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Sonderstatus für den Donbass

Einigung von Minsk geht weit über Waffenruhe hinaus / NATO-Staaten liefern Ukraine Präzisionswaffen

Von Klaus Joachim Herrmann *

Die Ukraine-Krise bleibt von einer Lösung noch entfernt. Doch das Minsker Protokoll bietet mehr als nur eine Waffenruhe.

Verletzungen des Waffenstillstandes für die Ostukraine wurden am Wochenende vor allem aus den Städten Donezk und Mariupol berichtet. Die Konfliktparteien, die sich am Freitag in der belorussischen Hauptstadt Minsk geeinigt hatten, beschuldigten sich gegenseitig des Bruchs der Abmachungen. Die Präsidenten Russlands und der Ukraine, Wladimir Putin und Petro Poroschenko, versicherten jedoch nach Telefonaten, dass die Vereinbarung halte.

Nach dem Protokoll der Minsker Einigung unter Schirmherrschaft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit, das am Sonntag veröffentlicht wurde, soll die Waffenruhe durch die OSZE überwacht werden. Verwiesen wird auf die Fortsetzung eines nationalen Dialogs mit allen Seiten sowie auf die »Entfernung aller illegalen bewaffneten Gruppen, aller schweren Waffen, Freischärler und Söldner von ukrainischem Territorium«.

Den Regionen Donezk und Lugansk werden eine »autonome Übergangsregierung« und ein »Sonderstatus« zugesagt. Die ukrainisch-russische Grenze soll durch die OSZE »permanent überprüft« und dort eine Sicherheitszone eingerichtet werden. »Gefangene und illegal festgehaltene Menschen« sollen freigelassen werden, hinzu kommt eine Amnestie für Beteiligung »an bestimmten Ereignissen in den Regionen Donezk und Lugansk«. Neben der Verbesserung der humanitären Lage und vorgezogenen Kommunalwahlen ist ein Programm zur Wiederherstellung von Wirtschaft und Verwaltung vorgesehen.

Die Ukraine rüstet derweil auf. Sie erwarte moderne Waffen und Militärberater aus den USA, Frankreich, Italien Polen und Norwegen, berichtete die regierungsnahe Agentur UNIAN unter Berufung auf Juri Luzenko, Chef der Präsidentenpartei »Blok Poroschenko«. Eine entsprechende Verabredung sei auf dem NATO-Gipfel in Wales getroffen worden. Präsident Poroschenko meinte, die Lieferung hochpräziser Waffen solle nicht dazu dienen, im aktuellen Krieg zu siegen, sondern sich der westeuropäischen Sicherheitsstruktur anzupassen.

Russland reagierte besorgt. Der Außenpolitiker Alexej Puschkow forderte die NATO zur Klarstellung auf, wozu die Waffen geliefert und gegen wen sie eingesetzt werden sollen. Gegen den Protest Russlands beginnen die USA und die Ukraine an diesem Montag im Schwarzen Meer ein Manöver. Vor der Reaktion auf neue EU-Sanktionen warnte das Außenministerium. Die EU sende ein Signal der Unterstützung an die »Kriegstreiber« in Kiew.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International warf den Konfliktparteien im Osten der Ukraine Kriegsverbrechen vor. »Alle Konfliktparteien haben sich gleichgültig gegenüber dem Leben von Zivilisten gezeigt und ihre internationalen Verpflichtungen in unverhohlener Form vernachlässigt«, erklärte Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty.

* Aus: neues deutschland, Montag 8. September 2014


Brüchige Waffenruhe

Beide Seiten beschuldigen sich, im Donbass Übereinkommen zu brechen. Poroschenko-Berater kündigt Rückeroberung an, NATO startet Manöver

Von Reinhard Lauterbach **


Die am Freitag abend in Kraft getretene Waffenruhe für den Donbass wird offenbar nur teilweise eingehalten. Beide Konfliktparteien beschuldigten sich gegenseitig, die Vereinbarung zu brechen. Die Stadtverwaltung von Donezk berichtete über mehrfachen Artilleriebeschuß von Wohnvierteln, in Mariupol kam nach offiziellen Angaben eine Frau bei einem nächtlichen Angriff ums Leben. Der Verteidigungsminister der selbstausgerufenen Volksrepublik Donezk drohte, bei weiteren Verletzungen des Abkommens durch Kiew die Kämpfe in vollem Umfang wieder aufzunehmen. Für Mariupol kündigte die ukrainische Militärführung die Errichtung von Befestigungen im Umkreis von 15 bis 20 Kilometern um die Stadt an. Das ist ein indirektes Eingeständnis, daß die 470000 Einwohner zählende Kommune von den Aufständischen faktisch eingeschlossen ist.

