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Stimme der Vernunft

Ukrainischer General für Verständigung mit Donbass. Präsidialamt in Kiew spricht sich für diplomatische Lösung aus. Hintergrund: Stagnation der Kämpfe

Von Reinhard Lauterbach *

Der ukrainische Beauftragte für den Austausch von Gefangenen im Bürgerkrieg, Generaloberst Wladimir Ruban, hat zu einem Verhandlungsfrieden aufgerufen. In einem langen Interview mit dem prowestlichen Internetportal Ukrainskaja Prawda sagte er, der Krieg werde im Interesse bestimmter Kreise in die Länge gezogen. Man solle aufhören, die Verteidiger der »Volksrepubliken« im Donbass als Untermenschen und Terroristen zu bezeichnen. Ihre Führer seien Offiziere wie er, auf deren Ehrenwort er sich in seinen Verhandlungen immer habe verlassen können. Die einfachen Anhänger des Aufstands bezeichnete Ruban als ukrainische Bürger, die ebenso wie die Bewohner im Westteil des Landes auf dem Maidan in Kiew gestanden hätten. Viele seien unzufrieden damit, daß sich die Veränderungen seit dem Februar auf die Entfernung von Wiktor Janukowitsch aus dem Präsidentenamt beschränkt hätten. Ruban bestritt gegenüber der erkennbar ungläubigen Interviewerin der Ukrainskaja Prawda, daß im Donbass auf seiten der Aufständischen Russen kämpften; es gebe allenfalls einige »Berater«, ebenso wie es solche aus der NATO auf seiten der Regierungsarmee gebe. Auf die entgeisterte Frage der Journalistin, ob nicht ein Terrorist sei, wer die Zivilbevölkerung bedrohe, erwiderte Ruban trocken: »Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, daß jede Armee dazu da ist, die Bevölkerung zu bedrohen? Offiziere, die die Militärakademie abgeschlossen haben, sind ausgebildete Mörder.«

Das Interview Rubans erschien einen Tag, nachdem der Chef der Kiewer Präsidentenadministration, Waleri Tschali, erstmals vom Ziel eines militärischen Sieges der Kiewer Seite abgerückt war. Er hatte am Dienstag abend erklärt, die Ukraine strebe eine diplomatische Lösung des Konflikts an, und verwies auf ein in der kommenden Woche geplantes Treffen zwischen der EU und den Staaten der von Rußland angeführten Eurasischen Zollunion in der belarussischen Hauptstadt Minsk. An dem Treffen will auch der ukrainische Präsident Petro Poroschenko teilnehmen, obwohl die Ukraine formal weder dem einen noch dem anderen Zusammenschluß angehört.

Tschali hatte weiter erklärt, die nächsten zwei Wochen seien dafür entscheidend, wie die Ukraine aus dem Krieg im Donbass herauskomme. Dabei ist jetzt schon absehbar, daß es zu der von Poroschenko angekündigten Siegesparade am ukrainischen Unabhängigkeitstag am kommenden Sonntag eher nicht kommen wird. Die Offensive der Regierungstruppen zur Umfassung von Donezk hat sich im Umland der Millionenstadt festgefressen. Seit mehreren Tagen liefern sich Kämpfer der Aufständischen und der Nationalgarde erbitterte Kämpfe um die Stadt Ilowajsk, 35 Kilometer östlich von Donezk. Beide Seiten erleiden offenbar erhebliche Verluste. Die Nationalgarde hielt es für nötig zu dementieren, daß sie ihre Kräfte aus dem Angriff herausgezogen hat. Kämpfern der Aufständischen gelang es nach eigenen Angaben, einen Teil der Autobahn von Donezk nach Osten zurückzuerobern. Die Regierungstruppen setzten unterdessen den Artilleriebeschuß von zivilen Zielen und Infrastruktureinrichtungen im Aufstandsgebiet fort. In der an Donezk angrenzenden Stadt Makijiwka wurden nach Angaben der Verwaltung seit Montag 15 Menschen getötet, darunter zehn Kinder, die in einem Kindergarten getroffen wurden.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 21. August 2014

Lesen Sie das vollständige Interview:

"Unverständlicher Krieg"
Dokumentation: Interview der Ukrainskaja Prawda mit Generaloberst Wladimir Ruban von den Ukrainischen Streitkräften über die Lage in der Ostukraine




Metropolit Onufri will Krim zurück

Neues Oberhaupt der ukrainischen Orthodoxen steht nur kirchlich ganz treu zu Moskau

Von Axel Eichholz, Moskau **


Das neue Oberhaupt der offiziellen Ukrainischen Orthodoxen Kirche steht kirchlich treu zu Moskau. Doch im Streit mit Russland tritt der neue Metropolit Onufri für die Rückgabe der Krim an die Ukraine ein.

