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"Die Faschisten und Rechten kamen nicht aus Odessa"

Gespräch mit Oleg Musyka. Über "Prorussen" und "Separatisten" in der Ukraine, die Anti-Maidan-Bewegung und das Massaker am 2. Mai in seiner Heimatstadt *


Oleg Musyka ist Mitglied der ukrainischen Partei Rodina und war Aktivist der Anti-Maidan-Bewegung auf dem Platz Kulikowo Polje in Odessa, deren Zeltstadt am 2. Mai von Neofaschisten zerstört wurde. Dabei kamen nach offiziellen Angaben über 40 Menschen um. Gegenwärtig begleitet er als Augenzeuge eine Fotoausstellung mit Bildern vom Brand des Gewerkschaftshauses in Odessa und dem Massaker an diesem Tag durch Europa.


Als russischsprachiger Ukrainer sind Sie für die meisten deutschen Medien ein »Prorusse«. Dieses Wort hört man hier gegenwärtig in jeder Nachrichtensendung. »Prorusse« zu sein ist schon schlimm, noch schlimmer ist aber der »prorussische Separatist«. Sind Sie einer?

Odessa hat eine sehr lange Geschichte. Sie geht zurück auf die Zarin Katharina II., die 1794 anwies, die Stadt in der Nähe einer eroberten osmanischen Festung anzulegen, und auf Fürst Grigori Alexandrowitsch Potjomkin. Er hatte schon für die Besiedlung des 1765 gegründeten Gouvernements Neurußland gesorgt. Odessa ist aber nicht prorussisch, es ist einfach Odessa oder odessitisch, wenn ich das so sagen darf. Russisch ist die Muttersprache der Bevölkerung von Odessa. Und russisch ist auch die Kultur der Stadt. Sie geht zurück auf Dichter wie Alexander Puschkin und Michail Lermontow, auf russische Maler und ihre Bilder und auf russische Filme wie »Panzerkreuzer Potjomkin«, dessen berühmteste Szenen in Odessa spielen. In Odessa ist eine eigene russische Kultur gewachsen.

Was den Odessaern schwer im Magen liegt, ist das Wort Separatist. Wenn wir auch da in die Geschichte zurückgehen wollen, müßten wir mit dem 30. November 2013 beginnen und dem Kiewer Maidan. Dann wären die Leute aus dem westukrainischen Gebiet Iwano-Frankowsk die ersten Separatisten. Denn als die Ereignisse auf dem Maidan nicht die von ihnen gewünschte Richtung nahmen, erklärten der Bürgermeister der Stadt und der Gouverneur des Bezirks, daß dieser aus der Ukraine austritt, und sie hißten auf dem Rathaus von Iwano-Frankowsk die EU-Flagge.

In Kiew ging es im November 2013 um die Konfrontation mit Präsident Wiktor Janukowitsch. Der Südosten der Ukraine hielt sich zunächst zurück, denn die soziale und ökonomische Politik seiner Regierung wurde in den Landesteilen unterschiedlich aufgenommen. Man sah dort das Hauptproblem nicht im Verhältnis zu diesem Präsidenten. Als sich die politische Ausrichtung auf dem Maidan im Februar 2014 drehte und diejenigen durch einen bewaffneten Putsch, einen Militärputsch an die Macht kamen, die sie jetzt haben, änderte sich alles. Denn das, was die EU-Vertreter mit Janukowitsch vereinbart hatten, wurde nicht eingehalten. Diese neuen Kräfte hatten keine wirtschaftlichen Angebote für die gesamte Ukraine. Sie arbeiteten allein mit Ideologie und den Massenmedien. Es passierten solche Dinge, daß vier Abgeordnete der Partei Swoboda in das Büro des Chefredakteurs des ersten Programms des ukrainischen Fernsehens eindrangen, ihn verprügelten, als »verfluchten Moskowiter« titulierten und ihm vorwarfen, er lasse ständig russische Filme ausstrahlen. Sie zwangen ihn vor laufender Kamera, sein Entlassungsgesuch zu schreiben. Die Bevölkerung im Osten und Süden des Landes hat das als Angriff auf sich selbst betrachtet.

