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"Leninsturz" in Charkiw

Ukrainische Neofaschisten schleifen mit Hilfe des Gouverneurs Denkmal in der Millionenstadt. Nachlassende Unterstützung für Rechte

Von Reinhard Lauterbach *

In der ostukrainischen Millionenstadt Charkiw ist am Sonntag abend das überlebensgroße Lenindenkmal auf dem zentralen »Platz der Freiheit« gestürzt worden. Zuvor waren mehrere tausend ukrainische Rechte mit blau-gelben Staatsbannern, den schwarz-roten Fahnen der faschistischen Organisation Ukrainischer Nationalisten und dem Faschistenemblem der Wolfsangel auf einem Marsch »für die Ukraine« durch das Zentrum demonstriert. Anfänglich hatten sie nur die Parole »Ruhm der Ukraine« und eine Wolfsangel in den Granitsockel des Monuments gemeißelt. Wie ein mit den Demonstranten sympathisierender örtlicher Journalist auf seiner Facebook-Seite behauptete, soll die Zerstörung des Denkmals eine spontane Idee gewesen sein. Doch hatten die Akteure rasch Leitern und Stahlseile zur Hand, was Planung voraussetzt. Nach dem Sturz verstümmelten die Faschisten die Statue und verteilten Teile als »Souvenirs«. Eines der Ohren sollte als Trophäe an ein im Donbass kämpfendes Freiwilligenbataillon gesandt werden – ein makabrer Tribut an die Kampfesweise dieser Truppen gegenüber der Zivilbevölkerung.

Die Aktion geschah offensichtlich mit Billigung des regionalen Gouverneurs, des Oligarchen Igor Baluta, und des Innenministers Arsen Awakow. Baluta hatte den Platz um das Denkmal weiträumig von der Polizei absperren lassen, um Gegendemonstrationen von Kommunisten und anderen Gegnern des »Euromaidan« zu verhindern; die Beamten ließen jedoch einen LKW mit Seilwinde, der die angesägte Statue zu Fall brachte, durch die Absperrung. In Balutas Anordnung zur »Demontage des Denkmals für W. I. Lenin« hieß es ausdrücklich, Ziel der Polizeikette sei nicht der Schutz des Denkmals, sondern einzig der der Passanten vor der Gefahr, von herumfliegenden Splittern getroffen zu werden. Awakow schrieb auf seiner Facebook-Seite, Sondereinheiten der Polizei seien in Bereitschaft, um alle »bewaffneten Provokationen« durch Gegner der Faschisten zu unterbinden.

Daß die »Partei des Krieges« in der Kiewer Führung nicht einmal mehr ansatzweise bemüht ist, ihr Zusammenwirken mit den Faschisten zu verschleiern, ist möglicherweise ihrer nach Umfragedaten bröckelnden Unterstützung geschuldet. Ergebnisse mehrerer Institute aus der ersten Septemberhälfte sagen den radikal nationalistischen Parteien schwache Wahlergebnisse voraus. Einzig die »Radikale Partei« von Oleg Ljaschko hält sich noch oberhalb der Zehn-Prozent-Marke, alle anderen, ob Tjagniboks »Swoboda« oder Timoschenkos »Batkywschtschyna«, liegen mit abnehmender Tendenz im einstelligen Prozentbereich, der »Rechte Sektor« kann demnach nur ein bis zwei Prozent erwarten. Kumuliert werden die Ergebnisse der genannten Gruppierungen auf um die 30 Prozent prognostiziert. Auch die Option einer militärischen Rückeroberung des Donbass besitzt danach keine gesellschaftliche Mehrheit. In den Nationalistenhochburgen Kiew und Westukraine sprachen sich 38 bzw. 35 Prozent dafür aus, in den anderen Gebieten zwischen sechs im Donbass und 25 Prozent im Norden. Ein erheblicher Teil der Befragten ist offenbar bereit, den Krieg um den Donbass mehr oder minder zähneknirschend verloren zu geben. Für die Erklärung des Aufstandsgebiets zum »besetzten Territorium« ähnlich der Krim und die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit Rußland auf UNO-Ebene sprachen sich im Landesdurchschnitt etwa 20 Prozent der Befragten aus. In dieser Situation versuchen die Faschisten offensichtlich, noch rasch Fakten zu schaffen.