Der Kiewer Metropolit Onufri tritt für die Rückgabe der Krim an die Ukraine ein. Onufri ist das neu gewählte Oberhaupt der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats. »Als ukrainische Bürger denken wir über die Situation mit der Krim genauso wie unsere Regierung und die ganze Weltgemeinschaft: Die Krim ist Territorium der Ukraine und sie muss in den Bestand des ukrainischen Staates zurückgeführt werden«, erklärte der Sprecher der ukrainischen Kirche, Erzbischof Georgi Kowalenko, vor Journalisten in der ukrainischen Hauptstadt.

In der ukrainischen Kirche des Moskauer Patriarchats freue man sich auch darüber, dass ukrainische Bistümer auf der Krim weiterhin dem Kiewer Metropoliten unterstellt bleiben. Die Haltung der Ukrainischen Orthodoxen Kirche werde vom Moskauer Patriarchat unterstützt, wo man davon ausgehe, dass Staatsgrenzen nicht immer mit den kirchlichen Grenzen identisch sein müssen, sagte Georgi weiter. Deshalb gebe es keinen innerkirchlichen Konflikt wegen der Krim. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche treffe Entscheidungen selbstständig und unabhängig von Moskau, hieß es. Zum Moskauer Patriarchat bestehe nur ein rein kanonisches Verhältnis, so der Sprecher.

Nach dem Ableben seines Vorgängers, dem Metropoliten von Kiew Wladimir, war Onufri unter drei Anwärtern für das höchste Amt gewählt worden. Bei der Inthronisierung am Sonntag in Kiew wurde ein Schreiben des Patriarchen von Moskau und ganz Russland Kyrill verlesen, in dem Onufris Amtsübernahme gesegnet wird. Zu der feierlichen Zeremonie kam der Leiter der Auslandsverbindungsstelle des Moskauer Patriarchats, Metropolit Ilarion.

Onufri, mit weltlichem Namen Orest Beresowski, wurde 1944 als Sohn eines Dorfpriesters in der Bukowina (Karpatengebiet) geboren. Er studierte an der Geistlichen Akademie in Moskau und trat dort in den Mönchsstand ein. Seit 1990 leitete er die Bistümer von Tschernowitz und Bukowina. Als Metropolit Wladimir vor einem halben Jahr unheilbar erkrankte, wurde Onufri Platzverweser des Kiewer Metropolitenamts.

Doch Onufri steht nur der »offiziellen« Kirche vor, die treu zu Moskau steht. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats dagegen lehnt die kanonische Unterstellung unter Moskau ab. Deren Patriarch Filaret äußerte sich über Onufris Wahl denn auch skeptisch. »Das erzbischöfliche Konzil der Ukrainischen Kirche des Moskauer Patriarchats hat einen Nichtpatrioten gewählt«, erklärte er. Onufri lehne die Autokephalie – die volle Eigenständigkeit – der Ukrainischen Orthodoxen Kirche ab, er sei gegen die Integration nach Europa und verurteile die russische Aggression nicht.

Filaret hatte sich 1991 zum Patriarchen von Kiew und der ganzen Ukraine erklärt. Er wurde daraufhin vom Moskauer Patriarchat seines Amts enthoben, mit Kirchenbann belegt und aus der Kirche ausgestoßen. Seine Spalterkirche wurde weltweit von keiner orthodoxen Landeskirche anerkannt. Seitdem existieren in der Ukraine zwei christlich-orthodoxe Kirchen nebeneinander. Bei seiner Inthronisierung erklärte Onufri, er wolle trotz Differenzen im Dialog mit der anderen ukrainischen Kirche bleiben.

Eine Reaktion des Moskauer Patriarchats auf Onufris Äußerungen zur Krim blieb bisher aus. Patriarch Kyrill gilt als treuer Gefolgsmann des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Zwar hatte er sich wiederholt über die Unteilbarkeit des traditionellen »kanonischen« Gebiets der russisch-orthodoxen Kirche geäußert, doch richteten sich diese Äußerungen vor allem gegen den Spaltpilz in Kiew und die Angriffe der Unierten auf orthodoxe Gemeinden im Westen der Ukraine.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag 21. August 2014

34 Zivilisten bei Kämpfen in Donezk getötet

Hilfskonvoi wartet weiter

Bei Gefechten im Osten der Ukraine sind in der Region Donezk binnen 24 Stunden 34 Zivilisten getötet worden, informierte die örtliche Verwaltung. Die ukrainische Armeeführung erklärte, sie wolle den Rebellen den Zugang zur russischen Grenze abschneiden, um deren Nachschubwege zu kappen. Im gesamten Kampfgebiet seien binnen 24 Stunden neun Regierungssoldaten getötet und 22 weitere verletzt worden. Die Stadt Donezk stand laut Stadtrat unter ständigem Artilleriebeschuss.