Am Sonntag veröffentlichte die OSZE den Text des am Freitag von allen Konfliktparteien unterschriebenen Protokolls. Es ist in mehreren Punkten zweideutig und wird daher sicher zu Konflikten bei der Interpretation führen. So soll die Autonomie »bestimmter Teile der Gebiete Donezk und Lugansk« im Rahmen eines noch zu beschließenden ukrainischen Gesetzes über die »vorläufige Ordnung der lokalen Selbstverwaltung« geregelt werden – Option der Rückeroberung vorbehalten. Der von den Aufständischen verlangte Abzug der ukrainischen Truppen aus dem Donbass wurde nicht vereinbart, nicht einmal der Abzug der schweren Waffen außer Schußweite der Wohnviertel. Dagegen sollen alle »illegalen bewaffneten Formationen, Kämpfer und Söldner« zurückgezogen werden. Die Ukraine wird sich darauf berufen können, daß ihre Streitkräfte legal seien. Auch der Gefangenenaustausch wird auf »Geiseln und illegal Festgehaltene« beschränkt.

Während russische Politiker die Schußwechsel »marginalen Gruppierungen« auf beiden Seiten zuschrieben und dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko so einen Vertrauensvorschuß gewähren, beschwört dessen Umgebung schon die Revanche. Sein Berater Jurij Luzenko verglich die Situation im Donbass mit der Existenz der »Serbischen Republik Krajina« im Kroatien der 90er Jahre. Kroatien habe deren Existenz drei Jahre lang »erduldet« und dann dieses »Gebilde« »vom Erdboden getilgt«. Luzenko erwähnte nicht, daß es bei diesem Angriff zu Vertreibungen der Zivilbevölkerung und Kriegsverbrechen kam. Etliche russische Kommentatoren rechnen bereits mit einem »zweiten Krieg um den Donbass«.

Die NATO startete unmittelbar nach ihrem Gipfel in Wales umfangreiche Aktivitäten an den Grenzen Rußlands. Neben einem Heeresmanöver in Lettland mit etwa 2000 Beteiligten zählt dazu auch die Marineübung »Sea Breeze 2014«, die von diesem Montag an im Schwarzen Meer vor der ukrainischen Küste stattfindet. Beteiligt sind ukrainische, US-amerikanische, spanische und türkische Schiffe, deren Besatzungen unter anderem die Kontrolle des zivilen Seeverkehrs und die Durchsuchung von Schiffen üben sollen – typische Aufgaben bei einer Seeblockade.

Wie ein Berater von Poroschenko auf Facebook mitteilte, habe sein Chef in Newport von den USA, Polen, Italien und Frankreich Zusagen über die Lieferung von Präzisionswaffen erhalten. Wie die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion mitteilte, liefern deutsche Unternehmen »nichttödliche Ausrüstung« wie kugelsichere Westen an die Ukraine.

** Aus: junge Welt, Montag 8. September 2014

Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




Waffenruhe für alle

Klaus Joachim Herrmann über den Ukraine-Konflikt ***

Gewiss ist die Waffenruhe in der Ukraine höchst verletzlich. Feuerwechsel werden von hier und dort, von dieser und jener Seite berichtet. Doch die Brüchigkeit der Vereinbarung ist nicht zuerst Kämpfern jeder Seite geschuldet, die hier provozieren wollen oder dort die Nerven verlieren. Scheint die Waffenruhe gerade ihnen zugedacht zu sein, benötigt sie doch weit größere Ausdehnung. Erst dann ließe sie eine ernsthafte Wende zum Frieden erhoffen.

Die Präsidenten Russlands und der Ukraine sind Oberkommandierende und gewiss keine Tauben. Die Minsker Vereinbarung dürfte ihnen schwer gefallen sein. Zumindest lag ihr wohl die Erkenntnis zugrunde, dass der Konflikt nicht mit Waffengewalt und weiteren Tausenden Todesopfern entschieden werden kann. Nun soll es zu Verhandlungen aller und einem Sonderstatus für die Ostukraine kommen. Damit zu beginnen, hätte viel Tod und Leid verhindern können.

Doch aus Kiew keift der erklärte US-Boy und Premier Jazenjuk gegen den Friedensplan und schimpft die Verhandlungsgegner »Banditen und Terroristen«. NATO-Staaten schicken Waffen, rücken im Bündnis in Osteuropa vor. Die EU bietet Russland mehr Sanktionen. Antwort auf die erste ernsthafte Entspannung seit Monaten ist eine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland um jeden Preis.

Ein Augenblick der Hoffnung auf den Neuanfang hätte besseres verdient als die alten Muster: mindestens erst einmal eine Waffenruhe für alle.

*** Aus: neues deutschland, Montag 8. September 2014 (Kommentar)


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