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Das Schweigen der Ermittler in Odessa

Ukrainische Behörden zeigen kein Interesse an der Aufklärung des gewaltsamen Todes von 42 Regierungsgegnern

Von Ulrich Heyden, Odessa *

Die Menschen in der Hafenstadt Odessa waren fröhlich und weltoffen. Doch nach dem Brand im Gewerkschaftshaus will niemand mehr über Politik reden. Proteste werden unterdrückt.

Lidia redet schnell. So als hätte sie nur noch wenig Zeit, etwas zu erzählen. Dabei gibt es keinen Grund zur Eile. Es ist Sonntag. Wir sitzen auf einer Parkbank in Sichtweite des ausgebrannten Gewerkschaftshauses von Odessa. Vor dem Gebäude haben sich – wie jeden Sonntag – regierungskritische Aktivisten und Angehörige der Todesopfer des mörderischen Anschlages vom 2. Mai dieses Jahres versammelt. Über diese Ereignisse kommt Lidia, die den Brand des Gebäudes gemeinsam mit 50 anderen Menschen auf dem Dach des Gewerkschaftshauses überlebt hat, wohl niemals hinweg.

Pakete packen für Inhaftierte

Ob sie auch mal zum Baden an einen der schönen Strände von Odessa geht? Dort spielen Kinder im Sand und lachen. Könnte sie nicht mal eine Abwechslung gebrauchen? Lidia, die als Lehrerin arbeitet, hält es für wichtiger, »zu den Aktionen der Regierungsgegner zu kommen und Pakete für die Inhaftierten zu packen«.

Dass am 2. Mai mindestens 48 Menschen starben, sechs bei einer Straßenschlacht und 42 Menschen bei einem Brand im Gewerkschaftshaus, dass ein rechter Mob das Gewerkschaftshaus mit Molotow-Cocktails anzündete, darüber berichten die ukrainischen Medien nicht. Nur das kritische Internet-Portal von Odessa – Timer.od.ua – stellt Fragen zu der Tragödie. Nach Angaben der Regierungskritiker starben im Gewerkschaftshaus über 100 Menschen.

Auch von dem brutalen Vorgehen der ukrainischen Armee in der Ostukraine erfahren nur die Bürger, die eine Satellitenantenne haben und russische Fernsehkanäle empfangen können. Die ukrainischen Medien berichten, »Terroristen« und »Separatisten« würden im Donbass Wohnhäuser in Trümmer schießen, was die ukrainische Armee und die Nationalgarde zu verhindern suchten.

Die Ermittlungen zum 2. Mai kommen nicht voran. Die Staatsanwaltschaft hat an Ermittlungen offenbar kein Interesse. Eine Spurensicherung gab es nicht. Nur einige Tage nach dem Brand arbeiteten Ermittler in dem Gebäude. Den ganzen Mai über war das ausgebrannte Gebäude faktisch unbewacht und für Trauernde, Neugierige und alle anderen auch zugänglich. Tagsüber dringt aus dem ausgebrannten Mittelteil des Gewerkschaftshauses Baulärm. Der Mittelteil, in dem das Feuer wütete, wurde ausgeräumt und Bauarbeiter renovieren jetzt die Räume.

Die staatlichen Stellen wollen die Erinnerung an das Massaker im Gewerkschaftshaus offenbar auslöschen. Zwei Tage nach dem Absturz der malaysischen Passagiermaschine am 17. Juli in der Ostukraine räumte die Stadtreinigung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die liebevoll mit Fotos, Kerzen und Lichtern improvisierte Gedenkstätte für die Toten des Brandes vor dem Gewerkschaftshaus.

Die zwölf Personen, die wegen der Ereignisse am 2. Mai im Gefängnis sitzen, sind allesamt Regierungsgegner. Vom Rechten Sektor ist niemand in Haft. 43 Personen stehen wegen der Ereignisse unter Hausarrest, davon nur zwei Rechte.

Freispruch für rechten Schläger

Der einzige Rechte, Wsjewolod Gontscharewski, wurde Ende August freigesprochen. Das Gericht setzte eine frühere Gerichtsentscheidung außer Kraft, nach der Gontscharewski eine Gefängnisstrafe von zwei Monaten absitzen sollte. Der rechte Aktivist hatte nach Augenzeugenberichten auf Menschen eingeschlagen, die aus dem brennenden Gewerkschaftshaus gesprungen waren und verletzt vor dem Gebäude lagen.