Am zweiten oder dritten Tag des Machtwechsels nahm die Rada (das Parlament, jW) den Beschluß zur Veränderung des Status der russischen Sprache an. Ab diesem Zeitpunkt warteten die Menschen im Osten und Süden nur noch auf die nächsten Schritte, die die Regierung gegen sie unternehmen würde. In fast allen großen Städten dort – Odessa, Nikolajew, Mariupol, Lugansk, Charkow, Dnepropetrowsk usw. – fanden Manifestationen der Bevölkerung statt, auf denen nur eine Frage gestellt wurde: Was habt ihr mit uns vor? Die Antwort der neuen Politiker war: Russisch könnt ihr in eurer Küche sprechen, aber wenn ihr aus dem Haus geht, sprecht ihr Ukrainisch. So kam es dazu, daß viele im Osten und Süden in der Westukraine nur noch Faschisten sahen, obwohl es dort natürlich vernünftige Menschen gibt.

Da die neue Macht zu keinem Dialog mit uns bereit war, haben wir Forderungen aufgestellt, über die in einem ­ Referendum entschieden werden sollte. Das war erstens: Wohin soll sich die Ukraine wirtschaftlich orientieren – in Richtung EU oder in Richtung auf die Zollunion von Rußland, Kasachstan und Belarus? Zweitens: Föderalisierung. Wir erklärten, wenn ihr eine andere Ideologie habt als wir, dann wollen wir größere Autonomie, aber die Ukraine als Staat soll erhalten bleiben. Behaltet in der Westukraine euren Stepan Bandera (1909–1959, ukrainischer Nationalist und Nazikollaborateur, in der Westukraine als Held verehrt und mit zahlreichen Denkmälern geehrt, jW), wenn ihr der Meinung seid, daß er das Land einst geeint hat. Wir in der Ostukraine müssen aber die Erlaubnis haben, Georgi Schukow (1896–1974, sowjetischer Marschall, jW), Nikolai Watutin (1901–1944, sowjetischer Armeegeneral, jW) und andere Helden des Großen Vaterländischen Krieges zu ehren. Das dritte war: Wir verlangten, daß Russisch in der Ukraine den Status einer zweiten Amtssprache erhält.

Kiew hat es abgelehnt, uns überhaupt anzuhören. Darauf hin kam es zu den Ereignissen auf der Krim.

Sind diese Forderungen offiziell in Kiew vorgetragen worden und wenn ja, von wem?

Die Kommunistische Partei der Ukraine hatte schon im Mai 2013 ein Referendum verlangt. Wir haben unsere Forderungen an die Abgeordneten der Kreis- und Bezirksparlamente zur Weiterleitung nach Kiew übergeben. Von anderen Parteien in der Rada erhielten wir keine Unterstützung, sie orientierten sich möglichst rasch um. Das bedeutete, daß unsere Forderungen im wesentlichen von sozialen Bewegungen thematisiert wurden. Ich persönlich habe mich in einer Livesendung des Odessaer Fernsehens an die Kiewer Regierung und die dortigen Medien gewandt, besonders an einen sehr bekannten Showmoderator, der große Schuld an der Spaltung der Ukraine hat. Ich habe ihm angeboten, in seiner Sendung aufzutreten und dort unsere Forderungen dazulegen. Die einzige Reaktion war, daß einer unserer Aktivisten vom Kulikowo Polje, dem Zeltlager der Anti-Maidan-Demonstranten vor dem Gewerkschaftshaus in Odessa, vom Geheimdienst SBU: verhaftet wurde. Er ist jetzt gerade freigelassen worden.

Wie entstand die Bewegung vom Kulikowo Polje?

Die Ereignisse in Kiew haben die antifaschistischen Kräfte verschiedener Organisationen in Odessa zu einem Treffen veranlaßt. Dort wurde vereinbart, die Zeltstadt auf diesem Platz im Stadtzentrum zu organisieren. Ähnliche Initiativen gab es bereits in Donezk, Charkow und anderen Großstädten des Südens und Ostens. Odessa hat wenig Industrie, das ist der Grund, warum es wesentlich schwieriger ist als in den anderen Städten, eine Massenbewegung zu organisieren. Die einzelnen Organisationen übernahmen die nötigen Arbeiten: Die einen hatten Zelte, die anderen eine Beschallungsanlage, einige kümmerten sich um die Küche, andere um die sanitären Einrichtungen.

Wann war das ungefähr?

