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Marsch nach Westen

Ukraine und EU ratifizieren Assoziierungsabkommen. "Vereinigte Europäische Linke" kritisiert "wirtschaftliche Schocktherapie". Freihandelsabkommen tritt 2016 in Kraft

Von Reinhard Lauterbach *

Die Parlamente der Ukraine und der EU haben am Dienstag das Assoziierungsabkommen zwischen Kiew und Brüssel ratifiziert. Im EU-Parlament in Strasbourg stimmten 535 Abgeordnete für den Text, 127 waren dagegen, und 35 enthielten sich. Im ukrainischen Parlament stimmten alle 355 anwesenden Abgeordneten für die Ratifizierung, 26 hatten den Plenarsaal zuvor verlassen. Das Abkommen tritt sofort in Kraft, der Handelsteil jedoch erst 2016.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz erklärte den gestrigen Tag zu einem historischen Datum. Die EU werde immer die territoriale Integrität der Ukraine verteidigen, interpretierte er das Abkommen extensiv. Im per Video-Liveschaltung mit Strasbourg verbundenen ukrainischen Parlament sagte Präsident Petro Poroschenko, die Ratifizierung besiegle die Entscheidung der Ukrainer gegen die Option Rußland und für die Integration mit Westeuropa. Gleich anschließend beschloß das Kiewer Parlament eine einseitige Erklärung, in der ein moralisches Recht der Ukraine auf Mitgliedschaft in der EU behauptet wird. Sie habe seit dem Zweiten Weltkrieg den höchsten Preis aller Nationen für ihr Recht bezahlt, zu Europa zu gehören, sagte Poroschenko. Welche Nation sich ein entsprechendes Recht während des Zweiten Weltkrieges erkämpft haben soll, führte der Amateurhistoriker nicht aus.

Die Fraktion der »Vereinigten Europäischen Linken« stimmte in Strasbourg gegen das Assoziierungsabkommen. Ihre Kritik ging in zwei Richtungen: Einerseits wurde gefordert, die mit der Assoziierung verbundene »wirtschaftliche Schocktherapie« nicht nur zu verschieben, sondern ganz auf sie zu verzichten; andererseits wurde die kurze Vorbereitungszeit für die Abgeordneten kritisiert. Kritik an der Verschiebung des wirtschaftlichen Teils des Abkommens äußerte aus anderen Gründen auch der polnische Christdemokrat Jacek Saryusz-Wolski, im EU-Parlament als »Berichterstatter« für das Abkommen zuständig. Er nannte dies ein Einknicken gegenüber Moskau, das vom Kreml nur als Zeichen der Schwäche der EU verstanden werden könne. Der noch amtierende EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle hielt solchen Vorwürfen entgegen, daß es ohne diese Verschiebung nicht gelungen wäre, die Ratifizierung überhaupt auf die Tagesordnung zu bringen – ein Hinweis auf offenbar deutliche interne Kritik im EU-Parlament. EU-Handelskommissar Karel de Gucht erklärte, Brüssel behalte sich vor, das Inkrafttreten des Wirtschaftsteils wieder vorzuziehen, falls Rußland seinen Verpflichtungen nicht nachkomme. Welche Verpflichtungen das sein sollen – Rußland ist nicht Partei des Abkommens, und die EU hatte Moskau Konsultationen sogar ausdrücklich verweigert –, erläuterte der Belgier nicht näher.

Das Assoziierungsabkommen sieht eine umfassende Angleichung der ukrainischen Gesetzgebung an die der EU vor. Der Handelsteil, dessen Inkrafttreten verschoben wurde, ist de facto ein Freihandelsabkommen; die EU hatte sich zur Verschiebung entschlossen, nachdem Rußland über 2000 Änderungsforderungen geltend gemacht hatte und offenbar auch die Ukraine um Zeit gebeten hatte, mit Moskau über Übergangsregelungen zu verhandeln. Aus Ausführungen der stellvertretenden Kiewer Wirtschaftsministerin geht hervor, daß die Ukraine andernfalls kurzfristig aus der Freihandelszone innerhalb der GUS ausgeschlossen worden wäre und dort ihre industriellen Absatzmärkte verloren hätte. Nun hat Kiew ein Jahr Galgenfrist.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 17. September 2014


Deutsche Soldaten für OSZE in die Ostukraine

Auf drei Jahre befristeter Sonderstatus für den Donbass

Von René Heilig und Klaus Herrmann **


Aus einer brüchigen Waffenruhe soll die Ukraine möglichst bald zum Frieden wechseln. Die OSZE will dabei helfen – und die Bundeswehr.

