konnte erst mehrere hundert Kilometer im Hinterland gestoppt werden. Nach Verhandlungen mit dem Kommandeur der Landstreitkräfte persönlich gaben die Meuterer ihre schweren Waffen ab und wurden dafür nach Hause gelassen. Im Donbass traten weitere 60 ukrainische Soldaten auf russisches Gebiet über und baten um Asyl.

** Aus: junge Welt, Freitag 29. August 2014


Verbale Eskalation

Kiew wirft Moskau Invasion vor

Von Reinhard Lauterbach ***


Der am Donnerstag vom ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko ins Netz gestellte Bericht über eine russische Panzerkolonne ist nicht der erste. Schon vor einigen Wochen hatte die ukrainische Seite behauptet, eine solche Fahrzeugkolonne gestoppt und zerstört zu haben. Beweise? Fehlanzeige. Auch in diesem Fall gibt es außer Poroschenkos Behauptung, es sei so, keinen harten Beleg für ein Eindringen russischer Streitkräfte in den Donbass. Ob die zehn Soldaten, die Kiew seit Tagen mit immer neuen Enthüllungen und »Geständnissen« durchs Netz treibt, sich wirklich verirrt haben, mag dahingestellt bleiben; jedenfalls waren sie nicht die zwei Panzerkolonnen, denen Kiew die Verstärkung der Belagerung von Ilowajsk und damit seine bevorstehende nächste schwere Niederlage zuschreibt.

Es stimmt schon: Der Krieg im Donbass ist längst internationalisiert. Auf seiten der Aufständischen kämpfen – stolz präsentiert – einzelne Franzosen, Serben und Spanier, vor allem aber zahlreiche russische Freiwillige. Daß die Regierungstruppen durch bezahlte Söldner amerikanischer und britischer Sicherheitsfirmen verstärkt werden, ist ebenfalls kein Geheimnis. Über die Anwesenheit von Polen gibt es Zeugenaussagen, die von Italienern und Kroaten geben italienische Presseberichte wider. Einen schwedischen Nazi und ehemaligen Scharfschützen der Armee haben sogar schon Süddeutsche und Frankfurter Rundschau beim Bataillon »Asow« gesichtet und interviewt. Ein ukrainischstämmiger US-Bürger und Absolvent der Militärakademie West Point, der sich nach Zeugenaussagen durch besondere Brutalität gegenüber gefangenen Aufständischen ausgezeichnet haben soll, ist vor einigen Tagen bei Ilowajsk gefallen.

Heißt das jetzt, daß Schweden und Italien in der Ukraine interveniert haben? Das wäre überinterpretiert und verwischt den Unterschied zwischen einem Privatmenschen, der sich auf eigenes Risiko in den Kampf begibt, und der Einmischung von Staaten. Bei Russen, die sich zur Unterstützung der von ihnen als Landsleute wahrgenommenen Bewohner des Donbass melden, wird aber alsbald unterstellt, dies geschehe auf Initiative der Moskauer Regierung. Mit ihrer Duldung gewiß; aber das könnte man dann auch den Behörden Schwedens vorwerfen, die den Nazi Anders Skillt ausreisen ließen. An dieser Stelle merkt man, wie absurd die Debatte wird, sobald man sie im Detail führt.

Die ukrainischen Machthaber versuchen angesichts militärischer Mißerfolge und einer im Sturzflug befindlichen Volkswirtschaft krampfhaft, einen vorführbaren Schuldigen an dieser doppelten Misere zu finden. Noch können sie hoffen, mit dieser Strategie durchzukommen. Denn die Demonstrationen in Kiew sind zwar für die aktuelle Regierungsmannschaft unangenehm. Aber die Demonstranten werfen den Machthabern nicht den Krieg vor, sondern daß er ungeschickt und inkonsequent geführt werde.

*** Aus: junge Welt, Freitag 29. August 2014 (Kommentar)

Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




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