Während rechte Schläger nicht verfolgt oder nach kurzer Haft freigelassen werden, geht die Polizei in Odessa immer wieder gegen Personen vor, die das schwarz-orange St. Georgs-Band an der Jacke tragen – das Erkennungszeichen der russlandfreundlichen Aktivisten. Wer das Bändchen trägt, wird aufgefordert, es abzunehmen. Als Aktivistinnen am 2. September vor dem Gewerkschaftshaus von Odessa mit einem Straßentheater an das Massaker erinnern wollten, wurden sie von Polizisten rüde bedrängt, konnten ihr Kurzschauspiel dann aber doch noch aufführen.

Touristen aus Russland, die sonst in Massen nach Odessa kommen, blieben diesen Sommer aus. Viele Hotels und Pensionen stehen leer. Das passe nicht zu Odessa, sagen die Leute auf der Straße. Die Hafenstadt war immer gastfreundlich und stolz auf ihre Verbindungen in alle Welt. In der 1778 von Russlands Zarin Katharina gegründeten Stadt lebten Russen, Ukrainer, Bulgaren, Moldauer, Armenier und Juden bisher friedlich zusammen. Ein Taxifahrer, der geschickt das Straßengewirr der Altstadt durchquert, scherzt: »In der Sowjetunion lebten 200 Nationalitäten. In Odessa lebten 203.«

Die aktiven Regierungsgegner hätten jetzt Angst, erzählt die Lehrerin Lidia. »Alle zwei, drei Tage werden vom Geheimdienst Menschen verhaftet.« Begründet werde das mit dem Verdacht auf Kontakte zu Separatisten. Lidia will nicht, dass ihr wirklicher Name in der Zeitung erscheint. Noch nicht mal ein Aufnahmegerät darf ich anstellen.

Der Terror wurde importiert

Vertreter der Regierung in Kiew behaupten, die Regierungsgegner im Gewerkschaftshaus hätten sich am 2. Mai selbst angezündet. Das Ganze sei ein von Russland angezetteltes Komplott, behauptete Parlamentspräsident Aleksander Turtschinow. Beweise für diese Behauptung legte er bis heute nicht vor. Dass man unter den Toten im Gewerkschaftshaus keinen einzigen Staatsbürger Russlands fand – die meisten Toten stammten aus Odessa – ging in der einseitigen Berichterstattung der ukrainischen Medien unter.

Was passierte wirklich in Odessa? Schon mittags sammelten sich 1000 Fußballfans und aus der ganzen Ukraine in einem Sonderzug und mit Bussen angekarrte Mitglieder von Maidan-Hundertschaften und Aktivisten des Rechten Sektors zu einem »Marsch für eine einige Ukraine«. Die rechten Aktivisten waren mit Helmen, Schildern, Schlagstöcken, Luftdruckpistolen und offenbar auch scharfen Waffen ausgerüstet. Schon das zeigte, dass sie nicht nur nach Odessa gekommen waren, um für eine »einige Ukraine« zu demonstrieren. Sie wollten den prorussischen Kräften in der Stadt, die vor dem Gewerkschaftshaus ein Zeltlager errichtet hatten, eine schlagkräftige Lektion erteilen.

Als es am späten Nachmittag des 2. Mai bei einer Straßenschlacht zwischen Fußballfans und rechten Aktivisten auf der einen und Hunderten Regierungsgegnern auf der anderen Seite zu sechs Toten kam, stieg der Hass auf die »Separatisten« ins Unermessliche. Die Todesschützen feuerten hinter den Reihen der Polizei und von einem Balkon aus. Per Megafon rief der Funktionär der Klitschko-Partei Udar, Andrej Jusow, dazu auf, zum Zeltlager der Regierungsgegner vor dem Gewerkschaftshaus zu gehen. Dort kam es dann zu einem Massaker.