* Aus: junge Welt, Dienstag 30. September 2014


Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




Freies Feld

Sturz des Lenin-Denkmals in Charkiw

Von Arnold Schölzel **


Der Abriß des Charkiwer Lenin-Denkmals in der Nacht zu Montag durch Bandera-Faschisten, die in die Kameras des Fernsehens mit der Wolfsangel, dem Symbol von SS-Einheiten, wedelten, ist ein Zeichen: Diejenigen, die den Staat Ukraine zerstören, schaffen freies Schußfeld. Und freies Feld für Kommerz. Wie hieß es 1939 in Prag? Hinter jedem Tank ein Direktor der Deutschen Bank. Warum sollte sich das ändern, zumal wenn der Kapitalismus erneut in einer weltweiten Krise steckt und Faschisten nicht nur in der Ukraine wieder fürs politische Geschäft zugelassen sind?

Die ukrainischen Hammer- und Panzer-Faschisten haben es trotz relativ geringem Rückhalt in der Bevölkerung geschafft, der Kiewer Politik Rhetorik und Politik vorzuschreiben. Ihre Mission ist der Partisanenkampf an der russischen Grenze, die permanente Provokation, der Krieg niederer Intensität, der Moskau beschäftigen und aus der Reserve locken soll. Das sichert ihnen einen festen Platz in der westlichen Strategie Richtung Rußland und eine dominante Position in der Ukraine. Wer sich gegen sie wendet, wird im Stil der SA des deutschen Faschismus niedergemacht, wie am 2. Mai in Odessa, oder wahllos eingeschüchtert, gefoltert oder umgebracht wie von den »Freiwilligenbataillonen« in der Ostukraine. Straflosigkeit ist garantiert.

Seitdem die CIA direkt das Kommando im ukrainischen Geheimdienst übernommen hat, die militärischen »Berater« aus Washington und aus allen möglichen NATO-Staaten zu Hunderten, wenn nicht Tausenden im Land herumschwirren, ist der Rückhalt für die Mörderbanden auch nach außen hin global. Sie können sich auf die westliche »Wertegemeinschaft« verlassen. Das haben die ukrainischen Errichter Dutzender Bandera-Denkmäler, die seit Monaten konsequent sowjetische Monumente schleifen, die Blutsäufer von Odessa, Mariupol und Donezk mit Truppen wie dem »Islamischen Staat«, »Al-Nusra« und der »gemäßigten Opposition« in Syrien gemeinsam. Der Westen ist entschlossen, die Welt umzubauen, neu aufzuteilen – Konkurrenzkonflikte etwa zwischen USA und Deutsch-Europa eingeschlossen. Auf jeden Fall werden Hilfstruppen benötigt gegen jeden, der sich der Neuordnung entgegenstellt. Denn es geht, das sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow vor den Vereinten Nationen richtig, um eine »neue vertikale Struktur« der Staaten und Nationen (siehe Redeauszug unter »Abgeschrieben« auf dieser Seite). Man kann es auch globale Apartheid nennen, Zementierung der Ungleichheit, inklusive offenen Rassismus. Russen gehören da nach ganz unten. Darin sind sich deutsche Meinungsmacher, deutsche »Mehr-Verantwortungs«-Politiker und Washington mit den Charkiwer Denkmalstürzern einig. Der Sturz des Symbols einer durch eine klassische Revolution errungenen sozialen und individuellen Gleichheit steht für die unheilige Allianz, die sich zur Weltherrschaft rüstet.

** Aus: junge Welt, Dienstag 30. September 2014 (Kommentar)


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