»Wir lassen uns nicht erpressen, wir haben durchgehalten«, freute sich der ukrainische Präsident Petro Poroschenko über die Verabschiedung des Partnerschaftsabkommens mit der EU. »Wer wird uns jetzt unsere Beitrittsperspektive streitig machen?«, fragte er. Abgeordnete des Europaparlamentes in Straßburg nutzten die Gelegenheit jedoch erst einmal zu scharfer Russlandschelte. Moskau müsse endlich zeigen, dass es zu seinen Verpflichtungen stehe, sagte EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle. Dazu gehöre die Achtung des Völkerrechts und der territorialen Souveränität seiner Nachbarn. Russland habe seine Zusagen nicht eingehalten, kritisierte Elmar Brok (CDU). Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion, Gianni Pitella, warnte vor einem neuen Kalten Krieg. Gewalt und Sanktionen seien an die Stelle des Dialogs getreten, kritisierte der Italiener.

Noch am gleichen Tag sollten sich deutsche Soldaten in die Ostukraine begeben, um dort zu erkunden, ob die Bundeswehr gemeinsam mit Frankreich die OSZE bei der Überwachung des Waffenstillstand unterstützen könne. Auf Wunsch der Organisation sollte ein 14-köpfiges deutsches Team zur Vorbereitung entsandt werden. Die Bundeswehrsoldaten werden beim Einsatz Uniform tragen, sind aber unbewaffnet. Der mögliche Stationierungsort ist Lugansk.

Die Soldaten wollen bis Freitag unter anderem prüfen, ob das Drohnensystem »Luna« für die Aufklärung eingesetzt werden kann. Auch von der Bereitstellung von Satelliten war die Rede im Verteidigungsministerium. Die Kooperation mit Frankreich deutet darauf hin, dass man die SAR-Lupe-Radarsatelliten der Bundeswehr und die französischen optischen »Helios«-Satelliten nutzen will. Beide Systeme arbeiten generell im Auswertungsverbund. Ein solcher Einsatz wäre auch ein eindeutiges Indiz dafür, dass beide Länder seit Beginn des Ukraine-Konfliktes über eigene kosmische Aufklärungsergebnisse verfügen. Gegenüber »nd« hatte die Bundeswehr Nachfragen mehrfach mit Hinweis auf die Geheimhaltung unbeantwortet gelassen.

Der Obmann der Linksfraktion im Verteidigungsausschuss, Alexander Neu, merkt gegenüber »nd« an, Deutschland und Frankreich seien keine neutralen Akteure, sondern ebenfalls Konfliktparteien. Russland und die Aufständischen würden die Beteiligung der Bundeswehr vermutlich nicht als eine Unterstützung für die OSZE werten, sondern als militärische Präsenz zur Unterstützung Kiews. Zumal es keine Konsultation mit den Aufständischen gegeben habe. Man leitet deren Zustimmung allein aus dem Minsker Waffenstillstandsabkommen ab. Russland sei nur über seine Mitgliedschaft in der OSZE informiert worden, so Neu. Er wies darauf hin, dass die Weitergabe der Aufklärungsdaten ungeklärt sei.