Das war unmittelbar nach dem 22. Februar, nach dem Umsturz in Kiew. Wir hatten vereinbart, an jedem Sonntagabend eine Volksversammlung auf dem Kulikowo Polje durchzuführen. Finanziert wurde das Lager aus Spenden der Bevölkerung. Zu Beginn kamen etwa 1000 Teilnehmer. Diese Zahl stieg stetig von 2000 über 5000 bis auf 10000, an der größten Demonstration beteiligten sich 25000 Menschen. Das ist für eine Stadt wie Odessa, in der das Leben sehr gemächlich verläuft, obwohl sie eine Million Einwohner hat, sehr viel. Man hat uns dann prorussische Bestrebungen vorgeworfen, weil bei einigen unserer Veranstaltungen russische Fahnen zu sehen waren. Dort waren allerdings nicht nur diese, sondern auch die Kasachstans und die von Belarus zu sehen, also von Mitgliedsstaaten der Zollunion.

Gab es schon vor dem 2. Mai Angriffe auf die Zeltstadt?

Es gab einige Konfrontationen und Auseinandersetzungen, zum Beispiel am 10. April, dem Jahrestag der Befreiung Odessas von der faschistischen Besatzung, aber das war alles nicht schwerwiegend. Wenn ich durch die Stadt ging, wurde ich manchmal beschimpft und die Leute vom Odessaer »Euro-Maidan« wurden umgekehrt auch von unseren Demonstranten beschimpft. In Odessa gab es aber nicht viele Anhänger der Nationalisten. Deswegen haben sich die Behörden eine Aktion ausgedacht. Sie organisierten am 2. Mai in Odessa ein Ligafußballspiel zwischen Tschernormorez Odessa und FK Metallist Charkow. Dazu brachten sie viele Fußballfans aus anderen Städten nach Odessa. Ich habe selbst am Bahnhof gesehen, daß ganze Sonderzüge ankamen.

War Ihnen klar, daß an diesem Tag eine besondere Gefahr bestand?

Es gab Anzeichen. Bereits am 30. April war Andrij Parubij, der ehemalige Chef des Kiewer Maidan, und spätere Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates (geb. 1971, Anfang der 90er Jahre Mitbegründer der faschistischen Sozialnationalen Partei der Ukraine, des Vorläufers der heutigen Regierungspartei Swoboda, jW), in Odessa aufgetaucht. Er ließ an 200 ehemalige Kämpfer vom Maidan, die mit ihm oder kurz nach ihm ankamen, schußsichere Westen verteilen und sie mit Schilden, Helmen und Knüppeln ausrüsten.

Das heißt, die Atmosphäre in der Stadt änderte sich?

Sie heizte sich auf. Am 2. Mai passierte zum Beispiel folgendes: Gegenüber vom Gewerkschaftshaus am Kulikowo Polje steht das Haus der Gebietsregierung. Auf ihm war eine Überwachungskamera angebracht, die aber an diesem Tag um acht Uhr morgens abgebaut wurde. Bis gegen zwölf Uhr fuhren zweimal größere zivile Limousinen auf den Platz und hielten zur Beobachtung an. In ihnen saßen Mitarbeiter des SBU. Das wissen wir deswegen, weil die Milizionäre, die dort standen, bei der Abfahrt strammstanden.

Alle diese Kräfte, die man nach Odessa gebracht hatte – die Fußballfans und die Maidan-Kämpfer – versammelten sich auf dem Domplatz – etwas weiter weg von uns. Zu ihnen stießen die Mitglieder einer Jugendorganisation, die zunächst bei uns mitgemacht hatte, aber zwei Tage vor dem 2. Mai verschwanden. Sie zogen nun plötzlich auch zum Domplatz, so daß dort 3000 Leute versammelt waren. Sie erhielten alle rote Armbinden. Es gab unter ihnen einen Konflikt, bei dem ein Nationalist sein Leben verlor. Wichtig ist: Alles, was ich schildere, wurde live im Fernsehen übertragen. Dadurch entstand in der Bevölkerung die Stimmung: »Wir müssen dahingehen, um etwas zu tun«. Auch einige Demonstranten vom Kulikowo Polje gingen wegen des Rummels zum Domplatz. Ich selbst war auf unserem Areal und versuchte, die Leute davon abzuhalten, dorthin aufzubrechen. Da bei uns zu dieser Zeit ein Popkonzert stattfand, war der Platz ziemlich voll.

Aber die reißerischen Berichte in den Medien führten dazu, daß sich die Stimmung bei uns aufheizte. Dann traten einige führende Leute der anderen Seite in Odessa auf dem Domplatz auf und erklärten der Menge, an allem, was in der Stadt schieflaufe, seien die Demonstranten vom Kulikowo Polje schuld. Die 3000 sollten sich aufmachen und sie von dort vertreiben. Die Menge setzte sich in Bewegung, begleitet von Polizei. Wir erhielten sofort Anrufe von aufgeregten Verwandten und Freunden, die uns durchgaben, was sie im Fernsehen sahen: Die Kolonne hatte Knüppel, aber auch Schußwaffen, und sie schleppte Kisten mit Molotowcocktails. Viele flehten uns an, vom Kulikowo Polje zu verschwinden.