»Ich suchte einen Teppich«

Im Gegensatz zu vielen anderen Augenzeugen hat der ehemalige Seemann Viktor Trubtschaninow keine Angst, seinen wirklichen Namen zu nennen. Sein ganzes Leben fuhr der jetzt 73-Jährige als Schiffselektroniker auf den Weltmeeren und hat so manchen schweren Sturm erlebt. Er erinnert sich, dass er im Erdgeschoss einen Mann sah, der brannte, weil er von einem Molotow-Cocktail getroffen wurde. Er habe dann einen Teppich gesucht, um zu helfen, um zu löschen, aber nichts dergleichen gefunden.

Das Licht war ausgefallen, und »in dem dunklen Gebäude gab es furchtbare Schreie und Flüche«, erinnert sich Viktor. Ob auch Leute vom Rechten Sektor fluchten, kann er nicht sagen. In dem Chaos habe er Freund und Feind nicht identifizieren können. Nach etwa einer halben Stunde gelang es dem noch rüstigen Mann, aus dem ersten Stock ins Freie zu springen. Leute mit Knüppeln hätten versucht, ihn zu fangen, aber er sei Richtung Bahnhof entwischt.

Viktor ist sich sicher, dass die Angreifer vom Rechten Sektor, die über Seiteneingänge in das Gebäude eingedrungen und auf Menschenjagd gegangen waren, im Auftrag der Regierung in Kiew handelten. »Kiew wollte Odessa mit seinem Zeltlager eine Lektion erteilen.«

Wird der Brand jemals aufgeklärt?

Juri Tkatschew, Mitglied des von Journalisten aus Odessa gebildeten »Untersuchungsausschusses 2. Mai«, schreibt im Internetportal Timer, wichtige Daten würden von der Innenbehörde »vor der Öffentlichkeit versteckt«. Die Polizei argumentiere mit dem »Schutz der Ermittlungen«. Der Polizeichef von Odessa verweigerte vor dem Ausschuss der Stadtratsabgeordneten die Auskunft, wie viele Untersuchungsverfahren es zu dem Tod von Regierungskritikern und wie viele zum Tod von Maidan-Anhängern gebe, erzählt Igor Jakowlew, Mitglied der Kommunistischen Partei und des Untersuchungsausschusses der Abgeordneten.

Es war wohl ein Akt des Protestes, dass sich der Ermittlungsausschuss der Abgeordneten Ende August auflöste. Eine sinnvolle Arbeit sei nicht möglich, weil die Innenbehörde und die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungsergebnisse nicht herausgeben, zitierte Timer einen Vertreter des Ausschusses.

Der Druck auf die drei Ermittlungsausschüsse – einer war noch von Abgeordneten der Werchowa Rada in Kiew gebildet worden – ist groß. Führende Politiker haben die Ereignisse vom Mai in einer Weise bewertet, die eine unvoreingenommene Untersuchung fast unmöglich macht.

Der inzwischen abgesetzte Gouverneur von Odessa, Wladimir Nemirowski, bezeichnete das Vorgehen der Pro-Kiew-Demonstranten am 2. Mai als »rechtmäßig«. Die »Demonstranten« hätten »bewaffnete Terroristen neutralisiert«. Die Chefin der Vaterlandspartei und Ex-Premierministerin Julia Timoschenko dankte öffentlich den Pro-Kiew-Demonstranten, dass sie die Besetzung von Verwaltungsgebäuden wie in Lugansk verhindert hätten. Ein Treffen des Autors mit Vertretern der Stadtverwaltung kam trotz Anmeldung nicht zustande.

Dass Stadtväter Journalisten ausweichen, scheint verständlich. Die Ukraine ist weiter denn je von europäischen Werten entfernt. Viele Odessiten glauben, dass sich zu Beginn der Heizperiode die Verdopplung der Heiz-, Strom- und Wasserkosten bemerkbar macht und es zu einer Protestwelle gegen die Sparpolitik der Regierung kommt. Das will Kiew nicht zulassen und ließ schon mal Schützenpanzerwagen mit ukrainischer Flagge durch die Stadt fahren. »So leben wir im friedlichen Odessa«, lautete der sarkastische Kommentar eines Augenzeugen.

Leftvision arbeitet mit Ulrich Heyden an einen Dokumentarfilm über das Massaker von Odessa. Hier wird für die Finanzierung des Films geworben. www.youtube.com [externer Link],
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* Aus: neues deutschland, Montag 8. September 2014


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