Das in Kiew verabschiedete Gesetz über den Sonderstatus der Konfliktregion sowie eine Amnestie für die Separatisten gehört zu dem von Moskau und Kiew vereinbarten Friedensplan. Die Rechte der Regionen Donezk und Lugansk sollen gestärkt werden. Das Gesetz gilt für drei Jahre. Es verbrieft auch das Recht auf die eigene Sprache für die russischsprachige Bevölkerung. Den Regionen werden eigene Wahlen und die Gründung einer Volksmiliz zugestanden. Im Gegenzug sollen die Aufständischen auf ihre Forderung nach Unabhängigkeit verzichten.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch 17. September 2014

Aus der Luft gegen Rußland

Deutschland prüft Entsendung von Aufklärungsdrohnen in die Ukraine Deutschland prüft die Entsendung von Drohnen in die Ostukraine. Am Dienstag brach ein Erkundungsteam der Bundeswehr mit 14 Soldaten nach Kiew auf, um die Bedingungen für eine entsprechende Beteiligung an der geplanten Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu klären.

Die OSZE denkt bereits seit Juli über den Einsatz von Drohnen in der Ukraine nach. Am Sonntag gab der ukrainische Petro Poroschenko seine Erlaubnis. Das Vorauskommando der Bundeswehr soll klären, wie viele Soldaten für den Einsatz der Drohnen vom Typ »Luna« entsendet werden müßten und welche Schutzmaßnahmen notwendig wären. Das unbemannte Flugzeug »Luna« ist 2,36 Meter lang und 40 Kilogramm schwer. Es kann Videos, Infrarotfilme und Standbilder in Echtzeit an eine Bodenstation liefern.

Die Bundeswehr hat derzeit mehr als 80 solcher Drohnen. An der Erkundungsmission nehmen auch französische Soldaten teil. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der französische Präsident François Hollande hatten sich auf dem NATO-Gipfel in Wales Anfang September auf eine Beteiligung an der OSZE-Überwachungsmission verständigt.

Die Bundeswehrmission soll nach Angaben des Verteidigungsministeriums drei bis fünf Tage dauern. Zunächst sind Gespräche mit OSZE-Vertretern in Kiew geplant. Anschließend geht es weiter in die Ostukraine. Österreich hatte bereits am Montag die Entsendung von zehn Drohnen zur Überwachung der Waffenruhe in der Ostukraine angekündigt.

Alexander S. Neu, Obmann der Linkspartei im Verteidigungsausschuß des Bundestages, kritisierte die Pläne am Dienstag: »Deutschland verstrickt sich immer tiefer in den Ukraine-Konflikt. Eine Unterstützung der dortigen OSZE-Mission durch Soldaten darf nicht ohne ausdrückliche Zustimmung aller Konfliktparteien erfolgen«, teilte Neu mit.

*** Aus: junge Welt, Mittwoch 17. September 2014



Rückkehr zum Albtraum

Klaus Joachim Herrmann über die EU und die Ukraine ****

Die Zustimmung zur EU-Partnerschaft der Ukraine war den Parlamenten in Brüssel und Kiew Symbolik wert. Mittags wurde synchron abgestimmt, dies per Video in einer direkten Schaltung über rund 1600 Kilometer gegenseitig überwacht. Eine historische Entscheidung sei gefallen, lautete die Botschaft. Das heißt, sie soll gut sein. Was sie nicht ist.

Denn wenigstens der Erwähnung wert bleiben sollte der Preis solchen Triumphes. Über den erbitterten Streit um die Wahl zwischen West und Ost wurde nicht nur ein Präsident aus dem Amt gejagt. Auf dem Kiewer Euromaidan wurde nach dem Entweder-oder-Prinzip die Entscheidung blutig ausgetragen. Das wurde von westlichen Politikern kräftig befeuert und zerriss das Land bis zum Bürgerkrieg. Der kostete bisher mehr als 3000 Menschenleben. Die Ukraine liegt wirtschaftlich im Ganzen und im Osten zum Teil buchstäblich in Trümmern. Wie auch die Beziehung zum slawischen Bruder und Nachbarn im Osten.