Der russischer Konvoi mit Hilfsgütern für die Bewohner des hart umkämpften Lugansk steckt unter Hinweis auf »Sicherheitsfragen« weiterhin an der russisch-ukrainischen Grenze fest. Die Großstadt ist weiterhin in einer kritischen Lage und den 18. Tag in Folge ohne Strom und Wasser.

In den entscheidenden Fragen, so erklärte ein Sprecher des Bundesaußenministeriums, habe sich nichts bewegt. Er verwies auf die am Dienstag in Berlin von den Außenministern Deutschlands, Frankreichs, der Ukraine und Russlands behandelten Themen Waffenruhe, effektiver Grenzschutz, humanitäre Hilfe und Einleitung eines politischen Prozesses zur besseren Einbindung der Bürger im Osten der Ukraine.

In der russischen Hauptstadt wurden am gleichen Tage zwei Frauen und zwei Männer verhaftet. Sie hatten auf der Spitze eines der sieben historischen Hochhäuser im Zentrum Moskaus die ukrainische Fahne gehisst. Der Sowjetstern auf dem Dach des Gebäudes wurde in den Nationalfarben angestrichen.

(nd, 21.08.2014)



Friedensofferte

Versuchsballon aus Kiew

Von Reinhard Lauterbach ***


Der ukrainische Generaloberst Wladimir Ruban hat sich für eine Verhandlungslösung im Konflikt mit dem Donbass ausgesprochen. Es ist zweitrangig, ob der Militär mit allen seinen Äußerungen in der Sache recht hat. So kann man seine These, daß auch die Kämpfer des Donbass auf dem Maidan gestanden hätten, mit guten Gründen bezweifeln. Ähnliches gilt für die Aussage über die Abwesenheit russischer Kämpfer, wenn selbst auf Webseiten der Aufständischen zur Meldung von Freiwilligen über Telefonnummern mit Moskauer Vorwahl aufgerufen wird. Schließlich fällt auf, daß der General für das Foto zum Interview Zivil trug. Das Gespräch mit der prowestlichen und in den vergangenen Monaten sehr nationalistischen Ukrainskaja Prawda ist so möglicherweise der Versuchsballon einer Fraktion im Kiewer Machtgeflecht, um die Reaktion des eigenen Publikums für den Fall eines Kompromißfriedens zu testen.

Sollte diese Vermutung zutreffen, sind die Chancen gering, daß ein solcher Frieden kurzfristig in der Leserschaft der Ukrainskaja Prawda Akzeptanz finden könnte. Monate der Hetze gegen »Putler« und das »russische Vieh« sind nicht folgenlos geblieben. Der überwiegende Teil der Leserkommentare wirft Ruban in Abstufungen vor, ein russischer Agent oder ein Geschäftemacher mit fremdem Unglück zu sein. Freilich: die Reaktion sähe vermutlich anders aus, wenn man nicht nur das »proeuropäische« Intelligenzlerpublikum des Webportals befragte, sondern die Gesamtbevölkerung der Ukraine. Seit Wochen protestieren vor allem in der Provinz Eltern und Ehefrauen ukrainischer Soldaten und fordern, ihre Angehörigen aus dem Kampfgebiet zurückzuholen. Die hohen Verluste der Regierungstruppen lassen sich auf Dauer nicht verheimlichen. Selbst das westlich finanzierte Internetfernsehen hromadske.tv zeigt Videos von Soldaten, die ihre Transportzüge per Notbremse anhalten und von ihren Offizieren lautstark Fahrkarten nach Hause verlangen. Das ist noch keine Revolution, aber doch ein Faktor, mit dem die Hurrapatrioten langsam rechnen müssen. Schon hat das Kiewer Verteidigungsministerium eine »Verfriedlichung« der Bevölkerung moniert und kritisiert, daß kaum noch ein männlicher Bewohner des Landes eine Kalaschnikow auseinandernehmen und wieder zusammensetzen könne. Verbindliche vormilitärische Schulungen für alle erwachsenen Bürger sollen diesem Übel vom Herbst an abhelfen.

Der linke russische Autor Boris Kagarlitzky hat dieser Tage in seinem Blog geschrieben, die Regierungstruppen müßten gewinnen, den Aufständischen reiche es dagegen, nicht verloren zu haben. Vielleicht kommt das manchen Politikern in Kiew langsam zu Bewußtsein. Die immer kritischere Wirtschaftslage mag dieser Einsicht nachhelfen. Doch wer als erster zum Frieden aufruft, geht ein hohes Risiko ein. Ukrainische Dolchstoßlegenden werden nicht auf sich warten lassen. Hat jemand in Kiew den Mut, den Frieden zu versuchen?

*** Aus: junge Welt, Donnerstag 21. August 2014 (Kommentar)

Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




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