Warum taten Sie das nicht?

Heute ist diese Frage berechtigt. Aber meine erste Antwort lautet: Wir haben nicht erwartet, daß jemand in Lebensgefahr gerät, sondern dachten, es werde höchstens eine Prügelei geben. Zweitens: Wir sind Einwohner Odessas, aber die Faschisten und Rechten in diesem Zug, kamen von woanders. Und das Gewerkschaftshaus war für uns so etwas wie die Festung Brest zu Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 (sowjetische Soldaten kämpften dort bis Ende Juli 1941, jw). Wir dachten nie daran, daß unser Leben dort in Gefahr ist, sondern glaubten, daß wir dort wenigstens etwas Widerstand leisten könnten.

Wir haben aber rasch gemerkt, daß es ihnen nicht reichte, das Zeltlager zu zerstören. Sie wollten die Bürger von Odessa und vor allem die Demonstranten auf dem Kulikowo Polje im Sinne des Wortes zu Tode erschrecken. Das Ziel war, wenn nicht alle umzubringen waren, dann sollten so viele wie möglich sterben. Odessa sollte nie wieder wagen, gegen sie Widerstand zu leisten. Weder Polizei, die mit 200 Mann in der Nähe war, noch die Feuerwehr, die 500 Meter entfernt war, unternahmen etwas.

Sie flohen ins Gewerkschaftshaus und haben überlebt. Wie war das möglich?

Ich habe das Haus selbst mit verteidigt. Wir versuchten, die Türen zu verbarrikadieren, damit die Angreifer nicht hineinkamen. Das Gewerkschaftshaus ist ein altes sowjetisches Gebäude, in dem vorne Büros und dahinter lange Gänge sind. Von draußen wurden dann Brandbomben hineingeworfen, das heißt Armeemunition im Format 30 mal zehn Zentimeter. Das waren Granaten, die einen dunkelgelben Qualm entwickelten, der von oben nach unten strömte und Schwefel enthielt. Dieser bewirkt nach zwei bis drei Atemzügen faktisch Lungenstillstand, man erstickt. Die Polizei behauptete später, Ursache der Erstickungen sei der Rauch des Feuers, aber ich kenne mich damit etwas aus. Außerdem: Solcher Rauch steigt nach oben, dieser fiel nach unten.

Wie haben Sie geschafft zu entkommen?

Die meisten Büros waren verschlossen und die Leute mußten über die Gänge flüchten, die meisten Opfer lagen später auf den Treppen. Ich bin entkommen, weil es mir gelang, in der dritten Etage eine Bürotür einzutreten zusammen mit zwei jüngeren Leuten und einem 75jährigen Mann. Wir schlugen in dem Raum die Fenster auf, beugten uns hinaus oder stellten uns auf die Fenstersimse und bekamen auf diese Weise Luft.

Wir riefen unsere Verwandten und Freunde an und die wiederum sagten uns, daß sie ständig mit Polizei, Feuerwehr und der dringenden medizinischen Hilfe telefonierten. Aber es brannte und brannte, auch nach einer Stunde tauchte nichts vor dem Haus auf. Wären die Hilfsdienste nach zehn oder 15 Minuten dagewesen, hätten noch viele Menschen gerettet werden können. So dachten wir alle, daß unsere letzte Stunde geschlagen hat und verabschiedeten uns telefonisch von unseren Verwandten und Freunden.

Schließlich kam die Feuerwehr mit einer Leiter und zwei Löschfahrzeugen – für ein riesiges brennendes Gebäude. Als ein Feuerwehrmann über die Leiter zu uns hochgeklettert kam, befahl er uns nicht etwa kategorisch, sofort rauszukommen, sondern fragte höflich, ob wir herunter wollten. Wir sagten nein, weil wir sahen, was die unten auf dem Platz mit denen anstellten, die aus dem Haus flüchten konnten. Der Feuerwehrmann sah das auch und kletterte wortlos wieder hinunter.

Während all dieser Geschehnisse gab es weder Strom noch Wasser im Haus. Als gegen 22 Uhr wieder ein Feuerwehrmann erschien und fragte, ob wir raus wollten, schoben wir den älteren Herrn, der inzwischen durch herabfallende Deckenteile am Kopf verletzt war, hinaus. Wir dachten, daß ihm angesichts seines Alters nichts passieren würde, wie anderen drei blieben.