EU-Granden gebührt der zweifelhafte Ruhm, die Einbeziehung Russlands arrogant und allzu lange für überflüssig erklärt zu haben. Die NATO fasste unter US-Kommando demonstrativ Tritt Richtung Russland. Der Kreml brachte geostrategische Interessen gegen allzu viele Regeln auf ganz eigene Weise ein. Mit all dem ist der Traum von einer blühenden Ukraine als Brücke zwischen West und Ost für lange Zeit ausgeträumt. Der Albtraum von einer Mauer durch Europa kehrt zurück.

**** Aus: neues deutschland, Mittwoch 17. September 2014 (Kommentar)


Auf dem Sozius

Die Ukraine und EU-Assoziierung

Von Rainer Lauterbach *****


An Beschwörungen über den historischen Charakter dieses Tages fehlte es weder in Strasbourg noch in Kiew. Die parallele Ratifizierung in den per Videoschaltung verbundenen Parlamenten der Europäischen Union und der Ukraine erzeugte den Anschein eines Synchronspringens. Tatsächlich aber ist die Lage für beide Seiten deutlich unterschiedlich.

Denn die Assoziierung, in deren Glanz sich die Poroschenko-Administration nun sonnt, ist eben nicht eine kleinere oder teilweise Mitgliedschaft in der EU; da kann die Werchowna Rada noch so sehr einseitige Erklärungen verabschieden, in denen sie weinerlich ein »Recht auf EU-Mitgliedschaft« beansprucht. Das Assoziierungsabkommen verpflichtet die EU nämlich zu wenig außer zur Zulassung zollfreier Importe aus der Ukraine, deren Waren nun auf dem europäischen Binnenmarkt mit denen deutlich produktiverer Ökonomien konkurrieren dürfen – dreimal darf man raten, worüber: Billiglöhne und/oder niedrige Umweltstandards, also genau dem, womit die ukrainischen Oligarchen auch schon bisher ihren Reibach im Handel mit der EU gemacht haben. Daß die Ukraine noch ein Jahr lang Zölle auf Einfuhren aus der EU erheben darf, fällt angesichts des desolaten Zustands der ukrainischen Volkswirtschaft, in der kurzfristig sowieso kein Geld für irgendwelche Investitionen vorhanden ist, nicht wirklich ins Gewicht.

Im Gegenzug verpflichtet sich die Ukraine zu nicht weniger als der Umwälzung ihrer Rechtsordnung. Sie muß – ohne Stimmrecht und Möglichkeiten der Einflußnahme auf die Entscheidungsprozesse in Brüssel – den sogenannten »acquis communautaire« übernehmen, also jene 80 Prozent der Gesetze und Verordnungen, die in den Mitgliedsstaaten auch auf Brüsseler Beschlüsse zurückgehen. Man muß deswegen nicht in Klagen über den Verfall der nationalen Souveränität verfallen, aber klar ist: den ukrainischen Parlamentariern steht das große Abnicken bevor. Dasselbe gilt auch für einen weiteren Aspekt der Assoziierung, der öffentlich nicht so gern an die große Glocke gehängt wird: die Verpflichtung der Soziusfahrer, ihre Außen- und Sicherheitspolitik an den Vorgaben Brüssels zu orientieren und für etwa anstehende EU-Missionen von Zentralafrika bis Neuguinea Soldaten bereitzustellen.

Es bleibt die Feststellung Poroschenkos, mit der Ratifizierung des Assoziierungsabkommens habe die Ukraine ihre geopolitische Wahl getroffen: die über 20 Jahre lang durchgehaltene Schaukelpolitik zwischen Rußland und dem Westen soll ein Ende haben. Brüssel hat in der »Integrationskonkurrenz« mit Moskau den Punkt wieder gutgemacht, den Expräsident Wiktor Janukowitsch im November verweigert hatte. Künftig werden die ukrainisch-russischen Beziehungen vom Willen Brüssels abhängen. Womöglich ist das sogar das kleinere Übel, als wenn die mit Rückendeckung aus Brüssel und Washington an die Macht gekommenen ukrainischen Nationalisten tatsächlich noch souverän wären.

***** Aus: junge Welt, Mittwoch 17. September 2014 (Kommentar)

Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




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