Als sich später der Rauch etwas verzogen hatte, riet ich den anderen beiden, das Haus zu verlassen. Ich selbst bin geblieben, weil ich wußte, daß mein Bruder noch im Gebäude war. Aber wir hatten den Kontakt verloren, und ich wollte ihn suchen. Ich habe meine Handybeleuchtung eingeschaltet und durchwanderte alle Etagen von der zweiten bis zur fünften. Deswegen habe ich die meisten der Opfer in den Räumen, auf den Gängen und Treppen mit eigenen Augen gesehen. Ich habe in ihre Gesichter geschaut, manche hatten geöffnete Augen, und in diesen Stunden ist mir klar geworden: Ich muß am Leben bleiben, um etwas zu tun. Mein Bruder lag verletzt im Krankenhaus, ihm mußte ein Bein zum Teil amputiert werden.

Dann ging das Licht an, und mir wurde klar, daß die Nationalisten inzwischen im Gebäude waren. Die haben gesehen, daß ich nicht zu ihnen gehörte, denn ich war im Unterschied zu ihnen völlig schwarz vom Ruß. Vor einer Abrechnung rettete mich nur, daß die Miliz mich sofort festnahm, mich mit anderen zu einem Revier brachte und dort verhörte. Das Urteil stand bereits fest. Um vier Uhr morgens am 3. Mai wurden wir in Zellen gesperrt und später vor Ermittler und Untersuchungsrichter geschleppt, die von uns verlangten, wir sollten Geständnisse unterschreiben. Am 4. Mai, am Sonntag, hatten wir das Glück, daß die Odessaer das Verwaltungsgebäude der Stadt stürmten und besetzten. Unter dem Druck dieses Ereignisses entschied die Miliz, uns laufenzulassen. Bis zum 22. Mai konnte ich noch in der Stadt bleiben, traf mich mit Journalisten, schrieb selbst Artikel und sprach mit vielen Leuten. Aber auf meiner Arbeitsstelle und vor meinem Wohnhaus tauchten Nationalisten aus, und es war klar, daß ich die Ukraine verlassen mußte, weil ich dort nichts mehr bewirken konnte. So haben wir die kleine »Gruppe 2. Mai« gebildet, deren Mitglieder durch Europa reisen, um von dieser Tragödie zu berichten und über das, was heute in der Ukraine geschieht. Und wir zeigen die Fotoausstellung.

Wie viele Menschen hatten sich in das Gebäude geflüchtet?

Das fragte mich auch die Polizei. Meine Antwort: In dem Haus waren mindestens 450 Menschen, etwa 150 kamen mit Verletzungen in Krankenhäuser, 116 wurden festgenommen, und wir schätzen, daß etwa 50 flüchten konnten. Ich sagte dem Polizisten: »Aus den Zahlen können Sie selbst berechnen, wie viele umgekommen sind, nach unserer Schätzung waren es zwischen 100 und 150 Menschen«. Darauf sagte er nichts und zuckte nur mit den Schultern.

Laufen Ermittlungen?

Es gibt drei Untersuchungskommissionen: eine unabhängige aus Odessaer Journalisten, eine zweite aus Abgeordneten des Bezirksparlaments und drittens den Untersuchungsausschuß der Rada in Kiew. Ergebnisse gibt es aber bis heute nicht. Das gilt auch für die Ermittlungen durch Miliz und Geheimdienst.

Können Sie sich nach einem solchen Verbrechen und nach dem Bürgerkrieg in der Ukraine ein Zusammenleben in einem Staat vorstellen?

Das hängt nicht von mir oder von uns ab, sondern zum Beispiel von Präsident Petro Poroschenko. Er hat allerdings nach der Eroberung von Slowjansk durch seine Armee festgestellt, in der Stadt hätten »Untermenschen« gekämpft. Auf solcher Basis wird ein Zusammenleben sehr schwer.

Interview: Arnold Schölzel

* Aus: junge Welt, Samstag 23. August 2014


Die Fotoausstellung »Das Massaker von Odessa« ist bis Mittwoch, dem 3. September, im Liebknecht-Haus Leipzig, Braustraße 15, zu sehen. Der Eintritt ist frei.
Die Veranstalter möchten die mehr als 50 Bilder in möglichst vielen Städten zeigen. Kontakt zu Oleg Musyka per E-Mail: sofiya_15@mail.ru



Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




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